“Ich sorge mich um die Glaubwürdigkeit des Artikel V”

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Ein Interview der Heinrich-Böll-Stiftung mit Julianne Smith

Eine neue Studie des Pew Research Centers belegt, dass viele Europäer/innen, und besonders viele Deutsche, einem NATO-Mitglied keine militärische Unterstützung gewähren wollten, sollte es in einen militärischen Konflikt mit Russland geraten. Die Studie hat in Washington und anderen Hauptstädten wichtiger NATO-Staaten Besorgnis über das fehlende Vertrauen in die NATO ausgelöst, und Fragen zu einer gemeinsamen europäischen und transatlantischen Haltung gegenüber der Ukraine, Osteuropa und Russland aufgeworfen. Um die US-amerikanische Sichtweise auf die Studie zu beleuchten, haben wir mit Julianne Smith, ehemalige stellvertretende Beraterin für Nationale Sicherheitsfragen von Vizepräsident Joe Biden (2012-2013) und nun Senior Fellow am Center for a New American Security, gesprochen.

Heinrich-Böll-Stiftung: Die  NATO ist keine Ausnahme zu der Regel, dass US-Amerikaner dazu tendieren, multilateralen Institutionen skeptisch gegenüberzustehen. Wie erklären Sie sich, dass lediglich 49 Prozent der Amerikaner ein positives Bild der NATO haben, während gleichzeitig 56 Prozent bereit wären, einem NATO-Mitglied militärisch beizustehen, sollte es von Russland angegriffen werden?  

Julianne Smith: Es gibt in der amerikanischen Bevölkerung seit Langem eine breite Unterstützung für unser Engagement in der NATO, auch wenn es sich dabei um eine multilaterale Institution handelt. Was in den letzten Jahren gelitten hat ist das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung in die Bereitschaft der NATO-Staaten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Damit meine ich vor allem die steigende Skepsis darüber, ob unsere europäischen Partner die notwendigen Investitionen zu tätigen bereit sind, damit die NATO den heutigen Sicherheitsherausforderungen begegnen kann.  

Die Ergebnisse der Studie überraschen mich also nicht. Ich bin auch nicht überrascht, dass die meisten Amerikaner weiterhin eine starke Verantwortung für die Verteidigung unserer NATO-Partner empfinden. Sollte es zu einer Situation kommen, in der ein NATO-Partner angegriffen werden würde, habe ich keinen Zweifel, dass die Bereitschaft in der amerikanischen Bevölkerung, diesem Partner beizustehen, in die Höhe schnellen würde. Diese Unterstützung findet man in beiden Parteien - bei den Demokraten und Republikanern - sowie im Kongress, an beiden Küsten des Landes, im Kernland… Ich glaube, dass die Unterstützung der Amerikaner für den Artikel V felsenfest ist.  

Die Studie zeigt einen besonders großen Graben zwischen der amerikanischen und der deutschen öffentlichen Meinung, u.a. zu Fragen der NATO-Erweiterung, Sanktionen gegen Russland, und zur Bewaffnung der ukrainischen Armee (1).  Wie passt das damit zusammen, dass Deutschland nach Großbritannien oft als der engste Partner der USA in Europa bezeichnet wird?

Nun ja, zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die Agenda, die wir mit unseren Freunden in Deutschland teilen, weit über NATO- und Verteidigungsfragen hinausgeht. Wir mögen anderer Meinung sein, was den Einsatz militärischer Mittel in der Ukraine, die Bewaffnung der ukrainischen Armee, oder die NATO–Erweiterung betrifft. Aber es gibt eine ganze Reihe anderer Themen, bei denen wir übereinstimmen. Wir teilen weiterhin dieselben Werte, und wir sehen die Welt mehr oder weniger aus derselben Perspektive.

Man sollte auch bedenken, dass die Pew-Studie gezielt die Stimmung in der Bevölkerung aufzeigen wollte. Manchmal ist es so, dass unsere Entscheidungsträger/innen sich einig sind, während unsere Bevölkerungen in einem bestimmten Punkt unterschiedlicher Meinung sind. Ich weiß, dass es in Deutschland und den USA unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie man die Ukraine am besten unterstützen kann. In Deutschland ist die Skepsis gegenüber militärischer Hilfe besonders groß. Kanzlerin Merkel und Präsident Obama sind sich aber im Wesentlichen einig, in welche Richtung sich unser Engagement in der Ukraine entwickeln soll.

Während 58 Prozent der befragten Deutschen eine eigene militärische Intervention ablehnen, sollte ein NATO-Mitglied in einen ernsthaften Konflikt mit Russland verwickelt werden, gehen 68 Prozent davon aus, dass die USA in diesem Falle militärischen Beistand leisten würde. Wir wird das in Washington gesehen?

Die meisten Amerikaner finden das sehr beunruhigend, weil es den gängigen Eindruck bestärkt, dass die Europäer nicht bereit sind, einen anderen NATO-Partner im Ernstfall zu verteidigen, oder jedenfalls große Vorbehalte dagegen hegen. Gleichzeitig besteht die Annahme, dass die USA dem NATO-Partner in so einem Fall beistehen würde, koste es, was es wolle. Das bürgt den Amerikanern eine unfaire und unnötige Last auf und nimmt die Europäer aus der Verantwortung, während sie doch eigentlich mehr für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sein sollten.

Einige Kommentatoren vertreten die These, dass die Amerikaner in der Ukraine und gegenüber Russland risikofreudiger agieren als die Europäer, weil Europa einen sehr viel höheren Preis zahlen müsste, käme es tatsächlich zu einem gewaltsamen Konflikt zwischen der NATO und Russland.  Ist das aus ihrer Sicht eine richtige Einschätzung?

Die USA und Europa haben sicherlich einen unterschiedlichen Ausgangspunkt im Umgang mit dem Konflikt in der Ukraine und den Spannungen zu Russland. Trotzdem glaube ich nicht, dass es einen großen Unterschied in Obamas und Merkels Herangehensweise gegenüber Putin und Russland gibt. Beide stimmen darin überein, dass Russlands Aggression gegenüber der Ukraine sanktioniert werden muss. Gleichzeitig erkennen beide an, dass wir eine gewisse Beziehung zu Russland aufrechterhalten müssen, beispielsweise mit Blick auf das Nuklearabkommen mit dem Iran.   

Die öffentliche Meinung ist nicht immer ausschlaggebend für die Gestaltung der NATO-Politik. Wie entscheidend sind die Meinungsunterschiede zwischen den Bevölkerungen der NATO-Staaten für eine kohärente Haltung der NATO zum Konflikt in der Ukraine, dem Umgang mit den östlichen NATO-Partnern und Russland?

Es stimmt zwar, dass die öffentliche Meinung nicht immer ausschlaggebend ist für die NATO-Politik oder die Haltung eines individuellen Staates innerhalb der NATO. Dennoch kann die öffentliche Meinung eine große Auswirkung haben. Die Umfrageergebnisse aus Deutschland und Italien zum Beispiel zeigen eine deutliche Skepsis gegenüber einer zukünftigen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Es steht außer Frage, dass die Entscheidungsträger/innen dieser Länder genau hinschauen werden, wie sich diese Umfragewerte entwickeln. Die Stimmung in der Bevölkerung kann also sehr wohl den Ausgang der NATO-Erweiterungsdebatte beeinflussen.

Die gegenwärtige Haltung in Europa gegenüber der NATO ist zum Teil besorgniserregend. Ich hoffe, dass europäische Entscheidungsträger/innen ihre Anstrengungen verdoppeln werden, zu erklären, wieso die NATO wichtig ist und dass sie ohne Solidarität nicht funktionieren kann. In manchen Fragen müssen europäische Entscheidungsträger/innen auch bereit sein, gegen den Strom zu schwimmen und Führungsstärke zu beweisen. Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob wir damit rechnen können.

Politiker/innen in den USA und Europa werden nicht müde, die Gültigkeit des NATO-Artikel V zu beteuern. Wie unantastbar ist diese Selbstverpflichtung  vor dem Hintergrund der Pew-Studie? Sollten die verwundbarsten NATO-Mitglieder - die Baltischen Staaten - beunruhigt sein?

Die Ergebnisse der Studie mit Blick auf die Glaubwürdigkeit des Artikel V sind definitiv besorgniserregend. Ich sorge mich aus zwei Gründen um den Zustand des Artikel V: Erstens sehe ich nicht, dass auf der anderen Seite des Atlantiks die nötigen Anstrengungen und Investitionen unternommen werden, um sicherzustellen, dass die NATO im Falle eines Artikel V-Szenarios schnell reagieren kann. Zweitens sorge ich mich um die gesellschaftliche Unterstützung innerhalb der NATO-Staaten für den Artikel V.  Säße ich im Hauptquartier der NATO, oder in Tallinn oder Riga, würde ich in Vorbereitung auf den nächsten NATO-Gipfel in Warschau alles daran setzen, die Unterstützung in der Bevölkerung und unter den Entscheidungsträger/innen für den Artikel V zu stärken.

Das Interview wurde am 11. Juni 2015 geführt.

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(1) 62 Prozent der Amerikaner, aber nur 23 Prozent der Deutschen sind für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Fast jeder dritte Deutsche (29 Prozent), aber nur jeder zehnte Amerikaner will die Sanktionen gegen Russland zurückrollen. Und während 46 Prozent der Amerikaner für die Bewaffnung der NATO gegen die Ukraine sind, sind es unter den deutschen Befragten nur 19 Prozent.