Grünes Stimmgewicht im Bundesrat

Analyse

Durch die zahlreichen Beteiligungen an Landesregierungen haben Bündnis 90/Die Grünen großen Einfluss auf wichtige Gesetzesvorhaben. Ein Pfund, mit dem die Partei auf Bundesebene wuchern kann.

Minister Robert Habeck (Schleswig-Holstein) spricht zum EEG am 8. Juli 2016 im Bundesrat.
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Die Grünen auch beim Gang in die Opposition weiterhin ein relevanter Akteur im Bundesrat

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die Schleswig-Holsteiner haben zwar einen neuen Landtag gewählt, aber die Regierungsbildung dürfte sich noch eine Weile hinziehen. Nachdem sowohl SPD wie CDU eine Große Koalition ausgeschlossen haben, wird es auf eine Jamaika-Koalition oder eine klassische Ampel hinauslaufen. Vor allem die FDP und Bündnis 90/Die Grünen gelten als Wahlgewinner. Beide haben ein zweistelliges Ergebnis erzielt und sind die Königsmacher der nächsten Koalition.

Nur eine Woche nach Schleswig-Holstein wählt Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Die Wählerinnen und Wähler zwischen Bielefeld und Aachen stimmen auch über die Fortsetzung einer grünen Regierungsbeteiligung in Düsseldorf ab. Aktuell regieren die Grünen in elf Ländern mit, führen rund drei Dutzend Ministerien an und stellen in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten. So viel geballte grüne Regierungsverantwortung war noch nie. Aber wie übersetzt sich diese Stärke aus den Ländern in die Bundespolitik?

Grüne Regierungsbeteiligungen auf Landesebene 2016

 
Die schrittweise Rückkehr zur Macht

Dafür lohnt ein Blick zurück in das Jahr 2005. Nach sieben rot-grünen Regierungsjahren war die Partei programmatisch erschöpft; vom Kosovo-Krieg und dem Atomausstieg enttäuschte Anhänger kehrten ihr den Rücken. Opposition im Bundestag und allen Landtagen zugleich war der Ausdruck grüner Machtlosigkeit. Was folgte, war die schrittweise Rückkehr zur Macht über die Länder. Angefangen mit der rot-grünen Koalition in Bremen 2007 über die Testballons Schwarz-Grün (Hamburg) und Jamaika (Saarland) bis hin zur Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik in Baden-Württemberg.

Mitte der 2000er Jahre haben CDU/CSU und FDP den Bundesrat dominiert. Mit Bildung der schwarz-gelben Koalition im Bund (2009-2013) verschoben sich die Machtverhältnisse im Bundesrat schrittweise zugunsten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Rot-(Rot-)Grün nutzte die eigene Mehrheit in der Länderkammer, um mit Initiativen zum Mindestlohn, zur Frauenquote, zur Homo-Ehe und zur Abschaffung des Betreuungsgeldes die Bundesregierung unter Zugzwang zu setzen.

Mit der schleichenden Schwindsucht der FDP und der Amtsübernahme der Großen Koalition Ende 2013 zerbröselte die konfrontative Freund-Feind-Stellung der beiden Lager, hier Schwarz-Gelb, dort Rot-Grün. Die Mehrheitsverhältnisse wurden unklarer, die Mehrheitsbeschaffung komplexer. Und mit jeder weiteren Regierungsbeteiligung in den Ländern stieg auch der Einfluss der Grünen. Im Frühjahr 2017, auf dem vorläufigen Höhepunkt ihrer Macht, regieren die Grünen in elf Landesregierungen mit, die im Bundesrat über 49 Stimmen verfügen. Für eine Mehrheit im Bundesrat (35 Stimmen) braucht die Große Koalition (16 Stimmen) also die Zustimmung von mindestens fünf Ländern, in denen die Grünen mitregieren. Man möchte meinen, dass diese Konstellation eine für die Grünen höchst komfortable Ausgangslage bietet, weil sie eine starke Blockademacht zu haben scheinen. Wie schwer es ist, diese allerdings auch auszuspielen, offenbaren zwei Beispiele.

Zeitstrahl grüne Regierungsbeteiligungen

 
Beispiel Flüchtlingspolitik

Gesetze, die besonders die Interessen der Länder berühren, bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. Zustimmungsgesetze sind etwa solche, die die Verfassung ändern, Finanzen und Steuern regeln oder in die Verwaltungshoheit der Länder eingreifen. Verfehlt er eine Mehrheit von mindestens 35-Ja-Stimmen im Bundesrat, ist der Gesetzentwurf gescheitert. Das Grundgesetz schreibt vor, dass die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können. Alle einem Land zustehenden Stimmen müssen gleich lauten, also „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“. Nur wenn sich alle Koalitionspartner einer Landesregierung dafür aussprechen, kann das Land im Bundesrat mit „Ja“ stimmen. Ansonsten, so die gängige Vereinbarung, enthält sich das Land.

Die Änderung des Asylrechts ist beispielsweise zustimmungspflichtig. Im Herbst 2014 verfügte die Große Koalition noch über 31 Stimmen im Bundesrat – 4 Stimmen unter der Mehrheit. Für eine Mehrheit reichte es der Großen Koalition, die weitere Zustimmung zumindest eines großen Landes (mit mindestens 4 Stimmen) zu gewinnen. Schon früh zeichnete sich ab, dass die Grünen die Pläne zur Verschärfung des Asylrechts auf breiter Front ablehnten. Als kleiner Koalitionspartner pochten sie in der jeweiligen Koalition darauf, dass sich ihre Landesregierung bei der Abstimmung enthalten solle. Einzig das grün-rote Baden-Württemberg schlug sich am Ende auf die Seite der Großen Koalition. Winfried Kretschmann begründete die umstrittene Zustimmung mit den ausgehandelten praktischen Erleichterungen für Asylsuchende, die er der Bundesregierung abgetrotzt hätte. Damit stellte er sachpolitische über parteitaktische Erwägungen und verhinderte ein grünes Veto in der Flüchtlingspolitik.

Beispiel PKW-Maut

Im Unterschied zum Asylgesetz ist die Einführung der PKW-Maut kein zustimmungspflichtiges Gesetz. Bei Einspruchsgesetzen muss der Bundesrat nicht zustimmen. Er kann aber den Vermittlungsausschuss anrufen, um Änderungen auszuhandeln. Zum Abschluss des Verfahrens kann er das Gesetz billigen oder Einspruch einlegen, den der Bundestag jedoch überstimmen kann. Letztlich kann der Bundesrat also Einspruchsgesetze nicht verhindern, wohl aber verzögern. Geschieht dies zu Ende einer Legislaturperiode, ist das Drohpotenzial enorm. Denn Gesetzentwürfe, die bis zur Wahl nicht beschlossen werden, verfallen.

Genau diese Drohkulisse hat sich im März 2017 beim Gesetz zur Einführung der PKW-Maut aufgebaut. Trotz größter Bedenken hatte die SPD zuvor im Bundestag aus Koalitionsräson für den Gesetzentwurf von Verkehrsminister Dobrindt (CSU) gestimmt. Etliche Landesregierungen standen der Maut skeptisch gegenüber, darunter auch CDU-regierte Länder wie das Saarland. Eine Mehrheit von 35-Ja-Stimmen hätte den Vermittlungsausschuss anrufen und damit die ungeliebte Maut auf die lange Bank schieben können. Auch die Grünen lehnten die Maut-Pläne ab und plädierten in den Ländern auf Anrufung des Vermittlungsausschusses. Doch dafür hätten ihre jeweiligen Koalitionspartner ebenfalls mit „Ja“ stimmen müssen – schwer vorstellbar in den Fällen, wo die Grünen mit der CDU regieren (Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen-Anhalt). Am Ende enthielt sich auch das rot-rot-grüne Thüringen in der Abstimmung. Ministerpräsident Ramelow begründete dies mit der Zusage des Bundesverkehrsministers, im Gegenzug eine Bahnstrecke in Thüringen schneller zu elektrifizieren. Dass obendrein die bayrische Landesregierung drohte, die Verhandlungen um den Länderfinanzausgleich von der Zustimmung zur PKW-Maut abhängig zu machen, dürfte Thüringens Entscheidung erleichtert haben.

Grüne Veto-Macht mit Grenzen

Die Beispiele PKW-Maut und sichere Herkunftsländer illustrieren, dass die Grünen im Bundesrat allenfalls über eine Veto-Macht verfügen. Sie können blockieren, aber nicht gestalten. Doch selbst diese Veto-Macht hat Grenzen. So sind die Grünen auf das Wohlwollen ihrer jeweiligen Koalitionspartner angewiesen, um bei Einspruchsgesetzen den Vermittlungsausschuss anzurufen. Bei Zustimmungsgesetzen sind die Grünen zwar in einer strukturell stärkeren Position, weil ohne ihre Zustimmung keine Mehrheit im Bundesrat zustande kommt. Doch diese Stärke können die Grünen nur dann ausspielen, wenn sie eine geschlossene Ablehnungsfront bilden. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung kaum noch zustimmungspflichtige Gesetze an den Bundesrat weiterleitet und so das grüne Drohpotenzial klein hält.

Die Zusammensetzung des Bundesrats

 
Ausblick auf die Bundestagswahl

Die Landtagswahlen Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sind der letzte große Stimmungstest vor der Bundestagswahl im September. Selbst beim Worst-case-Szenario – der Gang in die Opposition – würden die Grünen auch weiterhin ein relevanter Akteur im Bundesrat sein. Auch wenn die Grünen Federn lassen sollten, ist die Vielzahl ihrer Regierungsbeteiligungen in den Ländern ein Pfund, mit dem die Partei auf Bundesebene wuchern kann.

Eine Mehrheit jenseits der Großen Koalition wird es nach Stand der Dinge nur mit den Grünen geben. Dass nach der Bundestagswahl nicht nur arithmetische Mehrheit und programmatische Nähe über die Regierungsbildung entscheiden, sondern auch die Stimmenverhältnisse im Bundesrat, spielt den Grünen in die Hände. Es liegt an ihnen selbst, ob sie aus dieser Einsicht Selbstbewusstsein ziehen und mit breiter Brust in den Wahlkampfendspurt gehen.