Benötigt die Demokratie gemeinsame Grundwerte oder reichen die Verfassung und die Gesetze als Rahmen für das Zusammenleben aus? Ein Gespräch von Jan Feddersen und Ralf Fücks darüber, ob und welche Leitbilder eine Einwanderungsgesellschaft braucht.
Muss es ein Leitbild für ein gesellschaftliches Zusammenleben in Deutschland geben?
„Leitbild" klingt mir zu sehr nach "Leitkultur". Davon sollten wir uns verabschieden. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Nicht nur wegen der Einwanderer: auch die "Biodeutschen" leben in unterschiedlichen kulturellen Welten, vom Schützenverein bis zur Gay Pride – und das ist gut so. Die Frage ist aber, was eine so diverse Gesellschaft zusammenhält, wie aus der Vielfalt eine politische Gemeinschaft entstehen kann, die sich über alle Unterschiede hinweg gegenseitig verpflichtet fühlt. Ohne ein solches „wir“ gibt es auch keine Bereitschaft zu Solidarität. Die demokratische Republik braucht eine Verständigung auf gemeinsame Werte, die von der überwiegenden Mehrheit geteilt werden. Dazu gehören die Menschenwürde als Ausgangspunkt unserer Verfassung, der Katalog der Grundrechte, das Konzept der sozialen Demokratie und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Das macht unser normatives Selbstverständnis aus.
Welche Rolle spielt Geschichte für dieses Selbstverständnis?
In ein Land einzuwandern heißt immer auch, in seine Geschichte einzuwandern. Wer nichts über den Nationalsozialismus und die Shoa weiß, nichts über 1989 und die europäische Idee, der bleibt ein Stück fremd, auch wenn er hier lebt. Normative Orientierungen vermitteln sich über politische Bildung, Filme, Theater, Literatur und öffentliche Debatten. Das heißt auch, dass sie der Veränderung unterliegen. Die großen Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit werden von jeder Generation neu interpretiert. Gemeinsame Werte bedeuten nicht politischen Einheitsbrei – sie sind der Bezugsrahmen für politischen Streit.
Reicht der Respekt vor dem Grundgesetz und die Einhaltung der Gesetze nicht aus?
Gesetze sind die Regeln für unser Zusammenleben, die gemeinsame Hausordnung - die muss respektiert werden, egal welcher Religion oder politischen Richtung man anhängt. Aber der Sinn dieser Regeln – zum Beispiel der Religionsfreiheit oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau – erschließt sich erst durch die zugrunde liegende Wertorientierung. Das Grundgesetz reiht sich in die demokratische Tradition des Westens ein. In seiner spezifischen Ausprägung ist es aber eine Antwort auf den Nationalsozialismus und die totalitäre Versuchung. Das gilt auch für das deutsche Asylrecht, das auf der Erfahrung von Vertreibung und Verfolgung in den 30er und 40er Jahren gründet.
Kann es in den EU-Ländern krass unterschiedliche Leitbilder geben?
Faktisch gibt es große Unterschiede der politischen Kultur innerhalb der EU. Wir kommen aus unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Traditionen.
Gleichzeitig kann eine politische Union nur funktionieren, wenn sie sich auf gemeinsame Grundwerte verständigt. Die sind in der Charta der Europäischen Grundrechte kodifiziert. Sie lassen sich aber nicht per Verordnung der EU-Kommission durchsetzen, auch wenn ich dafür bin, grobe Verstöße mit Sanktionen zu ahnden. Die Antwort auf dieses Dilemma liegt in einem intensiveren europäischen Dialog, einem verstärkten kulturellen Austausch und der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit: europäische Parteien, Medien, NGO-Netzwerke etc.
Ist es nicht fatal, dass die Leitbild-Debatte erst wieder stärker öffentlich wurde mit den Flüchtlingen, die nach Europa, vor allem nach Deutschland kommen?
Wir haben unabhängig von der Masseneinwanderung ein Problem mit antidemokratischen Haltungen. Mit PEGIDA und AfD haben sie ihren politischen Ausdruck gefunden. Thomas Assheuer nannte das in der ZEIT eine Konterrevolution gegen die liberale Moderne - das massenhafte Auftreten von Wutbürgern, denen die ganze Richtung nicht passt und die den "Systemparteien" den Stinkefinger zeigen. Das ist kein speziell deutsches Phänomen. Wir vollziehen nach, was überall in Europa stattfindet und inzwischen auch in den USA zu beobachten ist: die Revolte derjenigen, die sich von der Politik missachtet fühlen und mit den massiven Veränderungen nicht Schritt halten. Am stärksten ist diese Wut bei den Globalisierungsverlierern und der abstiegsbedrohten weißen Mittelschicht.
Was ist eigentlich bedrohlicher für ein säkulares, ziviles Europa – die Flüchtlinge aus aller Welt oder das System Putin inkl. seiner Versteher/innen seitens der Linken?
Nicht die Flüchtlinge, sondern der Putinismus ist heute die zentrale Herausforderung für die freiheitliche Demokratie. Der Kreml ist das Hauptquartier einer antiliberalen Internationale, das neue Rom für Rechtspopulisten aller Couleur. Ihr gemeinsamer Nenner ist ihr Affekt gegen alles, was sie mit der westlichen Moderne verbinden: multiethnische Gesellschaften, Auflösung der patriarchalen Familie, Homoehe, Niedergang des Christentums, Siegeszug des Individualismus, Globalisierung und die Idee universeller demokratischer Werte, die sie für eine raffinierte Tarnung amerikanischer Vormachtansprüche halten. Dagegen setzen sie autoritäre Führung, einen starken Staat als Schutzmacht der kleinen Leute, die Einheit von Kultur, Volk und Raum, die Beschwörung nationaler Identität und den Vorrang der Gemeinschaft. Es wird Zeit aufzuwachen und zu kapieren, dass wir schon mitten in einer großen Auseinandersetzung um die Zukunft Europas stehen, in der wir unsere Werte und unsere Lebensform offensiv vertreten müssen. Das Verrückte ist, dass auch Teile der Linken zu Schönrednern des Putinismus geworden sind, ob es um den Krieg gegen die Ukraine geht oder um das russische Bündnis mit dem Schlächter Assad. Das kann man wohl nur mit pathologischen Antiamerikanismus erklären – und mit der bekannten Anfälligkeit für autoritäre Modelle der Volksbeglückung.
Wie ist die wachsende Stärke rechter und rechtspopulistischer Formationen zu beantworten?
Wir sollten uns wieder auf das Konzept der wehrhaften Demokratie besinnen – der Begriff war ursprünglich eine Konsequenz aus den Erfahrungen der Weimarer Republik. Dabei geht es in erster Linie um die ideelle Auseinandersetzung mit antidemokratischen Bewegungen. Ein zweiter Punkt betrifft die Bindungsfähigkeit demokratischer Politik. In stürmischen Zeiten geht es vor allem um Vertrauen. Das ist das Kapital von Angela Merkel. Die meisten Leute wissen, dass die Dinge nicht bleiben werden, wie sie sind. Die Kunst besteht darin, Sicherheit im Wandel zu vermitteln. Drittens spielt die soziale Frage eine zentrale Rolle. Es geht um Zukunftsperspektiven für die junge Generation und um eine Erneuerung des Sozialvertrags, die mit dem demographischen Wandel und der digitalen Revolution Schritt hält. Nicht zuletzt geht es um die Rückgewinnung ökonomischer Dynamik. Wenn die chronische Stagnation in weiten Teilen Europas nicht überwunden wird, werden sich Verteilungskämpfe und nationaler Egoismus noch verschärfen.
Hat die Linke, haben die Ökolibertären nicht eine Menge dazu beigetragen, Identitätspolitik populär zu machen?
Das ist was dran: Wir lagen zwar richtig mit der Idee kultureller, religiöser und ethnischer Vielfalt als der neuen Normalität, aber wir haben uns nicht genügend mit der Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinandergesetzt, also mit der Frage nach den für alle verbindlichen Normen und Regeln. Teile der Linken haben selbst eine identitäre Politik betrieben, bei der es nicht um individuelle Gleichheit und Freiheit ging, sondern um Gruppenidentitäten und Gruppenrechte. Für dieses Denken ist entscheidend nicht das, was jemand sagt und tut, sondern zu welcher soziokulturellen Gruppe er oder sie gehört: Frauen, Schwule, Lesben, Transgender, Weiß oder Schwarz, Migranten oder Biodeutsche. Das ist in gewissem Grad verständlich, wenn es um die Gleichberechtigung diskriminierter Gruppen geht, ist aber fatal, wenn daraus ein Konzept gemacht wird, das die Gesellschaft immer stärker in partikulare Identitäten und Interessen zerlegt. Dagegen brauchen wir wieder einen emphatischen Begriff der demokratischen Republik als politisches Gemeinwesen freier und gleicher Bürger, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion.
Das Gespräch führte Jan Feddersen am Rande des taz.lab 2016 in Berlin.