Die „zweite Front“ – Eine Zwischenbilanz zum Kampf gegen die Korruption in der Ukraine

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Wird die Ukraine einen Ausweg aus ihren Korruptionsproblemen finden?

Korruption ist, neben dem bewaffneten Konflikt im Osten des Landes, eines der schwerwiegendsten Probleme in der Ukraine. Auch wenn dem Parlament diesbezüglich wichtige gesetzliche Fortschritte gelungen sind, bleiben positive Ergebnismeldungen bisher aus.

In der öffentlichen Wahrnehmung stellt Korruption, abgesehen vom bewaffneten Konflikt im Osten des Landes, das schwerwiegendste Problem dar. Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk beschreibt die aktuelle Situation des Landes gar als „Zwei-Fronten-Krieg“. Als zweite, weniger sichtbare Front bezeichnet er dabei den Kampf gegen Korruption und schlechte Regierungsführung. Dem Corruption Perception Index 2014 von TI zufolge reiht sich die Ukraine auf Platz 142 (zusammen mit Uganda und Comoros) von 175 ein und zählt somit zu den am korruptesten wahrgenommenen Ländern der Welt. Korruption wird von Transparency International (TI) als Missbrauch anvertrauter Macht zur persönlichen Bereicherung definiert. Formen von Korruption können von Bestechungsgeldern über Unterschlagung von Staatseigentum, Patronage und Vetternwirtschaft bis hin zur Übernahme von staatlichen Institutionen durch korrupte Netzwerke reichen.

Im Hinblick auf politische Korruption in großem Maßstab lassen sich zwei Phänomene identifizieren, die für die heutige Ukraine typisch sind: zum einen die Durchdringung von staatlichen Institutionen durch korrupte Netzwerke und zum zweiten die Abhängigkeit von Politiker/innen von Großunternehmen sowie die Finanzierung von politischen Parteien durch Oligarchen. Während der Präsidentschaft von Viktor Janukowitsch (2010-2014) zählte die Ukraine zu den am stärksten von Korruption betroffenen Ländern in Europa, in denen der gesamte Staat von Korruption erfasst war und dadurch die gesamte Politik, Gesetzgebung und Wirtschaft entsprechend privater Interessen gestaltet wurde. Der Präsident selbst und sein unmittelbarer Kreis aus wichtigen Regierungsmitgliedern, Richtern und hohen Beamten nutzten ihre Machtpositionen zur persönlichen Bereicherung und für den Aufbau eines politischen Regimes, das keinesfalls als demokratisch und rechtsstaatlich zu bezeichnen ist. Die Bekämpfung der weitverbreiteten Korruption in der Ukraine wurde zu einem zentralen Motiv der Euro-Maidan-Bewegung. Gefordert wurde die vollständige Lustration des Parlaments, der Exekutivorgane und Richter. Die nach der Flucht von Janukowitsch neu gewählte Regierung hat die Bekämpfung von Korruption als Top-Priorität benannt und in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen an einem Anti-Korruptions-Reformpaket gearbeitet.

Aktuelle Anti-Korruptionspolitik der Regierung

Als wichtige Maßnahme zum Abbau alter Korruptionsstrukturen wurde noch vor den Parlamentswahlen im Oktober 2014 das sogenannte Lustrationsgesetz verabschiedet. Dieses sieht vor, dass leitende Beamte des Janukowitsch-Regimes sowie Anwärter auf öffentliche Posten hinsichtlich ihrer Verwicklung in Korruptionsdelikte oder gewaltsame Maßnahmen gegenüber Maidan-Protestierenden überprüft werden. Gleichzeitig führt es für Personen mit hohem bzw. mittlerem Beamtenrang eine zehn- bzw. fünfjährige Sperre für die Besetzung öffentlicher Ämter ein. Nach den Parlamentswahlen verabschiedete das Parlament noch im selben Monat das sogenannte „Antikorruptionspaket“, das Gesetze zur Reform der öffentlichen Auftragsvergabe und der Staatsanwaltschaft beinhaltet sowie der Strategie zur Bekämpfung der Korruption für 2015-2017 erstmalig den Status eines Gesetzes verlieh.

Kernstück des Gesetzespakets ist die Gründung zweier neuer staatlicher Institutionen: das Nationale Antikorruptionsbüro (NACB) als unabhängige Strafverfolgungsbehörde und die Nationale Agentur für Korruptionsprävention (NACP). Zu den Aufgaben des NACB zählen die Aufdeckung und Untersuchung von Korruptionsdelikten auf höchster Regierungsebene, im Rechtswesen und in der Strafverfolgung. In diesem Zusammenhang wurde außerdem der Straftatbestand der „gesetzeswidrigen Bereicherung“ durch öffentliche Bedienstete eingeführt, wenn bedeutende Anteile des Vermögens dieses Personenkreises nicht durch gesetzeskonforme Einnahmequellen nachvollzogen werden können.

Zum Zweiten sieht das neue Gesetz zur Korruptionsprävention die Gründung der NACP vor, die die Einhaltung der Antikorruptionsgesetze überwachen soll. Zu den Aufgaben dieser Institution sollen die Identifikation von Interessenkonflikten sowie die Überprüfung des Eigentums, des Einkommens und der Ausgaben von Beamten gehören. Außerdem fällt in den Aufgabenbereich dieser Behörde die Durchführung von präventiven Anti-Korruptionsprogrammen und Trainings von Angestellten in jeder Regierungsbehörde und staatlichen Einrichtung sowie die Beteiligung der Öffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Organisationen an der Entwicklung, Umsetzung und Kontrolle von Anti-Korruptionsmaßnahmen. Das Gesetz zur Korruptionsprävention regelt darüber hinaus die Rechte und den Schutz von Whistleblowern neu.

Stand der Implementierung

Seit der Verabschiedung des „Antikorruptionspakets“ hat die Regierung Schritte zur formalen Einrichtung der neuen Institutionen unternommen. Im April ernannte Präsident Poroschenko den ehemaligen Staatsanwalt Artem Sytnyk zum Leiter des NACB. Dieser teilte mit, dass mit der Einstellung von Mitarbeitern begonnen wurde und die Behörde im Herbst dieses Jahres voll funktionsfähig sein soll. Die Bildung des unabhängigen Auswahlkomitees zur Bestimmung der fünf Mitglieder für die NACP wurde Anfang Juni initiiert. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben in diesem Zusammenhang die mangelnde Transparenz bezüglich der Wahl der zivilgesellschaftlichen Vertreter für das Auswahlkomitee kritisiert und Zweifel an der Unabhängigkeit der Auswahlkommission geäußert. Trotz einer von TI Ukraine diesbezüglich eingereichten Klage stimmte die Regierung in einem Hauruck-Vorgehen der Zusammensetzung der Auswahlkommission zu, ohne dass überhaupt ein Vertreter des Parlaments bestimmt worden war. Erneute Verzögerungen in der Einrichtung der NACP sind also zu erwarten. Weitere Maßnahmen betreffen die Reformierung exekutiver Strukturen. Laut dem Innenministerium wurden 2014 20.000 Polizisten aus dem Dienst entlassen, weitere 20.000 sollen dieses Jahr folgen. Diese Maßnahme soll es ermöglichen die Gehälter der restlichen Angestellten im Polizeidienst zu erhöhen. Darüber hinaus soll ab Juli im Rahmen eines Pilotprojekts in Kiew die bisherige Verkehrspolizei in den Streifendienst integriert werden.

Zu den positiven Entwicklungen lassen sich auch Fortschritte in Richtung eines umfangreichen Zugangs zu staatlichen Informationen für die Bevölkerung zählen. In einem Internetportal des staatlichen Beschaffungswesens können öffentliche Aufträge vom Planungsstadium bis zur Fertigstellung des Vertrages eingesehen werden. Als weiterer wichtiger Schritt in Richtung Transparenz der Regierungsführung kann das Gesetz über die transparente Verwendung öffentlicher Mittel gesehen werden, das einen umfangreichen Zugriff auf Informationen über die Haushaltsausgaben der Regierung erlaubt. Ein Gesetzesentwurf zur Offenlegung von Unternehmenseigentum von öffentlichen Personen wurde vom Parlament verabschiedet, ein weiterer, welcher den Zugang zu Informationen über Landbesitz sicherstellen soll, wird im Parlament gegenwärtig debattiert.

Ein Gesetzesentwurf zur Reformierung der Parteienfinanzierung, der den Einfluss von privaten Geldgebern auf die Politik eingrenzen soll, stieß bei der Regierungsmehrheit im Parlament auf Widerstand. Kaum Fortschritte sind in der strafrechtlichen Verfolgung von Korruptionsfällen von Angehörigen des Janukowitsch-Regimes sowie in der Rückgewinnung von veruntreutem staatlichem Vermögen zu verzeichnen. Zwar wurden Gerichtsverfahren wegen Korruptionsdelikten durchgeführt, jedoch ist bis heute kein einziger Funktionär des Janukowitsch-Regimes verurteilt worden, obwohl sie verdächtigt werden dem Staat Milliarden gestohlen zu haben. Ebenso wurden die Verantwortlichen für die über einhundert 100 getöteten Maidan-Protestierenden noch nicht zur Rechenschaft gezogen. Auch die Umsetzung des Lustrationsgesetzes fällt je nach staatlicher Behörde unterschiedlich aus. Ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes haben am vorigen Unrechtsregime mitwirkende Personen noch immer ihre Posten inne.

Lippenbekenntnisse vs. echte Reformen?

In nicht geringem Ausmaß hängt der Erfolg der Bemühungen vom politischen Willen zentraler Akteure ab, die formulierten Ziele und verabschiedeten Antikorruptionsgesetze in die Praxis umzusetzen. Dabei scheint die Regierung mit medienwirksamen Maßnahmen, wie der Festnahme des Katastrophenschutzministers und seines Stellvertreters während einer Regierungssitzung, ihre Anstrengungen verdeutlichen zu wollen. Derweil haben weder das NACB noch die NACP ihre Arbeit aufgenommen. Abgesehen von Verzögerungen im Aufbau dieser Institutionen hängt die Handlungsfähigkeit der staatlichen Antikorruptionsinstitutionen sowie der Erfolg der Antikorruptionsmaßnahmen insgesamt in hohem Maße von Reformen in anderen Bereichen des Staatswesens ab, wie dem Rechtswesen und der Strafverfolgungsbehörden. Der Fall Sergey Kljujew hat einmal mehr die Ineffektivität des gegenwärtigen Strafverfolgungssystems gezeigt. Kljujev, ein ehemaliger enger Vertrauter Janukowitschs und aktuelles Parlamentsmitglied, steht unter Verdacht des Machtmissbrauchs, der Veruntreuung und des Betrugs in großem Stil. Nachdem das Parlament Anfang Juni Kljujevs Immunität aufgehoben hatte, verschwand er spurlos und entzog sich, wie viele andere ehemalig hochrangige Beamte vor ihm, der Rechenschaft. Vorfälle dieser Art lassen in der Öffentlichkeit Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Anti-Korruptionsanstrengungen der Regierung aufkommen.

Hinzu kommen weitere noch ungelöste Probleme. So sind Politiker/innen weiterhin von der finanziellen Unterstützung durch Oligarchen abhängig oder Oligarchen beteiligen sich selbst in der Politik, um geschäftliche Ziele zu verfolgen. Der Ausbruch des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine und die Entstehung unkontrollierter Territorien haben zudem das Aufkommen neuer korrupter Machenschaften begünstigt. Zu diesen Praktiken zählt die Bestechung von Einberufungsbehörden, um einzelne Personen vom Militärdienst zu befreien oder auch Bestechungsgeldzahlungen von ukrainischen Beamten, um im Gegenzug den Status eines Anti-Terror-Einsatz-Veterans zu erhalten und damit von der verpflichtenden Lustration befreit zu werden.

Fazit

Die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in der Ukraine ist gegenwärtig vor allem auf den Konflikt im Osten des Landes gerichtet. Allerdings scheint es nur eine Frage der Zeit bis innere Probleme des Landes, wie Jazenjuks „zweite Front“, erneut ins Zentrum des Interesses rücken. Dann kommt es darauf an, dass die Regierung Ergebnisse ihrer Anti-Korruptionspolitik vorweisen kann. Denn die strafrechtliche Verfolgung von Janukowitsch und seinen Verbündeten sowie die Beseitigung von Korruption gehören zu den drei größten Erwartungen der Ukrainer/innen nach dem Euromaidan. Erst die dritte Erwartung betrifft die Erhöhung von Gehältern und Renten. Ohne Fortschritte in der Bekämpfung von Korruption riskiert die Regierung ihren gesellschaftlichen Rückhalt zu verlieren. Der Erfolg des angestrebten Reformprozesses hängt nicht zuletzt auch davon ab, inwiefern es zivilgesellschaftlichen Akteuren gelingt, den Druck auf die Politik und Verwaltung aufrechtzuerhalten, Ergebnisse zu liefern. Journalisten und zivilgesellschaftliche Organisationen tragen dazu bei Fälle von Korruption aufzudecken, Informationen öffentlich zu machen und Transparenz sowie Rechenschaft der Regierung einzufordern. Ein weiterer wichtiger Schritt besteht darin, Bürgerinnen und Bürger in die Lage zu versetzen, selbst aktiv zu werden. In diesem Zusammenhang ist es an der Regierung entsprechende Strukturen und Mechanismen bereitzustellen. Außerdem ist es von zentraler Bedeutung Menschen über ihre Rechte und bestehende Regelungen zu informieren sowie die Unterstützungsmöglichkeiten für Opfer und Zeugen von Korruption zu kommunizieren. Abschließend kann festgehalten werden, dass es dem Parlament gelungen ist, wichtige gesetzliche Veränderungen in Übereinstimmung mit internationalen Standards einzuführen, die die Offenheit  und Transparenz der Regierung sowie den Dialog mit der Zivilgesellschaft verbessern. Auf der anderen Seite bleiben große institutionelle Schwächen bestehen, die die wirksame Umsetzung der verabschiedeten Gesetzgebung und Durchführung notwendiger Maßnahmen verhindern.