Die politische Ökonomie des ASEAN-Regionalisierungsprozesses

Die Spannung zwischen den Erfordernissen der "Markt Souveränität" und dem tief verwurzelten Prinzip der "Staatssouveränität" autoritärer Oligarchien wird die Ergebnisse des laufenden Regionalisierungsprozesses in Südostasien bestimmen.

Für den 48 Jahre alten Verband südostasiatischer Staaten (Association of South East Asian Nations – ASEAN) sind die Ziele „Bildung einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gemeinschaft“ und „regionale Integration“ bewegliche Ziele geworden. 1997 formulierten die zehn Mitgliedstaaten der ASEAN – Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam – die „ASEAN Vision 2020“. Sie sah die Errichtung einer friedlichen und stabilen, wirtschaftlich integrierten Region mit einer gemeinsamen kulturellen Identität vor. Zehn Jahre später, 2007, erklärten die ASEAN-Länder in der ASEAN-Charta selbstbewusst, dass sie ihre Integrationsziele schneller, das heißt vor 2020, erreichen würden. Das war die Geburtsstunde der „ASEAN Community 2015“, für die kräftig die Werbetrommel gerührt wurde.

Während heute, kurz vor dem anvisierten Termin Ende 2015, Zölle in der Tat fast vollständig abgeschafft sind, ging die Umsetzung der Integrationsverpflichtungen sowohl auf nationaler als auch regionaler Ebene langsamer als geplant vonstatten. Das erkannten die Staatschefs der Region bereits auf ihrem Gipfel im Jahr 2013, weshalb sie schnell eine „Post-2015 Vision“ erstellten – und gleich dazu eine hochrangige Taskforce einrichteten, deren Aufgabe es war, eine „ASEAN Community Vision 2025“ zu verfassen. Dieser Blueprint nun soll beim nächsten Gipfel im November 2015 unter dem Namen „Erklärung von Kuala Lumpur“ vorgestellt und abgesegnet werden. Er wiederholt im Wesentlichen die bereits seit langem bestehende Vision einer ASEAN-Region, die „politisch kohäsiv, wirtschaftlich integriert, sozial verantwortungsbewusst“ und „ehrlich menschenorientiert, menschenzentriert und regelbasiert“ ist.

In einem Versuch, den bis Ende 2015 nicht erreichten Integrationszielen einen positiven Dreh zu verpassen, startete die ASEAN kürzlich die Kampagne „2015: Just the beginning“, die für die Fortführung des stockend verlaufenden Integrationsprozesses wirbt. Während also die Termine des Projekts „ASEAN-Gemeinschaft“ im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verschoben wurden, stützt sich die demnächst präsentierte Vision 2025 unverändert auf die ASEAN-Kernwerte der „Staatssouveränität“ in den Bereichen Politik, Sicherheit und Soziokultur und der neoliberalen „Marktsouveränität“ in der Wirtschaft.

Das regionale Integrationskonzept der ASEAN-Gemeinschaft sieht die regionenweite wirtschaftliche Konvergenz der zehn Mitgliedstaaten vor, wobei die Diversität der politischen und kulturellen Gemeinschaften gewahrt bleiben soll. Die zugrunde liegende Idee ist die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftssystems: des wettbewerbsorientierten Kapitalismus. Dieses System soll an die unterschiedlichen politischen und kulturellen Strukturen angepasst werden und so einen offenen regionalen Block bilden, der in den Weltmarkt integriert ist.

Der neue Integrationstermin 2025 illustriert lediglich, wie langwierig der Aufbau einer ASEAN-Gemeinschaft in Wirtschaft, Politik und Kultur ist. Wichtig ist daher nicht die Frage, ob die Ziele des Blueprint bis 2025 erreicht werden, sondern welcher Logik der Integrationsprozess folgt und welche Auswirkungen er sowohl auf die einzelnen Länder als auch auf die Region als Ganzes hat. Daher lohnt es sich, über das Verhältnis zwischen einer intensivierten Neoliberalisierung in den kommenden zehn Jahren und den hartnäckigen politischen und wirtschaftlichen Strukturen in Südostasien nachzudenken – Strukturen, die durch verschiedene Formen autoritärer Regimes und Oligarchien geprägt sind.

Regionalisierung ohne Demokratisierung

Die letzten gut 20 Jahre waren in den zehn ASEAN-Staaten relativ friedlich und stabil. Es herrschte eine Art „friedliche Koexistenz der autoritären Regime“, denn die meisten Länder, die hier ohne größere bewaffnete Konflikte nebeneinanderher leben, sind im Grunde Nichtdemokratien: halbautoritäre Regierungen in Malaysia und Singapur; Militärregierungen in Myanmar und Thailand; Ein-Parteien-Systeme in Kambodscha, Laos und Vietnam sowie eine Monarchie in Brunei. Auch die etwas „demokratischeren“ Länder Philippinen und Indonesien haben lange Erfahrung mit Diktaturen, die sich noch in einigen autoritären Aspekten ihrer soziopolitischen Strukturen erhalten hat, etwa der Dominanz der Exekutive oder der andauernden Menschenrechtsverletzungen. Der relative Friede in der Region wird meist dem vorherrschenden Prinzip der „Staatssouveränität“ im Außensicherheitsbereich zugeschrieben, das sich insbesondere in der Politik der Nichteinmischung in innere politische Angelegenheiten der Länder manifestiert.

Von den drei Säulen der Gemeinschaftsbildung der ASEAN – die ASEAN-Politik- und Sicherheitsgemeinschaft, die ASEAN-Wirtschaftsgemeinschaft (AEC) und die soziokulturelle ASEAN- Gemeinschaft – hat die AEC viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. In der Zeit nach dem Kalten Krieg, in der die intraregionalen Beziehungen erstaunlich friedlich waren, gilt die AEC als der Dreh- und Angelpunkt des regionalen Integrationsprojekts der ASEAN. Sie soll durch eine Reihe wirtschaftlicher und institutioneller Reformen eine Region mit einem gemeinsamen Markt und einer gemeinsamen Produktionsbasis bewirken.

Der AEC-Blueprint sieht die Wirtschaft als eine getrennte Domäne, die immun ist gegen Einflüsse aus den Domänen Politik und Kultur. „Die Wirtschaft“ von „der Politik“ zu trennen, ist eine klassische Doktrin der Ideologie des Kapitalismus, die von den Vertretern der aktuellen Konfiguration des Kapitalismus – dem Neoliberalismus mit seiner Ideologie des freien Marktes und des Wettbewerbs – beibehalten wird. Der Neoliberalismus, der ideologische Unterbau des AEC-Projekts, betrachtet „den Markt“, „den Staat“ und „die Gesellschaft“ als getrennte Einheiten, die sich ausschließlich um ihre Angelegenheiten und Funktionen kümmern sollen. Daher postuliert der Neoliberalismus, dass a) der Markt ein Reich der Freiheit, der Wahl und des Fortschritts und damit wichtiger als die sozialen Variablen ist, b) die Gesellschaft lediglich ein Gewebe aus Einzelpersonen ist und c) man dem Staat so wenige Funktionen wie möglich überträgt; die Marktkräfte (d.  h. die Unternehmen der Privatwirtschaft) die letztendlichen Richtungsgeber für die sozioökonomischen Beziehungen, die Umwelt und die Menschenleben sein lässt. Damit einher geht die These, dass die internen Mechanismen des freien Marktes unter dem Laissez-Faire-Kapitalismus, in dem sich der Staat aus der Wirtschaft heraushält, Wirtschaftswachstum generieren, das nach dem „Trickle-Down-Prinzip“ zum Wohle aller in die untersten Ebenen der Gesellschaft durchsickert.

Die AEC soll die „Marktsouveränität“ durch die Politik der Nichteinmischung der Regierung in die Wirtschaft zementieren, während gleichzeitig die „Staatssouveränität“ der einzelnen ASEAN-Mitgliedstaaten durch die Nichteinmischung in innere politische und kulturelle Angelegenheiten gewahrt bleibt. Da es aber zwischen den Sphären Politik, Wirtschaft und Kultur in einer Gesellschaft keine klare Trennung gibt, bedeutet das ASEAN-Modell des „Konvergenzclubs“ der regionalen Integration, dass der Wirtschaftsneoliberalismus in die verschiedenen politischen Regimes und kulturellen Orientierungen in der Region eingebettet werden muss. Oder anders ausgedrückt: Der neoliberale Kapitalismus funktioniert auch sehr wohl in einem autoritären oder nichtdemokratischen politischen Rahmen und innerhalb unterschiedlicher kultureller oder religiöser Systeme. Dieses Konzept ist besonders plausibel, da das Projekt der Gemeinschaftsbildung der ASEAN einen Prozess der Regionalisierung ohne politisch-wirtschaftliche Demokratisierung vorsieht.

Da die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphären jedoch organisch miteinander verwoben sind, gibt es immer eine Koevolution der Sphären. Allerdings entwickelt der Wirtschaftskapitalismus – insbesondere die kapitalistische Produktionsweise – ungeheure Kräfte, die die Politik und Kulturen, die Gesellschaften und die Denk- und Verhaltensweisen der Bürger verändern.

Nationale Oligarchien und regionale Integration

Der Mangel an politischem Willen seitens der Staatsbeamten, notwendige Marktreformen konsequent umzusetzen, stellt zweifellos ein wesentliches Hindernis in der wirtschaftlichen Regionalisierung in Südostasien dar. Aber eine noch schwerer zu überwindende Hürde auf dem Weg zur AEC-Vision des „offenen Regionalismus“ mit einem gemeinsamen Markt ist der starke Widerstand bestimmter lokaler Machteliten gegen diejenigen neoliberalen Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, die sie als schädlich für die etablierten Interessen der einheimischen, politisch gut vernetzten Unternehmen erachten.

Es waren die Staatschefs, die die Institutionalisierung der AEC auf regionaler Ebene formuliert und unterzeichnet haben. Damit haben sich die Staaten der Disziplinierung durch den neoliberalen Kapitalismus unterworfen. Aber die konkrete Umsetzung der AEC erfolgt in erster Linie auf der nationalen Ebene, auf der die Oligarchien gut positioniert sind. Macht, Reichtum, Einfluss und Status der südostasiatischen Oligarchien stammen nicht allein aus familiären Beziehungen oder aus der Tradition, sie stammen auch nicht aus politischen Ämtern oder Vermögen, sondern aus der Synergie von politischer Macht und wirtschaftlichem Reichtum in sozialen Beziehungen. Daher werden diese Oligarchien treffenderweise eine politisch-wirtschaftliche Eliteklasse genannt.

Nationale Oligarchien – häufig im Bündnis mit den wesentlichen Entscheidungsträgern aus der Regierung – haben enormen Einfluss auf die lokale Politikgestaltung. Dieser Einfluss wird geltend gemacht, wenn es um den Widerstand gegen Liberalisierungsmaßnahmen geht, die die Monopole der Oligarchien bedrohen oder die aufgrund des beabsichtigten Wettbewerbs ein Risiko für deren Unternehmen darstellen. Gleichzeitig haben diese Oligarchien auch privilegierten Zugriff auf Akkumulationschancen, die sich aus der Liberalisierung und der Privatisierung ergeben – sei es, weil sie ihre Geschäfte relativ einfach diversifizieren können, oder weil sie aufgrund ihrer politischen Verbindungen näher am Staatsapparat sind, der zum Beispiel über den bevorzugten Bieter und die Zuschlagserteilung bei der Privatisierung von öffentlichem Eigentum entscheidet und Infrastrukturprojekte im Rahmen der Liberalisierung vergibt.

Die etablierten Oligarchien in den verschiedenen ASEAN-Ländern haben in der Vergangenheit traditionell die Akkumulation von Vermögen in den einheimischen Wirtschaften dominiert. Neoliberale Reformer wollen diese Oligarchien im Rahmen der AEC zähmen und dem „Wettbewerbskapitalismus“ unterwerfen. Dazu greifen sie nicht nur auf disziplinarische Maßnahmen zurück, sondern haben auch Strategien zur Bildung von „Reformkoalitionen“ entwickelt, in denen sie mit den wichtigsten Stakeholdern der Eliten und mit offenen Teilen der Oligarchieklasse gemeinsame Interessen im Neoliberalismus identifizieren und verfolgen.

Einheimische Eliten artikulieren und verhandeln ihre Interessen im Prozess der Neoliberalisierung auf ganz unterschiedliche Weise. Trotz des offiziellen Beitritts aller zehn ASEAN-Länder zur regelbasierten Welthandelsorganisation (WTO) und der Unterzeichnung der Freihandelsverträge zwischen der ASEAN und Australien, China, Indien, Japan, Neuseeland und Südkorea verfügen die lokalen Oligarchien nach wie vor über einen gewissen Handlungsspielraum. Wirtschaftseliten im Erste-Welt-Staat Singapur oder im ölreichen Brunei haben aus ihrer Perspektive gute Gründe, die Öffnung der nationalen Wirtschaften der Region für ausländische Direktinvestitionen und ausländische Eigentümerschaft zu unterstützen. Oligarchen in den Schwellenländern Indonesien, Malaysia, Philippinen und Thailand sind eher an dem weiteren Schutz ihrer Industrien interessiert oder sie fördern die gezielte Liberalisierung bestimmter Wirtschaftssektoren. Lokale politisch-wirtschaftliche Eliten in den weniger entwickelten Wirtschaften wie Kambodscha, Laos, Myanmar und Vietnam betonen die strategische Notwendigkeit des Schutzes ihrer noch jungen Industrie, oder sie sehen die Vorteile von Joint Ventures mit ausländischen Investoren im aktuellen Stadium ihrer wirtschaftlichen Entwicklung.

Im Umgang mit den Beschränkungen und den Chancen, die die Globalisierung bringt, lassen sich die Staatseliten in den südostasiatischen Schwellenländern (d. h. alle ASEAN-Länder, vielleicht mit Ausnahme von Singapur) häufig auf politische Kompromisse ein, die konfliktbeladen sind und die verschiedensten etablierten Interessen und Ideologien von Gruppen und Einzelpersonen berühren. Beziehungen zwischen Staat und Klassen können besonders heikel werden, wenn plötzlich internationales Kapital in dem einheimischen, von seinen eigenen Interessen geleiteten Akkumulationsregime eine Rolle spielt, sei es im Wettbewerb oder im Einverständnis mit den staatlichen und/oder lokalen Eliten. Staaten können durch internationales Kapital in eine Art Geiselhaft genommen werden, aber die lokalen herrschenden Klassen können es auch nutzen, wenn es einen Konflikt zwischen dem einheimischen und dem internationalen Kapital gibt. Genau daher muss jede Analyse von Staat und Klasse im Hinblick auf die Auswirkungen der wirtschaftlichen Regionalisierung der ASEAN auf nationale und regionale politische Ökonomien kontextspezifisch sein.

Die ASEAN selbst ist als regionale Institution die Verkörperung der Idee und des Diskurses des freien Marktes. Neoliberale Reformen, die in den jeweiligen Volkswirtschaften der einzelnen Länder nicht umgesetzt werden können, werden auf das regionale ASEAN-Niveau gehoben, das wiederum genutzt werden kann, um einheimische Wirtschaften dazu zu zwingen, sich den Regeln der Liberalisierung zu unterwerfen.

Das internationale Kapital – sei es in seiner tatsächlichen einheimischen Präsenz oder als von den Nationalstaaten hofierte Kraft – kann die nationalen/einheimischen Bourgeoisien herausfordern, umgestalten und schaffen. Durch Kooptierung zum Beispiel kann das internationale Kapital einen Kompromiss zwischen lokalen Eliten herbeiführen und diese Eliten dazu bringen, wirtschaftlichen Reformen zuzustimmen, indem ihnen auch im Neoliberalismus eigene Interessen zugestanden werden. Wenn internationales Kapital in den Nationalstaat eindringt, stellt es nicht nur eine monetäre Präsenz dar, sondern wird eine mächtige gesellschaftliche Kraft, die Einfluss auf die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen ausübt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die nationalen Eliten vollständig ohnmächtig werden, denn auch sie verfügen über politischen Einfluss gegenüber dem internationalen Kapital, und sie verfolgen ihre eigenen materiellen Interessen im Prozess der Neoliberalisierung.

Die offene Zukunft des Regionalismus

Die tiefgreifende wirtschaftlich Umstrukturierung – wie von der AEC vorgesehen – wird, wenn sie realisiert wird, die regionalen und lokalen Akkumulationsmuster und die einheimischen und ASEAN-internen sozialen Beziehungen zweifellos verändern. Diese wirtschaftlichen Reformen werden wahrscheinlich zur Folge haben: erstens intensive politische und soziale Konflikte, in denen die mächtigen einheimischen Eliten ihren Einfluss über die Politikgestaltung und den allgemeinen Prozess der Kapitalakkumulation geltend machen, und zweitens neue politisch-wirtschaftliche Allianzen und Klassen aufgrund von Partnerschaften, Verhandlungen, Vereinigung oder Kooptierung.

Das Gesicht des neoliberalen ASEAN-Regionalismus wird in hohem Maße davon abhängen, inwieweit die einheimischen Bourgeoisien der Region a) „gezwungen“ werden (durch die Allianz des internationalen Kapitals und nationaler Regierungen, die entschlossen die Regeln des Wettbewerbskapitalismus durchsetzen); b) „kooptiert“ werden (sich den gemeinsamen Akkumulationsinteressen der Regierungen und des internationalen Kapitals anschließen) oder c) „eingewilligt“ haben (in die Hegemonie des Neoliberalismus).

Die Zukunft des Regionalismus in Südostasien ist offen. Die Widersprüche, die sich aus dem elitären Wesen und dem elitegetriebenen Charakter der Gemeinschaftsbildung und der Regionalisierung der ASEAN ergeben, weisen auf Punkte, an denen der Widerstand ansetzen kann, und auf Gründe, warum ein „alternatives Regionalismusprojekt von unten“ möglich und notwendig ist.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers "Understanding Southeast Asia".