Die OSZE – vom Kalten Krieg zu heißen Konflikten

Flaggen mit dem OSZE-Logo auf Russisch, Englisch und Deutsch vor der Hofburg in Wien.

Sicherheit, Zusammenarbeit und Krisenprävention in Zeiten der Konfrontation mit Russland

Podiumsdiskussion am 12.10.2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung

Von der deutschen Außenpolitik wird derzeit viel erwartet, nicht zuletzt, seitdem Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 ein stärkeres Engagement und die Übernahme von mehr Verantwortung forderte. Eine Möglichkeit dazu bietet der Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Jahr 2016.
Der Politologe Wilfried von Bredow bezeichnete das Vorgängerformat KSZE im Jahr 1992 als die wichtigste Konferenz zur Ordnung der europäischen Angelegenheiten seit dem Wiener Kongress. Heute stellt Gernot Erler als Sonderbeauftragter der deutschen Bundesregierung für den OSZE-Vorsitz fest, dass wir uns in der schwersten Krise für die europäische Sicherheitsordnung seit dem Ende des Kalten Krieges befinden. Was ist also passiert? Wie lässt sich die OSZE weiterentwickeln, um ihr ehemaliges Potenzial wieder ausschöpfen zu können?
Diesen Fragen ging die vierte Veranstaltung der Reihe Zivile Krisenprävention im Kontext deutscher Außen- und Sicherheitspolitik nach, in der Moderator Oliver Knabe (Forum Ziviler Friedensdienst) mit Marieluise Beck (MdB, Bündnis 90 / Die Grünen), Dr. Wolfgang Zellner (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik) und Thomas Lenk (Büroleiter des Sonderbeauftragten für den OSZE-Vorsitz 2016 im Auswärtigen Amt) diskutierte.

Von politischer Poesie zur asymmetrischen Dilemmasituation

Will man die Entwicklung der OSZE verstehen, muss man vor allem das Verhältnis des Westens zu Russland betrachten. Zunächst gab es nach 1989 einen euphorischen Neustart der europäischen Beziehungen, was sich unter anderem in der Charta von Paris ausdrückte, die Wolfgang Zellner als „politisches Gedicht“ bezeichnet. Sie wurde im November 1990 von den KSZE-Teilnehmerstaaten unterzeichnet, die darin die Spaltung Europas für beendet erklärten. Es folgte die Umwandlung der KSZE in die OSZE, die trotz ihres Titels keine Organisation im engeren Sinne ist.
In der Folge fällte der Westen die Grundentscheidung, einer Erweiterung seiner bestehenden Organisationen (EU und NATO) den Vorzug vor der Weiterentwicklung gesamteuropäischer Sicherheitssysteme im Rahmen von KSZE/OSZE zu geben. Gekoppelt war diese Erweiterung mit zwischenzeitlich erfolgreichen Kooperationsangeboten an Moskau wie dem NATO-Russland-Rat.
Mit dem Krieg in der Ukraine ist dieser Ansatz gescheitert und damit zunächst auch die Integration Russlands in westliche Politikstrukturen. Die gleichzeitig abgelaufenen inneren Entwicklungen in Russland weg von demokratischen und hin zu autokratischen Zügen haben zu einer Situation geführt, die Wolfgang Zellner als „asymmetrisches Dilemma“ bezeichnet und für gefährlicher hält, als die letzten zehn Jahre des kalten Krieges. Er weist gleichzeitig auf folgendes Paradoxon hin: Einerseits kündigt Russland in dieser Situation den normativen Konsens auf, stellt die vereinbarten Regeln der OSZE in Frage, weil sie als zu westlich empfunden werden, und verlangt ihre Neuaufstellung. Andererseits gewinnt die Organisation im gleichen Moment wieder an Bedeutung, weil die Konfliktparteien keine andere Plattform für die Regulierung einer Krise mehr haben, die keine Seite eskalieren will.

 

Schleichende Marginalisierung der OSZE auf Grund politischer und struktureller Probleme

Das allein kann die Entwicklung der OSZE aber nicht erklären. Vielmehr muss auch festgestellt werden, dass spätestens während der Kriege auf dem Balkan in den 1990er Jahren Fehler gemacht wurden: Die Politik stattete Missionen mit unerfüllbaren Mandaten aus, die im Widerspruch zu den tatsächlichen Entwicklungen in den Krisensituationen standen, zu spät angepasst wurden und so zum Scheitern verurteilt waren. Darin bestand Einigkeit unter den Diskutant/innen.
Marieluise Beck weist zudem auf die Probleme der parlamentarischen Versammlung in der OSZE hin, „die man nur schwer ernst nehmen kann“. Die Mitwirkung der Parlamentarier/innen in der Organisation insgesamt ist nach ihrer Ansicht von geringer Zuverlässigkeit und Ernsthaftigkeit gekennzeichnet sowie manipulationsanfällig. Hinzu kommt das Problem mit den unsicheren Mehrheiten: Entsandte Abgeordnete aus autoritären Staaten sind tendenziell weniger Doppelbelastungen im Sinne von Wahlkreisarbeit ausgesetzt und können so zahlreich zu für sie wichtigen Entscheidungen erscheinen.
 
Wendet man den Blick auf die aktuelle Situation der OSZE, kommt man fast automatisch zurück zum Verhältnis des Westens mit Russland. Die derzeitigen Spannungen lähmen auch die Entwicklung innerhalb der Organisation. Bei den Kernthemen Abrüstung und Rüstungskontrolle werden kaum Fortschritte erzielt. Die notwendige Weiterentwicklung des Wiener Dokuments, welches vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen umfasst, stockt seit 2010. Wolfgang Zellner weist mit Blick auf den nie unterzeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa zudem darauf hin, „dass uns die Rüstungskontrollregime zerfallen und wir die, die wir noch haben, nicht weiterentwickeln können.“ Die multipolare und komplexe Struktur Europas mit einer Vielzahl von Staaten mit unterschiedlichen Interessen verkompliziert die Situation zusätzlich.

Und es geht um ganz Elementares: Ein gemeinsames Grundverständnis mit Russland zur zukünftigen Rolle der OSZE bei der Ordnung Europas fehlt und muss erst wieder gefunden werden - vielleicht auch unter dem deutschen Vorsitz im Jahr 2016.
Orientierung könnte der Schweizer Vorsitz im Jahr 2014 geben, der allgemein als sehr erfolgreich eingeschätzt wird. Unter ihm gelang zum Beispiel der personelle und strukturelle Umbau der OSZE-Mission in der Ukraine. Sie wurde noch kurz vor dem Ausbruch der großen Kampfhandlungen als zivile Mission geplant, fand sich dann aber in der Donbass-Region in einer Kriegssituation wieder. Weil zunächst weder Auftrag noch Ausstattung zu den tatsächlichen Bedingungen passten, war ein grundlegender Umbau nötig. Dieser gelang trotz schwieriger Rahmenbedingungen, so dass jetzt erste Erfolge zu beobachten sind wie die Absage geplanter Wahlen in den Separatistengebieten. Wolfgang Zellner mahnt aber eine entschiedene Stärkung der Mission an, um die Fortsetzung der Arbeit sicherzustellen.

Über marginale Themen reden, um im Gespräch zu bleiben

Unabhängig von ersten Erfolgen in der Ukraine stellt sich die Frage, wie man die derzeit festgefahrene Situation in der OSZE überwinden kann. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass Vorsicht, Flexibilität und ein langer Atem nötig sind. Umstrittene Kernthemen in den Mittelpunkt der Gespräche zu stellen, würde deren ohnehin schleppenden Verlauf nur weiter erschweren. Thomas Lenk sieht deshalb zur Zeit keine Möglichkeiten, über Idealszenarien zu spekulieren und hält in naher Zukunft tiefgreifende Fortschritte für wenig wahrscheinlich. Er empfiehlt vielmehr, über Randthemen zu reden, um den Gesprächsprozess überhaupt am Laufen zu halten beziehungsweise ihn erst wieder in Gang zu setzen.

Kann auch die Zivilgesellschaft zur Wiederbelebung der Diskussion beitragen? Marieluise Beck hält ein Plädoyer für deren Buntheit und weist darauf hin, dass Transformation und Demokratisierung nur auf dem Fundament einer lebendigen Zivilgesellschaft erfolgreich sein können. In der OSZE ist sie bisher unterrepräsentiert und kommt hauptsächlich in der sogenannten menschlichen Dimension vor, die nur einen kleineren Teil des Aktivitätenspektrums abdeckt. Eine neue Perspektive bietet das im Jahr 2013 gegründete Netzwerk Zivilgesellschaft mit 47 Mitgliedsinstitutionen aus 35 Staaten. Deren stärkere Einbindung wäre wünschenswert und wird Thomas Lenk zur Aufnahme für das Arbeitsprogramm für das kommende Jahr empfohlen.
Bereits unter dem Schweizer Vorsitz gab es Bemühungen, mit einem Positionspapier die Stellung der Zivilgesellschaft innerhalb der OSZE festzulegen. Die angespannte Gesamtsituation verhinderte aber, dass es darüber überhaupt zu einer Diskussion kam.
Und man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass vor allem in autoritären OSZE-Teilnehmerstaaten gesetzliche Regelungen die Aktivitäten der Zivilgesellschaft einschränken. Marieluise Beck nennt zudem Länder wie Aserbaidschan und Belarus, in denen die Machtstrukturen zurückzuschlagen beginnen, sobald ihnen die Zivilgesellschaft gefährlich wird.

15 Jahre UN-Resolution 1325

Mehr noch als die engere Einbindung der Zivilgesellschaft ist die Stärkung von Frauen innerhalb der OSZE dringend notwendig. Zum diesjährigen 15. Jubiläum der Verabschiedung der UN-Resolution 1325 muss nämlich festgestellt werden, „dass die OSZE und vor allem ihre Feldoperationen überwiegend ein Männerverein sind“, so Wolfgang Zellner. Geändert hat sich dies, abgesehen von einigen prominenten Vertreterinnen wie der Schweizer Spitzendiplomatin Heidi Tagliavini, trotz der UN-Resolution kaum.
Man darf allerdings nicht nur Panelistinnen und weibliche Führungskräfte zählen, sondern muss vielmehr darauf hinwirken, dass auch geschlechterspezifische Positionen und Themen in der Arbeit der OSZE ausreichend gewichtet werden. Und dabei gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. Marieluise Beck weist ein weiteres Mal darauf hin, dass die OSZE auch bei diesem Thema von ihren Teilnehmerländern abhängig ist. Mit Blick auf die Transformationsländer und autoritären Staaten in Zentralasien und auf dem Westbalkan bemerkt sie provokant, „schlagen sie denen mal vor, dass eine Frau eine entscheidende Rolle bekommen soll.“
Hinzu kommt, dass auf Grund der Ausrichtung der OSZE zahlreiche Mitarbeiter/innen vor allem aus den klassischen Männerdomänen Militär und Außenpolitik rekrutiert werden.
Mit Blick auf den deutschen Vorsitz möchte Thomas Lenk nicht versprechen, dass es im kommenden Jahr eine OSZE Generalsekretärin geben wird. Er ist überzeugt, dass der Genderfaktor bei Entscheidungen stets eine Rolle spielt, räumt aber auch ein, dass er nicht immer zum Zuge kommt. Zudem weist er auf den Mangel an weiblichen Mitarbeiterinnen in Entsendeorganisationen wie der deutschen Polizei hin, der eine vermehrte Rekrutierung von Frauen für die OSZE erschwert.

Möglichkeiten und Chancen des deutschen OSZE-Vorsitzes

Offensichtlich gibt es viele Themen, die unter dem deutschen OSZE-Vorsitz im kommenden Jahr intensiv bearbeitet werden können. Darauf angesprochen weist Thomas Lenk zunächst auf den vergleichsweise großen Spielraum bei der Themensetzung hin, der auch auf den unklaren Rechtsstatus der Organisation zurückzuführen ist. Er kündigt an, dass der deutsche Vorsitz auf allen vier Ebenen der OSZE aktiv wird. Diese setzen sich zusammen aus einem festgelegten Veranstaltungskanon, dem regionalen Konfliktmanagement, der Verbesserung der Fähigkeiten der OSZE zum Konfliktmanagement sowie der Wiederherstellung des europäischen Dialogs.
Unabhängig davon sieht er eine Reihe von zum Teil langandauernden Regionalkonflikten, an deren Lösung weitergearbeitet werden soll. Für den Südkaukasus wird deshalb die Ernennung eines erfahrenen Schweizer Diplomaten als Sonderbeauftragten angekündigt, der dazu beitragen soll, vorhandene Spannungen zu entschärfen.

Um einen neuen Einstieg in den ins Stocken geratenen europäischen Dialog zu finden, möchte die deutsche Präsidentschaft ein altbewährtes OSZE-Instrument vertiefen: Man bespricht so lange scheinbar marginale, aber brückenbildende Themen, bis ein Konsens erreicht ist, der das gegenseitige Vertrauen stärkt und so die Basis für die Fortsetzung des Dialogs bildet. Dazu sollen vorhandene Gesprächsformate flexibel genutzt werden.

Ein weiteres Ziel ist es, die OSZE besser auf schnelle Reaktionen in Konfliktsituationen vorzubereiten, auch wenn dies nicht ganz einfach wird. Thomas Lenk konstatiert, „dass wir relativ bescheidene Ziele im Hinblick auf Geld und Personal haben, weil es ganz schwierig sein wird, hier einen Konsens zu erzielen.“ Wolfgang Zellner fordert ihn auf, zumindest alles zu machen, „was geht, ohne Geld auszugeben“ und meint damit eine Vielzahl technischer Vorbereitungsschritte, unabhängig von einer konkreten Mission, die im Ernstfall ein zügiges Eingreifen ermöglichen. Als Beispiel nennt er den schnellen Aufbau der Ukraine-Mission, der nur durch einen zunächst unbeachteten Beschluss im Jahr 2011 möglich war. Auf dessen Grundlage wurde unter anderem die spätere Materialbeschaffung mit vorbereiteten Kaufverträgen beschleunigt.

Ausblick: Wir können noch nicht kühn sein, weil wir nicht wissen wozu

Wolfgang Zellner stimmt Thomas Lenk in dem Sinne zu, dass in der aktuellen Situation zum Abbau der Spannungen sensibles Vorgehen und kleine Schritte nötig sind. Dazu könnte nach seiner Ansicht ein bilaterales Abkommen gehören, welches Russland mit den USA oder der NATO schließt, um ungewollte Unfälle auf Grund der gesteigerten Militärtätigkeit zu verhindern. Und er warnt davor, dass die Krisen auch im nächsten Jahr mit uns sein werden und fordert, sich darauf vorzubereiten. Dazu könnte die Weiterentwicklung von Strukturen in der OSZE wie das Sekundierungssystem gehören, über das Personal für Missionen zur Verfügung gestellt wird.

Aber man muss den gedanklichen Bogen weiter spannen: Die Diskussion über die zukünftige Sicherheitspolitik in Europa hat nach dem Ende der kooperativen Sicherheitskultur gerade erst begonnen. Deshalb sieht Wolfgang Zellner derzeit noch keine Möglichkeit für kühne Schritte, so sehr sie auch zu wünschen wären. „Wir können im Moment noch nicht kühn sein, weil wir nicht wissen wozu.“ Zunächst ist eine grundlegende Normendebatte nötig, ohne Ergebnisse aus der Vergangenheit, wie die Charta von Paris, in Frage zu stellen. Der vorhandene Dissens über die Interpretation dieser erreichten Werte muss besprochen und überwunden werden. Dazu schlägt Wolfgang Zellner dem deutschen Vorsitz auch die Durchführung einer internationalen Konferenz von Völkerrechtlern vor.

Der zu beobachtende Democracy-Roll-Back in einigen Teilnehmerstaaten bietet aber auch eine Chance für die OSZE: Die bis vor kurzem politisch völlig marginalisierte Organisation kann sich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und als erprobtes Instrument zur Vertrauensbildung und Krisenbewältigung in dieser Situation neu definieren und erfinden.

Wie weiter?

Die Veranstaltungsreihe wird am 14. Dezember 2015 mit einem friedenspolitischen Jahresrückblick in der Heinrich-Böll-Stiftung fortgesetzt, zudem Dr. Franziska Brantner (MdB Bündnis 90/Die Grünen), Dr. Sylke Tempel (Chefredakteurin Internationale Politik, DGAP) und Prof. Dr. Hans Joachim Giessmann (Berghof Foundation) eingeladen sind.