Im November 2016 wird die neue Schutzhülle über den Unglücksreaktor in Tschernobyl geschoben. Es ist nicht die einzige Baustelle, wenn es um die Nuklearsicherheit der Ukraine geht. Europäische Finanzhilfen müssen endlich an ein umfassendes Sicherheitskonzept gebunden werden.
Die neue Schutzhülle („New Safe Confinement“) für den Unglücksreaktor von Tschernobyl besteht aus einer großen Bogenhalle, die in der Nähe des havarierten 4. Reaktorblocks konstruiert wurde und nun über diesen geschoben wird. Sie soll dessen Überreste vor der Witterung schützen und ermöglicht das Abtragen des alten maroden Sarkophags. Läuft alles nach Plan, wird auch der größte Teil der nach der Reaktorkatastrophe auf dem Gebiet des Kraftwerkes entstandenen radioaktiven Rückstände, des Brennstoffes und weiterer radioaktiver Materialien geborgen werden.
Von den Gesamtkosten in Höhe von 2,1 Mrd. Euro entfallen allein 1,5 Mrd. auf die Schutzhülle. Zu Beginn der Planungen im Jahr 1997 war noch von einer Fertigstellung bis 2012 bei Gesamtkosten von 768 Mill. Dollar die Rede. Die Maßnahmen garantieren aber keine Sicherheit am Katastrophenort. Sie senken lediglich für eine bestimmte Zeit die Wahrscheinlichkeit, dass radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen – unter der Voraussetzung beständiger Wartung, für die bislang jedoch die Finanzierung nicht gesichert ist.
Trotz der Dimension des Projektes und der großen Bedeutung für die Umwelt hat der Beginn des Verschiebens der Bogenhalle mehr Aufmerksamkeit in den ausländischen Medien als in der Ukraine selbst hervorgerufen. Das Land ist mit der sozialen und wirtschaftlichen Krise beschäftigt sind, ausgelöst durch den bewaffneten Konflikt mit Russland.
Doch Tschernobyl ist nicht mehr der alleinige Verursacher von Kopfschmerzen in der Frage der Nuklearsicherheit in der ukrainischen Atomwirtschaft. Energoatom, der Betreiber aller ukrainischen Atomkraftwerke, feiert sich als Produzent von mehr als der Hälfte des in der Ukraine produzierten Stroms – und genau dies wird zum Problem.
600 Millionen Euro für den Betreiber ukrainischer Atomkraftwerke
Energoatom verkauft den Strom an der Börse zu einem Preis, der nur die laufenden Kosten und den Kauf von Brennstoff abdeckt. Weitere resultierende Kosten wie die Rückstellungen für die spätere Stilllegung von Reaktoren und die Entsorgung des Atommülls sind im künstlich herabgesenkten Preis nicht berücksichtigt. Die Unterfinanzierung der Nebenkosten stellt eine Gefahr für die Ukraine und teilweise auch für die Nachbarländer dar.
Im Jahr 2014 haben die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und Euratom aus Mitteln europäischer Steuerzahler/innen jeweils 300 Mio. Euro Kredit für ein Programm zur Steigerung der Sicherheit der ukrainischen Atomkraftwerke bewilligt. Weitere 600 Mio. Euro soll Energoatom selbst beisteuern. Das Programm sollte eigentlich 2017 abgeschlossen werden, aber schon jetzt ist klar, dass dies durch die Versäumnisse von Energoatom nicht möglich sein wird.
Ob die umgesetzten Maßnahmen aber zu mehr Sicherheit beitragen ist fraglich. Energoatom möchte die Restlaufzeit von zwölf Reaktoren verlängern. Für die fünf ältesten ist diese Entscheidung bereits gefallen. Über die Laufzeitverlängerungen entscheidet die staatliche Atomaufsichtsbehörde. Die formal unabhängige Behörde hat jedoch wiederholt nur eine unvollständige und nicht fristgerechte Ausführung der Vorarbeiten für die Laufzeitverlängerung festgestellt. Firmenvetreter von Energoatom klagten im Zusammenhang mit den geringen Strompreisen über fehlende Mittel für die geforderten Maßnahmen.
Im Fall der Reaktoren 1 und 2 des Kraftwerks von Rivne wurden die Verlängerungen ohne die nach der so genannten „Espoo-Konvention“ eigentlich obligatorische Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen genehmigt. Folgewirkungen und mögliche Risiken müssten demnach stärker untersucht und Konsultationen mit Nachbarländern angestrengt werden.
Durch ihre Teilfinanzierung der Maßnahmen zur „Erhöhung der Sicherheit“ wirkt die EBWE somit de facto an einer Verletzung der Espoo-Konvention mit. Keine Bedingung für die internationale Unterstützung ist bislang auch die Frage nach den Rückstellungen für die spätere Außerbetriebstellung der Reaktoren. Diese Reserve sollte schrittweise aus den Einkünften von Energoatom aufgebaut werden, was jedoch nicht konsequent geschieht.
Was passiert, wenn aus dem Donbass eine Rakete auf das Kraftwerk abgefeuert wird?
Zudem werden Inflationskosten nicht berücksichtigt. Genaue Angaben über die Höhe der Reserve werden zwar nicht veröffentlicht, aus Meldungen in der Fachpresse wird aber ersichtlich, dass die Zahlungen des Netzbetreibers um ein Vielfaches geringer als das minimal Notwendige ausfallen. An dieser Stelle muss die Regulierungsbehörde handeln. Denn wenn sie die Restlaufzeit eines Reaktorblocks nicht verlängert, so muss dieser abgeschaltet werden. Und niemand weiß, was mit den alten Reaktoren passieren soll, wenn sie keine Erlöse mehr erzielen und es keinen Rückbauplan gibt.
Eine große Gefahr für die nukleare Sicherheit lauert aber noch woanders: In Saporischja steht nur 250 km vom Gebiet heißer militärischer Auseinandersetzungen entfernt am Ufer des Dnipro das größte Atomkraftwerk Europas, auf dessen Gelände sich ein Trockenlager für verbrauchten Brennstoff befindet. Zur Zeit liegen dort unter freiem Himmel 137 Container mit einem Gewicht von 144 Tonnen. Sie enthalten verbrauchte Kernbrennstäbe — hochradioaktives Material, das für den Bau einer sog. „schmutzigen Bombe“ verwendet werden kann.
Nicht auszumalen was passierte, wenn aus dem Donbass eine Rakete auf das Kraftwerk Saporischja oder das Zwischenlager abgefeuert würde. Militärisch wäre dies einfacher, als ein Passagierflugzeug in 10 km Höhe zu treffen und in den Beständen der russischen Armee befinden sich Raketensysteme mit ausreichender Treffsicherheit. Die Regierung erklärt, dass das Kraftwerk militärisch ausreichend gesichert sei, aber das Risiko eines Angriffs auf dieses Kraftwerk kann nicht ausgeschlossen werden.
Die Zwischenlagerung von verbrauchten Brennstoffen in der Ukraine wurde nötig nachdem Russland das Material nicht mehr zur Wiederaufbereitung zurückgenommen hatte. Gleichzeitig hindert die politische Krise die ukrainische Regierung aber nicht daran, neue Brennstäbe in eben diesem Russland zu kaufen. Der Ukraine fehlt ein Konzept für eine Endlagerung des Atommülls. Sowohl das temporäre Lager in Saporischschja, als auch ein geplantes Zwischenlager für die anderen Kraftwerke stellen nur eine Verlagerung des Problems dar. Dieses muss von den kommenden Generationen gelöst werden.
Wie auch in vielen anderen Bereichen sollte die Ukraine dem Beispiel entwickelter Länder folgen und in der Atompolitik eine längerfristige Planung anstreben. Dafür muss eine breite Diskussion geführt und Preise für Atomstrom so festgesetzt werden, dass alle Kosten integriert werden. Der Staat muss darüber hinaus eine vollständige und rechtzeitige Umsetzung aller Sicherheitsmaßnahmen in den Kraftwerken sicherstellen und auch die Möglichkeit eines bewaffneten Angriffs auf Atomobjekte berücksichtigen. Erst nach Erfüllung dieser Bedingungen sollten die europäischen Partner Kredite an Energoatom vergeben. Die EBWE sollte wirtschaftlichen Wandel fördern und mit ihren Krediten nicht die Krise des Sektors verfestigen. Der von Energoatom verfolgte Weg ist nur Flickschusterei und kann zu weiteren Unfällen und Katastrophen führen.
Veranstaltungshinweis: Am 2. und 3. Dezember findet in der Heinrich-Böll-Stiftung die Konferenz "Tschernobyl – Wendepunkt oder Katalysator? Umweltpolitische Praxen, Strukturen, Wahrnehmungen im Wandel (1970er – 1990er Jahre)" statt. Sie wird auch per Livestream übertragen.
Weiterführende Links und Literatur:
- Chernobyl: a site transformed
- Zombie reactors in Ukraine
- V. M. Vasyl‘čenko, O. M. Mas‘ko, O. A. Prutov. Onovlennja koncepciji znjattja z eksplutaciji dijučych atomnych elektrostancij Ukrajiny [Eine Erneuerung der Konzeption zur Stilllegung aktiver Atomkraftwerke in der Ukraine]// Jaderna enerhetyka ta dovkillja [Atomenergie und Umwelt], № 1 (3), 2014