„Wir können nicht zulassen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken“

Lesedauer: 8 Minuten
Teaser Bild Untertitel
Katrin Göring-Eckhart (Archivbild)

Am Rande ihres Besuches in den USA hat das Büro Washington die grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt zu Einwanderungspolitiken in Deutschland und den USA befragt.

Du bist jetzt bereits seit ein paar Tagen in den USA, ein Land, das sich stolz als Einwanderungsland bezeichnet. Welche Eindrücke hast du in dieser Hinsicht bisher von deiner Reise mitgenommen? Können die Vereinigten Staaten in Sachen Integration ein Vorbild für Deutschland sein?

Ja, in jedem Fall ein Vorbild, weil die Vereinigten Staaten sich schon ganz lange als Einwanderungsland verstehen. Weil sie stolz darauf sind. Weil sie sagen: das macht uns als Land aus. Weil Integration eine große Rolle spielt. Aber natürlich kann man in den USA auch studieren, welche Schwierigkeiten es gibt. Natürlich ist auch hier nicht alles gut. Ein Zeichen dafür ist, dass Obama am Ende seiner Amtszeit so viel Wert auf Einwanderung legt und sich gegen den Kongress stellt in der Frage eines Einwanderungsgesetzes. Davon zeugen auch die vielen Menschen, die hier seit Jahren leben, aber nach wie vor nicht registriert sind, obwohl sie womöglich sogar arbeiten. Oder die vielen unbegleiteten Kinder und Jugendliche, die über die mexikanische Grenze in die USA gelangen. Aber wir können lernen, dass man sich zum Einwanderungsland bekennen muss. Erst dann kann Integration erfolgreich sein und erst dann kann man auch als Land erfolgreich sein. Was man hier lernen kann ist, dass Vielfalt etwas Großartiges ist.

Deutschland ist laut OECD seit kurzem nach den USA weltweit das zweitbeliebteste Einwanderungsland. Dennoch fühlen sich viele Menschen in Deutschland keineswegs willkommen. Was muss sich in der deutschen Gesellschaft ändern, um eine wirkliche „Willkommenskultur“ zu etablieren?

Ich fange mal mit der Politik an. Wir brauchen unbedingt ein Einwanderungsgesetz. Momentan muss man in Deutschland 28 Seiten und dutzende Anmerkungen studieren um zu verstehen, wie man legal ins Land kommen könnte. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das einfach ist und das verschiedene Möglichkeiten eröffnet, nach Deutschland zu kommen. Sowohl für Flüchtlinge als auch für Fachkräfte, und damit meine ich jetzt nicht nur die berühmten Ingenieure. Wir brauchen Fachkräfte in der Pflege, wir brauchen Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Wir haben das Asylrecht in Deutschland, das wir nicht in Frage stellen dürfen. Aber wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass viele Asylsuchende vermutlich lange bei uns bleiben werden. Diese Flüchtlinge können auch zu Einwanderern werden.

Im Moment haben wir in Deutschland eine Stimmung in der Bevölkerung, die ein ganz großes Willkommensschild vor sich her trägt. Dieses Willkommen sollten wir ernst nehmen und auch ernst meinen. Nicht PEGIDA ist die Mehrheit und nicht die Leute, die ein Flüchtlingsheim in Tröglitz anzünden sind die Mehrheit. Sondern die Mehrheit sind Leute, die sagen: wir wollen, dass hier Flüchtlinge aufgenommen werden. Diese Stimmung müssen wir nutzen, um politisch daraus etwas zu machen. Wir reden momentan neu über nationale Identität: Was macht uns eigentlich aus? Es geht nicht mehr darum, woher wir kommen, sondern es geht jetzt darum, wohin wir eigentlich wollen. Und zwar gemeinsam. Das wird die Diskussion der nächsten Jahre sein.

Die Debatte um PEGIDA hat in den letzten Monaten ein schlechtes Licht auf Deutschland geworfen. Gleichzeitig hat sich der überwiegende Teil der deutschen Gesellschaft klar gegen die ausländerfeindlichen Parolen gestellt und Stellung für ein weltoffenes Deutschland bezogen. Hatte PEGIDA also in dieser Hinsicht auch positive Auswirkungen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich finde daran nichts positiv. Ich stimme ehrlich gesagt auch nicht mit denen überein, die sagen: man muss doch mit denen reden. Ich finde, denen muss man klar sagen, dass man anderer Meinung ist. Und wenn es Leute gibt, die ausländerfeindlich sind und das auf die Straße tragen, dann muss es andere geben, die sagen: das sehen wir anders, das finden wir falsch. Und wer Nazi ist, den nennen wir auch Nazi. Und wer „Ausländer raus“ schreit, dem sagen wir: nein, wir öffnen die Tür für Ausländer und Flüchtlinge. Weil es gut für uns ist, weil wir das wollen, weil wir es richtig finden, dass Flüchtlinge hierher kommen können. Es ist gut, dass die deutsche Gesellschaft sich dazu bekennt, aber PEGIDA hätten wir dazu nicht gebraucht. Ehrlich gesagt, wir hätten gut darauf verzichten können.  

Seit letztem Jahr gelten die Balkanländer Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina in Deutschland als sichere Herkunftsländer. Diese Entscheidung hat auch innerhalb der Grünen Partei für heftige Auseinandersetzungen gesorgt. Wie hast du diese Debatte erlebt und welche Lehren kann die Partei aus dieser Erfahrung ziehen?

Erst einmal kann man politisch die Lehre ziehen, dass die Leute nicht kürzer bleiben dürfen dadurch, dass diese Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt worden sind. Das Gesetz ist ein Kompromiss gewesen, bei dem sich für Flüchtlinge sehr viel verbessert hat, insbesondere die Möglichkeit zu arbeiten. Es soll sich noch mehr verbessern, es ist nämlich auch verabredet worden, dass die Flüchtlinge eine Gesundheitskarte bekommen. Einen leichteren Zugang zu medizinischer Versorgung halte ich für absolut notwendig. In der Abwägung haben unsere Bundesländer gesagt: dann machen wir das so. Trotzdem muss es natürlich bei der Einzelfallprüfung und beim Recht auf Asyl bleiben. Das findet auch nach wie vor statt. Aber die Erwartungen, dass durch die Erklärung der Länder zu sicheren Herkunftsstaaten mehr Kapazitäten geschaffen werden, haben sich bisher nicht erfüllt. Das muss man wissen, wenn man darüber diskutiert. Was wir Grüne für uns lernen können, ist, dass es keinen Sinn macht sich gegenseitig zu unterstellen „die wollen wahrscheinlich nicht das Beste für die Flüchtlinge“. Das würde ich niemandem bei uns unterstellen. Sondern es ging letztlich allen darum, eine Lösung zu finden, die sowohl pragmatisch ist, aber vor allen Dingen auch die Situation der Flüchtlinge verbessert.

Ein anderes Thema, das in Europa und den USA mit Sorge beobachtet wird, sind die humanitären Folgen der Kriege im Nahen und Mittleren Osten. Dem UNHCR zufolge sind derzeit weltweit so viel Menschen auf der Flucht, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Was muss Deutschland, und Europa allgemein, tun um die Folgen dieser Katastrophe zu bekämpfen?

Es gibt hier kurz- und langfristige Aspekte. Zunächst gilt es natürlich, die Fluchtgründe zu bekämpfen. Es ist völlig klar, dass man probieren muss mit Entwicklungszusammenarbeit, mit Befriedung in bestimmten Regionen,  mit zivilem Engagement erst einmal so weit wie möglich dafür zu sorgen, dass niemand fliehen muss. Aber es bleibt natürlich dabei, dass es dennoch sehr, sehr viele sind, die zur Flucht getrieben werden. Kurzfristig muss man deshalb zwei Dinge tun: Erstens müssen wir dafür sorgen, dass die Flüchtlinge dort, wo sie jetzt sind, einigermaßen gut leben können und dass sie einigermaßen ordentlich untergebracht sind. Dass der UNHCR mitunter von einem Tag auf den anderen nicht weiß, ob sie für dieses Flüchtlingslager für den nächsten oder übernächsten Tag eigentlich noch genügend Geld haben, um Essen auszugeben, ist eine wirkliche Katastrophe. Das ist verantwortungslos und muss sich ändern.

Zweitens müssen wir uns auch darauf einstellen, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Das können wir auch. Gerade wir in Deutschland können das, wir in Europa können das. Man kann nicht mehr zulassen, dass Leute im Mittelmeer ertrinken. Das muss sich ganz schnell ändern. Es sind wieder hunderte Menschen ertrunken in dieser Woche. Dass wir bei uns mehr Menschen aufnehmen müssen, das hat letzte Woche sogar Volker Kauder gesagt. Ich bin gespannt ob er zu seinem Wort auch tatsächlich steht und ob das für die Bundesregierung heißt, dass dafür bestimmte Kosten übernommen werden müssen, anstatt alles den Kommunen zu überlassen. Viele von denen sind ja nach wie vor in einer Haushaltsnotlage. Wir können nicht zulassen, dass die Flüchtlingsfinanzierung und die Unterkunftsfinanzierung gewährleistet werden muss und gleichzeitig andere öffentliche Ausgaben zur Disposition stehen. Das würde ganz schnell bedeuten, dass die Stimmung kippt.

In den letzten Jahren scheint sich in Europa vielerorts sowohl der Antisemitismus als auch eine latente Islamfeindlichkeit auszubreiten. Auch in den USA ist Islamfeindlichkeit ein gesellschaftliches Thema. Wie kann man deiner Meinung nach gegen diese Entwicklung ankämpfen und welche Akteure siehst du dabei besonders in der Pflicht?

Klar - das ist wie bei PEGIDA - man muss eine klare Haltung haben. Man muss immer argumentieren- bei Demos und Gegendemos, im Bundestag, im Landtag, im Kommunalparlament, am Stammtisch, am Küchentisch. Das wird uns nicht in Ruhe lassen. Das darf uns auch nicht in Ruhe lassen. Wir müssen über die Strukturen reden, die gehen nämlich bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Dass sich so eine Partei wie die AfD festsetzen kann, das muss uns besorgt machen. Das ist noch lange nicht Front National, das ist noch lange nicht UKIP – zum Glück. Aber die Forderungen, die von der AfD aufgestellt werden, zum Beispiel die „Drei-Kind-Politik“, warnen nicht nur vor dem Islam, sondern vor der sogenannten „Islamisierung“. Darin steckt so viel Absurdität, dass wir manchmal ganz hilflos sind in der Argumentation. Um dem zu begegnen, müssen wir sehr viel Kraft aufwenden und nicht müde werden, zu diskutieren. Übrigens auch mit positiven Entwürfen und mit sehr viel Enthusiasmus für dieses vielfältige Europa und für dieses vielfältige Deutschland. Wir müssen die Leute davon überzeugen, dass es sich lohnt dafür zu kämpfen, auch weil es für uns selber besser ist.