Unter dem Schlagwort „Politik für alle!“ diskutierten die Mitglieder und Freund/innen der Grünen Akademie bei der Sommerakademie 2017 über Kosmopolitismus und Identitätspolitik. Hier eine Zusammenfassung.
Kurz nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 veröffentlichte der Ideengeschichtler Mark Lilla einen Aufsatz in der New York Times, in dem er die linksliberale Identitätspolitik für den Wahlsieg Donald Trumps verantwortlich machte. Hillary Clintons Präsidentschaftskampagne habe es mit ihrem Fokus auf diskriminierte Gruppen wie Afroamerikaner/innen, Frauen, Migrant/innen und LGBTI-Personen versäumt, andere Wählergruppen in ausreichendem Maß anzusprechen. Mit dieser These stieß Mark Lilla eine Debatte an, die auch in den deutschen Feuilletons geführt wurde und um die Frage kreiste: Wird der Rechtspopulismus befeuert, wenn sich Politik zuerst an diskriminierte Gruppen richtet? Oder muss Politik universalistisch denken, sich stets an alle Bürger/innen richten?
Für grüne Politik ist das Thema aus mehreren Gründen bedeutsam: Erstens hat die grüne Bewegung in Deutschland ihre Ursprünge auch in identitätspolitischen Bewegungen (u.a. Teile der Frauenbewegung); zweitens wird sie bis heute mit einer aktivistischen und intellektuellen Szene verbunden, deren Identitätspolitik kontrovers diskutiert wird; und drittens rekrutieren sich die Mitglieder und Wähler/innen der grünen Partei aus jenem linksliberal-progressivem Milieu, das nicht nur Adressat der Kritik war, sondern aus dem selbst diese Kritik hervorging. Die Grüne Akademie nahm die Fragen auf und diskutierte bei der Sommerakademie 2017 über „Politik für alle! Universalismus in Zeiten neuer Identitätspolitik“. Der Ausgangspunkt für die Debatte um eine gruppenbezogene Politik sowie Politik für alle, war die Dichotomie von Kosmopolitismus und Kommunitarismus.
Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus
Am Anfang der Tagung stand ein Vortrag des Politikwissenschaftlers Michael Zürn. Sein Ausgangspunkt waren Forschungsergebnisse des Projekts „Politische Soziologie des Kosmopolitismus und Kommunitarismus“ am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Im Rahmen der Sommerakademie stellte er Ergebnisse der Studie sowie einige seiner Schlussfolgerungen zur Diskussion.
Zürn erinnerte daran, wie stark das 20. Jahrhundert vom Konflikt um Kapital und Arbeit geprägt war, und daran, wie sich dies in die politischen Orientierungsbegriffe von Links und Rechts übertrug. Nahezu alle politischen Fragen wurden entlang dieser Konfliktlinie eingeordnet: z.B. mehr oder weniger Markt, mehr oder weniger Staat, kostenlose Bildung oder Schulgeld. Jedoch verlor dieser Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen agonalen Charakter, die Fronten verwischten, technologische Lösungen traten in den Vordergrund, Wahlen – so meinten viele - entschieden nicht mehr über fundamentale, ideologische Differenzen. In der Bundesrepublik etwa war mit dem Godesberger Programm der SPD von 1959 der Weg für große Koalitionen zwischen CDU/CSU und SPD frei geworden.
Der Klassenkonflikt hatte damit allmählich an Schärfe verloren. Spätestens seit 2016 markierten der Brexit, die Wahl Donald Trumps und die Erfolge der Rechtspopulisten in Europa aber eine neue Konfliktlinie: Zürn folgert daraus, heute stünden einander vor allem Kosmopolitismus und Kommunitarismus gegenüber. Die neue Konfliktlinie trete umso deutlicher zutage, je stärker eine Region von der Globalisierung betroffen ist. Es ging Zürn keineswegs allein um diesen Gegensatz, sondern vielmehr um eine soziologische Beschreibung der politischen Lager, die sich in diesem Antagonismus herausbilden.
Auf der Seite des Kosmopolitismus treffen sich gut ausgebildete Eliten, Globalisierungsgewinner, Weltbürger. Sie sprechen sich für offene Grenzen aus und die Rechte von Minderheiten, treten für die Rechte des Individuums ein, befürworten postnationale Räume wie die Europäische Union. Die Anhängerschaft der gegenwärtig dominanten Spielarten des Kommunitarismus dagegen will den souveränen Nationalstaat erhalten und tritt für die Normen der Mehrheitskultur – Sprache, Religion, Lebensweise – ein, die vor äußeren Einflüssen geschützt werden sollen. In der „schmutzigen Version des Kommunitarismus“ – wie Zürn den Rechtspopulismus nennt – sollen Grenzen eher undurchlässig sein für Güter, Menschen und Ideen. Eine erhebliche Zahl von Globalisierungsverlierern in westlichen Gesellschaften teilen solche kommunitaristischen Positionen.
Die Schwächen des Kosmopolitismus
Obgleich Zürn den Kosmopolitismus zwar grundsätzlich als eine normativ wünschenswerte Haltung ansieht, attestiert er ihm drei Schwachpunkte: Ein „nicht majoritäres, elitäres Demokratieverständnis“ sei die politische Schwäche des Kosmopolitismus; kulturelle Arroganz und ein Hang zur Distinktion stellten die kulturelle Schwäche dar. Zwar gibt es eine Affinität zur kulturellen Vielfalt, die zum Beispiel indigene Kulturen umfasst, aber keineswegs das „Musikantenstadl“. In der globalen Wirtschaftsentwicklung steckt schließlich eine ökonomische Schwäche des Kosmopolitismus: der Gewinner der Globalisierung, so Zürn, sei der Weltmittelstand in China und anderen autoritären Systemen. Die große Verliererin sei die Mittelschicht in den Demokratien des Westens, deren Einkommen während der letzten zwei Jahrzehnte stagnierten. Deshalb stellten viele Menschen den Zusammenhang von demokratischer Ordnung und wirtschaftlicher Prosperität grundsätzlich infrage.
Kosmopolitische Institutionen
Tine Stein, Professorin für Politikwissenschaft und politische Theorie in Kiel, trug verschiedene Spielarten des Kosmopolitismus in der politischen Philosophie vor. Stein beschrieb den Kosmopolitismus als eine Denkströmung, die von Verpflichtungen aller Menschen untereinander ausgeht, über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Die moralphilosophische Konsequenz dieses Gedankens ist eine Verantwortung für die Befriedigung der Grundbedürfnisse von Menschen auf der ganzen Welt. Eine Konsequenz im Kosmopolitismus ziele auf die politische Ordnung eines Weltstaates. In den bisweilen utopischen Entwürfen liege jedoch auch der größte Schwachpunkt der kosmopolitischen Weltsicht, nämlich in einer „Geringschätzung von Grenzen“ und den Leistungen wie demokratische Selbstbestimmung und Wohlfahrt, die innerhalb eines Staates erbracht werden können.
Die Forderung nach globaler Umverteilung des Reichtums bringe nämlich zwei Probleme mit sich: zum einen fehle gegenwärtig eine Antwort auf die Frage, wie die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können, um allen Menschen ein Leben nach westlichen Standards zu ermöglichen; zum anderen führe dies zu Konflikten in den westlichen Gesellschaften, in denen Rechtpopulisten einen Abwehrkampf heraufbeschwören und dadurch gestärkt werden. Wer also Grenzen schlicht mit Rassismus gleichsetze, so Stein, könne zwar moralisch auftrumpfen, aber nicht mit politischen Lösungen für die skizzierten Probleme aufwarten. Stattdessen müssten Staatsgrenzen als Bedingung von Staatlichkeit gesichert werden. Die Funktion von Grenzen bestehe darin, die staatliche Souveränität nach innen wie nach außen zu markieren.
Die transnationale Verantwortung von Politik liege dann vor allem in der globalen Durchsetzung der Menschenrechte, die als „gemeinsame Sprache der Menschheit nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gedeutet werden könnten. Falls die Grünen an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein sollten, wäre es ihre Aufgabe, darauf zu drängen, neue internationale Institutionen zu schaffen – etwa auf Ebene der UN –, damit alle Menschen diese Rechte in Anspruch nehmen können.
Das Plenum diskutierte anschließend vor allem drei wichtige Aspekte. Erstens die Frage, ob der Gegensatz zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus tatsächlich eine ähnliche Orientierung wie der Links-Rechts-Gegensatz bieten kann. Zweitens das Problem, wie in Demokratien alle an einer Entscheidung mitwirken, die von ihr betroffen sind. Dieser Anspruch lässt sich unter den Bedingungen der Globalisierung kaum noch einlösen. Drittens war strittig, inwieweit die politischen Lager bisher entlang der neuen Konfliktlinie, die sich quer durch alle Parteien zieht (mit Ausnahme der FDP), zu verorten sind. Gegenwärtig scheint es kein genuin kosmopolitisches Lager zu geben.
Linke und rechte Identitätspolitik
In den westlichen Gesellschaften wurde Linksliberalismus in den letzten Jahrzehnten auch mit Programmen der sozialen Deregulierung verbunden. Besonders deutlich war dieser Trend bei den US-amerikanischen liberals ausgeprägt: Hillary Clintons Präsidentschafts-Kampagne wird oft als Beispiel für das Bündnis von Wallstreet und Minoritätenpolitik aufgerufen. Im Zuge dieser Politik entstand zwar auf der einen Seite mehr Gleichheit, etwa in Fragen der sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft, die ökonomische Ungleichheit nahm jedoch auf der anderen Seite zu.
Trotzdem, konstatierte der Hamburger Philosoph und Senator a.D. Willfried Maier, darf die Antwort kein Rückfall in den Klassenkampf sein. Die kulturellen Konfliktlinien ließen sich nicht einfach in materielle Verteilungsfragen zurückübersetzen: Schließlich wählten nicht nur Arbeiter und Abgehängte rechtspopulistisch. Vielmehr sei das zentrale politische Konfliktfeld ein kulturelles: Die AfD zum Bespiel greife vor allem die Sprachregeln der politischen Korrektheit an. Aus Maiers Sicht droht dem linksliberalen Lager hier eine Falle. Wenn sich die identitätspolitische Linke selbst zu einem Kulturessentialismus verführen lässt, als Reaktion auf die politische Rechte, gerät sie in eine Sackgasse: Das Kopftuch im Gerichtssaal oder der Ganzkörperschleier dürften nicht als Modeaccessoires missverstanden werden, geschweige denn als Ausdruck eines lebendigen und bunten Multikulturalismus jeder Kritik entzogen werden.
Als Antwort auf die Identitätspolitik von rechts und links schlägt Willfried Maier vor, eine neue Kommunalität zu schaffen, die im Zeichen der Beziehungsgleichheit stehen soll. Nicht die gleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen sei das entscheidende, sondern die Erfahrung von Reziprozität: Die Beziehungen der Bürger/innen eines Gemeinwesens sollten sich durch Gegenseitigkeit auszeichnen, nicht durch Abhängigkeit. In lokalen Zusammenschlüssen sollten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, Verantwortung für ihre Gemeinde zu übernehmen. Maier schwebt dabei jedoch eine Neuauflage der liberalen Demokratie vor, die sich mehr an John Stuart Mill als an Jacques Rousseau orientiere.
Zwei Stränge des Poststrukturalismus
Thomas Biebricher, gegenwärtig Vertretungsprofessor für Politische Theorie und Philosophie in Frankfurt am Main, fragte im seinem Impulsvortrag nach der Rezeption des Poststrukturalismus. Biebricher erinnerte daran, dass die feministische Bewegung dem Denken Michel Foucaults gegenüber zunächst reserviert gegenüberstand. Indem Foucault die Stabilität von Subjekten infrage stellte, Identitäten als konstruiert und fluide begriff, vertrug sich dieses Denken nicht mit den Postulaten der identitätspolitischen Frauenbewegung, weil Identitäten überhaupt zur Disposition gestellt wurden: z.B. die Frau als Subjekt und ihre authentischen Erfahrungen. Darüber hinaus war es eine Leistung des Poststrukturalismus, die Wahrnehmung für Intersektionalität zu schärfen, also die Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen, die eine Person betreffen. Biebricher konstatierte, dass von diesen beiden Strängen des poststrukturalistischen Denkens in der Bewegungslinken nur der intersektionale überlebt hat. Die Identitäten verästelten sich immer weiter, die Diskriminierungserfahrungen wurden immer individueller – das Bewusstsein der Konstruiertheit von Identitäten sei hingegen zugunsten eines Kampfes um Identitäten fast vollständig verloren gegangen.
Für Biebricher sind rechte und linke Identitätspolitiken eigentlich apolitisch, weil sie Identitäten dem politischen Diskurs entziehen und für sakrosankt erklären. Beide versuchen sich bzw. ihre Identität gegen die politische Auseinandersetzung zu immunisieren. So wie rechte Identitätspolitik Zugehörigkeit und Ausschluss naturalisiert und sich der Diskussion entzieht, beruft sich die Linke auf authentische Diskriminierungserfahrungen, die von all denen nicht hinterfragt werden können, die sie nicht gemacht haben. „Identitäten sind nicht der Anfang, sondern das Ende von Politik“ schließt Thomas Biebricher. Mit Laclau und Mouffe ließe sich stattdessen vorschlagen: Wir müssen neue politische Identitäten produzieren, nicht aber von Identitäten ausgehend Politik machen. An dieser Stelle können auch gemeinsame Praktiken des Widerstands gegen Diskriminierung eine Rolle spielen.
Eine Grüne Erzählung öffentlicher Institutionen
Zum Abschluss der Sommerakademie stellte Peter Siller einige Überlegungen zur Diskussion, vor allem jene, welche Ableitungen sich die für grüne Politik aus dem Streit um Identitätspolitik ergeben. Zunächst sei die Frage zu klären, ob man Politik als einen Kampf von Interessen verstehen wolle oder als Streit um unterschiedliche Interpretationen des Allgemeinen. Er plädiert für die zweite Sichtweise, bei der Identität nur ins Spiel kommt, um soziale Barrieren zu analysieren. Das Problem der Identitätspolitik bestehe darin, fortwährende neue Merkmale zu addieren und so immer kleinere Gruppen herzustellen, für die Identitätspolitik betrieben werden soll. Siller schlägt stattdessen vor, eine öffentliche Infrastruktur zu schaffen, die dreierlei leistet: Erstens produziert sie öffentliche Güter für alle und garantiert so die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Gesellschaft. Zweitens ermöglicht eine solche Infrastruktur sozialen Aufstieg und verwirklicht Chancengerechtigkeit – etwa durch eine hervorragende Qualität von Gemeinschaftsschulen. Und drittens sind öffentliche Institutionen wie Schwimmbäder, Bibliotheken, Schulen und Museen Orte, an denen sich die Gesellschaft begegnet. Dabei sei eine öffentliche Infrastruktur nicht zwingend eine staatliche; auch Caritas, AWO oder die Eckkneipe zählten dazu.
Die Grünen, so Sillers Plädoyer, würden enorm davon profitieren, wenn sie die ausgetretenen Pfade der Sozialpolitik verließen und für eine Institutionen- und Infrastrukturpolitik eintreten würden, die allen zugutekommt.