
Der Syrienkonflikt spitzt sich zu. Gleichzeitig wächst mit den Verhandlungen in Wien die Hoffnung auf eine politische Lösung. In Berlin diskutierten Experten/innen und Politiker/innen über die Intervention Russlands, deren mögliche Folgen für das Völkerrecht und die mangelnde humanitäre Hilfe für die Leidtragenden vor Ort.
Ungewöhnliches geschieht im Syrienkrieg, in dem die Hoffnungslosigkeit zu einer traurigen Gewohnheit geworden ist: Zwar mischt sich neben der US-geführten Koalition nun auch Russland direkt in die militärischen Auseinandersetzungen ein. Von einer „neuen Eskalation“ spricht Antonie Nord, Nahost-Chefin der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Doch durch den blutigen Alltag schimmert auch Hoffnung: Auf dem Syrien-Gipfel in Wien hat die internationale Gemeinschaft Ende Oktober den wohl ernsthaftesten Versuch gestartet, um den seit viereinhalb Jahren tobenden Krieg zu beenden.
Einer, der mit den Gesprächen in Wien vertraut ist, ist Miguel Berger. Als Nahost-Beauftragter des Auswärtigen Amts ist er der einzige Vertreter der Bundesregierung bei der Podiumsdiskussion „Syrien und das Scheitern der Weltgemeinschaft“, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch (04.11.2015) in ihre Räume in Berlin lud. „Es ist der internationalen Gemeinschaft gelungen“, erklärt er, „zum ersten Mal die wesentlichen Akteure – die fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates, wichtige Staaten aus Europa, aber vor allem alle Regionalstaaten, die in den Konflikt involviert sind, – an einen Tisch zu bekommen.“ In vier Punkten fasst Berger die Erklärung von Wien zusammen:
- Man habe sich auf die territoriale Integrität Syriens geeinigt. Damit wird Gedankenspielen eine Absage erteilt, Syrien in mehrere Staaten zu teilen – etwa einen Kurdenstaat im Norden und einen Alawitenstaat im Süden und Westen.
- Das künftige Syrien solle ein säkularer Staat sein, in dem Platz für verschiedene Ethnien, Religionen und Konfessionen sei.
- Der humanitäre Zugang für Dritte müsse sichergestellt sein.
- Man wolle gemeinsam auf eine Waffenruhe hinarbeiten. Auf diese sollen eine neue Verfassung und Wahlen folgen.
Und noch einen Punkt hebt Berger hervor, der „keine Selbstverständlichkeit“ sei: Die Beteiligten in Wien waren sich darin einig, dass die Vereinten Nationen im Mittelpunkt des Prozesses stehen sollen. Die UNO war in Syrien in den vergangenen Jahren massiv gescheitert und hatte durch die Uneinigkeit im Sicherheitsrat zunehmend an Bedeutung verloren.
Eine „gegenläufige Entwicklung“ – Hoffnung und Eskalation – beobachtet auch die Politikberaterin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. In der Syrienkrise sei viel Zeit vertan worden, etwa mit dem Kampf gegen den IS, die besser genutzt worden wäre, um eine politische Lösung voranzutreiben. Die neue Dynamik auf internationaler Ebene erklärt sie sich durch die jüngsten russischen Luftschläge, denen Berichten zufolge Hunderte Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Die Zuspitzung habe allen klargemacht hätten, dass man sich zusammensetzen muss.
Die russische Intervention als Chance?
Könnte die Intervention Russland, die jüngste Stufe der Eskalation, also letztlich eine politische Lösung vorantreiben? Auf dem Podium in der Heinrich-Böll-Stiftung klingt der Gedanke immer wieder an. Allerdings, gibt Asseburg zu bedenken, vertiefe Russlands Einmischung die Gräben unter den Konfliktparteien in Syrien: „Zusammen mit rund siebzig Rebellengruppen hat die nationale Koalition gesagt: 'Unter diesen Umständen können wir nicht an Verhandlungen mit dem Regime teilnehmen'“, erklärt Asseburg. Solange eine direkte Offensive gegen die Rebellen gefahren werde und sich die russischen Angriffe nicht auf den IS beschränkten, sinke in Syrien die Bereitschaft zu einer politischen Lösung.
Die Verhandlungslösung, auf die die Gespräche in Wien abzielen, wünscht sich zwar auch Frithjof Schmidt, Vize-Chef der Grünen-Bundestagsfraktion und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Doch er warnt: Der „große Wurf“, der nun angestrebt wird, dürfe nicht den Blick für andere Probleme verstellen. Humanitäre Hilfe müsse ins Zentrum der Debatte gerückt werden. „Das ist, was die Leute unmittelbar brauchen.“ Ohne sofortige Hilfe werde vielen Menschen die große Lösung irgendwann auch nicht mehr nützen. Von den am Wien-Prozess beteiligten Akteuren, auch von Deutschland, verlangt der Grünen-Politiker, dass sie das Thema prominent auf die Agenda setzen – eine Forderung, der Asseburg von der SWP zustimmt: „Kein Akteur“, pflichtet sie Schmidt bei, „hat die Zivilisten in den Vordergrund gerückt.“
Damit widerspricht sie Berger, der bei diesem Thema in Verteidigungshaltung geht: Die UN-Resolutionen sprächen doch explizit von humanitärer Hilfe. Berger zufolge liegt das Problem ganz woanders: bei Baschar al-Assad. „Es ist intensiv versucht worden, den Zugang herzustellen“, sagt der Nahost-Beauftragte des AA, „doch die Versuche waren von sehr geringem Erfolg gekrönt, weil das syrische Regime Hunger als Waffe eingesetzt hat.“
Dann schimmert auch bei Berger die vorsichtige Hoffnung durch, dass Russlands neues Engagement nicht nur mehr Blutvergießen, sondern auch Positives bewirken könnte. Putin habe durch sein militärisches Eingreifen Verantwortung übernommen für Assad. Folglich „müssen wir von Russland auch erwarten, dass es seinen Einfluss gegenüber diesem Regime geltend macht, um den humanitären Zugang zu erleichtern und die Bombardierung mit Fassbomben zu reduzieren.“ Den entsprechenden UN-Resolutionen habe Russland ja bereits zugestimmt.
Russland und Assad sind keine Verbündeten
Warum hat sich die russische Führung nach viereinhalb Jahren Syrienkrieg entschieden, direkt militärisch einzugreifen? Dieser Frage geht Talal Nizameddin nach, Russland-Experte an der Amerikanischen Universität in Beirut. Anders als immer wieder behauptet, erklärt er, seien Moskau und das Regime in Damaskus keine „Verbündeten“. Vielmehr sei Assad von Russland abhängig. Dort habe man geglaubt, „dass das syrische Regime trotz der Hilfe Irans und der Hisbollah kurz vor dem Zusammenbruch stand“, erklärt Nizameddin. Mittel- und langfristig gehe es Russland zudem darum, im Mittleren Osten präsent zu sein und bei weltpolitischen Themen auf einer Augenhöhe mit den USA zu sein.
Die Rolle Russlands dürfe man aber nicht überschätzen, ebenso wenig wie die von westlichen Staaten. „Wir sollten nicht glauben“, antwortet Nizameddin auf eine Frage aus dem Publikum, „dass Deutschland, die USA oder Russland allein aufgrund ihrer militärischen oder wirtschaftlichen Macht den Schlüssel für eine Lösung in der Hand halten. Hinter der Kulisse entscheiden vielleicht irgendwann die Türkei, Saudi-Arabien und der Iran, dass es in ihrem Interesse ist, Syrien zu stabilisieren. Russland, die USA und Deutschland werden keinerlei Mitsprache haben.“
Aus ganz anderer Perspektive beleuchtet schließlich Andreas von Arnauld das Eingreifen Russlands in Syrien. Die jüngsten Entwicklungen könnten Auswirkungen auch auf das internationale Recht haben, meint der Völkerrechtler vom Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel. Russland, stellt er fest, habe mit seinen Luftangriffen auf „Einladung“ Assads begonnen. Nach dem Völkerrecht sei die russische Argumentation also erst einmal schlüssig. „Nach wie vor ist es so, dass die Mehrheit der Völkerrechtler/innen sagen würde, dass eine Intervention auf Einladung dem Völkerrecht entspricht.“ Zwar sei diese Doktrin in den 1970er Jahren einmal infrage gestellt worden, als die Stellvertreterkriege des Kalten Kriegs einen Höhepunkt erreichten und der Wunsch bestand, jegliche Intervention in Bürgerkriege völkerrechtlich zu ächten. Sie habe sich aber bis heute gehalten. Ob das auch nach den russischen Luftschlägen in Syrien so bleibt? Da ist sich der Völkerrechtler nicht sicher. Langfristig, so von Arnauld, müsse die Doktrin der „Intervention auf Einladung“ wohl überdacht werden.