Aus der Erbitterung über die herrschende politische Klasse und die gefühlte Besatzung durch Militärinterventionen erwächst in Mali eine gestärkte Opposition. Die ehemalige Außenministerin Sy Kadiatou Sow ruft die Jugend auf, sich zu erheben.
Madame Sy, Sie sind eine etablierte langjährige Politikerin – und doch sitzen Sie nun in einem Oppositionsbündnis mit radikalen Jugendlichen, die vom politischen System Malis völlig frustriert sind. Was hat Sie an deren Seite gebracht?
Zu der Plattform „Antè A Banna“, die ich mitgegründet habe und deren Präsidentin ich bis vor kurzem war, zählen mehr als hundert Organisationen. Uns eint die Gegnerschaft zur miserablen Regierungsführung unter dem jetzigen Präsidenten. Und ja, es stimmt: Der größte Teil der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen in diesem Bündnis, das ist die Generation unserer Kinder. Die meisten von ihnen haben den März 1991, unseren Kampf für Demokratie, gar nicht erlebt. Aber sie müssen jetzt die Verantwortung übernehmen, sie müssen sich erheben, und ich möchte ihnen dabei zur Seite stehen. Die Jugend muss sich bewusst werden, dass sie, wenn sie es wirklich wollen, der Politik ihren Willen aufzwingen können, sowohl den Oppositionsparteien wie der Regierung.
Hören Sie von Ihren jungen Mitstreitern Vorwürfe gegen Ihre Generation, die ja nun für die Fehlentwicklung der Demokratie in Mali verantwortlich ist?
Absolut. Das sagen sie uns. Es ist wahr, dass wir einen großen Teil von Verantwortung tragen. Die Partei Adema, die ich mit gegründet habe, hat sich irgendwann selbst verloren. Die Interessen ihrer Minister gingen vor den Interessen der Partei und des Landes.
Geht es in der Politik immer um die Fleischtöpfe?
Leider war das oft der Fall. In meiner Partei sind ein Dutzend Milliardäre entstanden (Anm. d R.: Ein Milliardär in der malischen Währung Franc CFA entspricht einem Euro-Millionär).
Die Straflosigkeit, die eine wichtige Rolle in der jetzigen Krise spielt, hat sich also schon lange vor den jüngsten Ereignissen eingenistet?
Diese Feststellung ist richtig. Es gab damals Demonstrationen gegen Bereicherung, aber nur wenig juristische Ahndung. Und selbst da, wo es Strafverfolgungen gegeben hat, hat die Öffentlichkeit davon wenig mitbekommen. Auch fürchteten Bürger in solchen Fällen die Revanche von Mächtigen und taten lieber nichts. Heute aber sind die Leute sensibler als vor einigen Jahren. Es gibt jetzt ein verbreitetes Misstrauen gegen den Staat. Und weil man sich von ihm nicht geschützt fühlt, bewaffnet man sich selbst.
Die UN-Mission Minusma ist jetzt seit fünf Jahren in Mali stationiert. Was hat sie erreicht?
Sie hat wenig erreicht. Mali befindet sich heute in einer Zwangslage: Die malische Armee ist in den Konfliktgebieten in Nordmali nicht präsent; die geplante Entwaffnung, die im Friedensprozess für die bewaffneten Gruppen des Nordens vorgesehen ist, hat noch immer nicht begonnen, und die Minusma pflegt ihren Attentismus. Mali ist heute faktisch geteilt. Ein Teil des Nordens, die Region Kidal, ist zwar theoretisch auf unserem geographischen Territorium, aber ist unzugänglich für den malischen Staat. Und die internationale Gemeinschaft, in Gestalt der Minusma und der französischen „Operation Barkhane“, hat sich damit abgefunden und lässt die Zeit verstreichen. Die Minusma richtet sich für mindestens zehn Jahre hier ein!
Warum bedrückt Sie diese Vorstellung?
Das ist eine Besatzung, auch wenn sie nicht so genannt werden soll. Die malische Öffentlichkeit, die nationale Meinung ist gegen eine Minusma, die sich auf ewig hier einrichtet. Wir sehen doch, was in anderen Ländern mit den Missionen passiert ist. Der Fall der Republik Kongo beunruhigt uns sehr. Außerdem könnte man das viele Geld, immerhin ein Jahresbudget von einer Milliarde Dollar, nicht anders und besser verwenden, um den malischen Staat zu stärken?
Sie haben aktiv an einer Konferenz zur nationalen Versöhnung mitgewirkt, die unter anderem die Forderung erhoben hat, mit zwei einheimischen Anführern der Djihadisten den Dialog zu versuchen. Teilen Sie diese Forderung?
Ja, ich teile sie. Schauen Sie: Wir haben akzeptiert, mit jenen bewaffneten Rebellengruppen zu verhandeln, die den Staat angegriffen haben und die schwere Verbrechen begangen haben. Warum können wir nicht auch mit den sogenannten Djihadisten reden? Immerhin waren sie mit denen, die heute unsere akzeptierten Partner im Friedensprozess sind, einst verbündet. Die erste Etappe wäre ein Dialog, um zu sehen, ob Verhandlungen möglich wären.
Sie waren immer eine Streiterin für Frauenrechte. Im Westen werden es manche Feministinnen seltsam finden, dass gerade Sie mit den Djihadisten verhandeln wollen.
Wir wollen die Djihadisten doch nicht unterstützen, niemand will das! Und diese Forderung ist natürlich kontrovers, aufgrund der Traumatisierungen, die ein Teil der Bevölkerung durch terroristische Akte erlebt hat. Aber es ist trotz der großen Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft, trotz Minusma und Barkhane nicht gelungen, die Djihadisten zu neutralisieren. Sie bestimmen heute, welche Schulen in Zentralmali geschlossen werden. Den Dialog mit ihnen zu verweigern, ist eine Vogel-Strauß-Politik. Wir sehen ohnmächtig zu, wie sich die Lage in Mali ständig verschlechtert. Wir dürfen den Kopf nicht länger in den Sand stecken.
Warum hat der malische Präsident dennoch die Dialog- Forderung der Nationalkonferenz vom Tisch gewischt?
Wir haben das Verhalten des Präsidenten nicht verstanden. Es handelte sich um eine Empfehlung, die man zumindest ernsthaft beachten muss. Aber sie wurde vom Tisch gewischt nach einer Begegnung des Präsidenten mit den Außenministern Frankreichs und Deutschlands. Mali steht unter Vormundschaft!
Der Vorwurf, Malis nationale Souveränität sei eingeschränkt, wird diesen Tagen häufiger erhoben. Was genau bedeutet er?
Jeder verteidigt hier seine Interessen, Frankreich ebenso wie andere. Auch die Malier müssen endlich ihre Interessen verteidigen. Es ist Zeit daran zu erinnern, dass es keine dauerhafte Lösung der aktuellen Krise geben kann, wenn sie nicht von einer großen Zustimmung der Malier getragen wird. Haben wir doch den Mut, zu debattieren und zu entscheiden, was gut für uns ist, für unser Land und für unsere Bevölkerungen! Wenn wir von einer faktischen Besetzung sprechen, dann sind die europäischen Partner schockiert und finden uns undankbar. Aber wir können nicht noch Jahrzehnte die Minusma auf dem Buckel haben. Das wäre eine Katastrophe für Mali. Die Malier sind sehr frustriert und sie haben Angst.
Kann es angesichts der angespannten Sicherheitslage in Mali im Juli Präsidentschaftswahlen geben, wie eigentlich vorgesehen?
Das ist eine sehr sensible Frage. Ein Teil der Opposition will die Wahlen auf jeden Fall, um den Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita loszuwerden. Wir, die Vereinigungen der Zivilgesellschaft, wollen ihn auch loswerden, aber wir sagen: Die Hälfte oder zwei Drittel der Malier wird nicht wählen können, weil der Staat in ihren Gebieten nicht präsent ist. Wer soll dort die Wahlen organisieren? Wie soll dort ein Wahlkampf stattfinden? Sollen sich die Wahlkämpfer von den bewaffneten Gruppen begleiten lassen?
Wofür plädieren Sie?
Wir müssen einen Plan B haben. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass Wahlen unmöglich sein könnten, während aber das Mandat des gegenwärtigen Präsidenten ausläuft. Die Armee ist bei diesen Überlegungen auch ein wichtiges Element; sie muss einbezogen werden. Es darf nicht wieder einen Coup d’Etat geben. Vielleicht brauchen wir wie im Jahr 2012 nach dem Putsch eine Transition, eine Übergangszeit. Darüber muss eine große Nationalkonferenz souverän entscheiden. Uns bleibt nicht viel Zeit.
Malis nationaler Slogan, der auf jedem staatlichen Dokument steht, lautet: Un peuple, un but, une foi – „ein Volk, ein Ziel, ein Glaube“, wobei der Glaube nicht etwa die Religion meint, sondern im Verständnis der Väter und Mütter der Unabhängigkeit war das eine politische Überzeugung, das Vertrauen in Zukunft und Fortschritt. Was bedeutet dieses Motto heute?
Das Ziel ist so aktuell wie einst: aus Mali ein Land zu machen, auf das die Malier stolz sein können. Der Stolz, zur einer Nation zu gehören, die über Jahrhunderte entstanden ist, eint uns auch heute. Aber andere Länder haben ihre Demokratie während einer langen Zeit entwickelt können; wir hingegen sind nach zwei Jahrzehnten Militärdiktatur unter schwierigsten Bedingungen in die Demokratie eingestiegen. Und ja: Wir sind gefallen und wir versuchen aufzustehen. Ich hoffe, dass die Krise uns hilft, dauerhaft aus der schlechten gouvernance herauszufinden. Das geht nur mit einer großen Mobilisierung der Bürger. Immer mehr begreifen das, und die Entschlossenheit wächst.