Koalitionsvertrag: Kinderarmut wirksam bekämpfen? Fehlanzeige!

Familienpolitische Analyse

Das familienpolitische Kapitel des Koalitionsvertrages von Union und SPD ist weit davon entfernt, ein großer Wurf zu sein. Trotz des prominenten Platzierens des Kapitels an den Anfang des Koalitionsvertrags kann sein Inhalt nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz sinnvoller Einzelmaßnahmen kein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Kinderarmut erkennbar ist.  

Kind im Regen auf der Schaukel
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Arme Familien werden im Regen stehen gelassen

Union und SPD machen hinsichtlich der Familienförderung da weiter, wo sie 2017 aufgehört haben: Sie kippen mit der Gießkanne Geld aus, doch die beschlossenen Maßnahmen machen sehr deutlich, dass die Bekämpfung von Armut keine Priorität der neuen Regierung ist. Denn an den armen Familien gehen die geplanten Freibetrags- und die Kindergelderhöhungen vorbei. Sie müssen die Erhöhungen nach wie vor mit Hartz IV und dem Unterhaltsvorschuss verrechnen, so dass am Ende nichts übrigbleibt. Dass zudem keine automatische Auszahlung des Kinderzuschlages zur gezielten Bekämpfung der Kinderarmut vereinbart wurde, ist ein zentraler Webfehler im Koalitionsvertrag. Die Summe, die im Finanztableau für den Kinderzuschlag eingestellt wurde, ist zu gering und zeigt, dass weiter davon ausgegangen wird, dass er nur von rund 30 Prozent der Anspruchsberechtigten tatsächlich ausgeschöpft wird. Anders als bei den Ergebnissen der Jamaika-Sondierungen kann daher nicht von Schritten hin zu einer Kindergrundsicherung gesprochen werden.

Stattdessen wird wie erwartet wird am Ehegatten-Splitting festgehalten, steht weiterhin der Trauschein und nicht die Kinder im Mittelpunkt der Familienförderung.

Sinnvoll sind die Verbesserungen beim Bildungs- und Teilhabepaket, wie sie auch schon in den Jamaika-Sondierungen vereinbart wurden: die Abschaffung des Eigenanteils für Mittagsverpflegung und für Schülerbeförderung sowie die Aufstockung  des Schulstarterpakets (allerdings ohne Benennung der Höhe).

Kitaausbau und Kitaqualität: Gut gemeint, aber nicht gut gemacht

Die SPD hat ihre Forderung nach einer Beitragsfreiheit in den Kitas zwar im Koalitionsvertrag platziert, Umsetzung und Finanzierung hingegen bleiben völlig offen. Die für den Kita-Bereich im Finanztableau vorgesehenen 3,5 Milliarden Euro bis 2021 reichen schon jetzt weder für den notwendigen Ausbau der Plätze, noch für die versprochenen Qualitätsverbesserungen

Bis 2020 werden 300 000 zusätzliche Plätze benötigt, bis dato sind nur für 100 000 Bundesgelder vorgesehen. Es ist unklar, wie es weiter gehen soll. Zu befürchten ist, dass die Kommunen bei der Erfüllung des Rechtsanspruchs im Regen stehen bleiben.

Zur Umsetzung der JFMK Beschlüsse, die Eckpunkte für ein Kitaqualitätsgesetz formulieren, braucht es vom Bund jährlich um eine Milliarde Euro aufwachsende Mittel, beginnend mit einer Milliarde Euro in 2018 bis fünf Milliarden Euro in 2022. Im Koalitionsvertrag jedoch sind für 2019 0,5 Milliarden, 2020 eine Milliarde und 2021 zwei Milliarden Euro vorgesehen. Alles in allem ist das Finanztableau in jedweder Hinsicht unausgereift, ja eine regelrechte Luftnummer.

Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern: Ausgestaltung des Rechtsanspruchs unklar

Gut ist die Einigung auf den lange überfälligen Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Grundschulkinder, der bis 2025 umgesetzt sein soll. Immerhin 2 Milliarden Euro sind im Finanztableau hierfür vorgesehen. Trotz der positiven Absichtserklärung ist allerdings offen, wie der Rechtsanspruch ausgestaltet werden soll. Bisher ist nur bekannt, dass eine Lösung über das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) angestrebt wird. Wie Länder und Kommunen beteiligt werden soll, ist unklar. Zudem stellt sich die Frage, wie in den nächsten Jahren ausreichend Fachkräfte ausgebildet werden sollen, um einen solchen Rechtsanspruch erfüllen zu können. Hierzu bleibt der Koalitionsvertrag jede Antwort schuldig.  

Zukunftsthema Zeitpolitik? Verschlafen!

Besonders enttäuschend ist die Leerstelle im Bereich der Zeitpolitik. Wenn man sich vor Augen führt, wie die ehemalige Familienministerin Schwesig keine Gelegenheit ausließ, ihr Modell der „Familienarbeitszeit“ zu propagieren, dann erstaunt es sehr, dass sich davon nicht mal kleinste Dosen im Koalitionsvertrag wiederfinden – zumal Manuela Schwesig den Koalitionsvertrag mit verhandelt hat. Familien brauchen mehr Zeit! Und sie brauchen mehr Unterstützung für die von vielen Eltern gewünschte partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. Es wäre wichtig gewesen, hier endlich Butter bei die Fische zu geben. Gute Vorschläge lagen auf dem Tisch – passieren wird leider nichts.

Kinderrechte und Kinderschutz: Umsetzung dringend notwendiger Änderungen

Es ist sehr gut, dass Union und SPD Kinderrechte ins Grundgesetz aufnehmen wollen. Notwendig ist aber eine klare Formulierung, die - wie unlängst im Gutachten des Deutschen Kinderhilfswerks dargelegt - zu einer echten Stärkung von Kindern in allen Rechtsgebieten führt. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Koalitionäre bei dieser Formulierung an der UN-Kinderrechtskonvention orientieren und nicht hinter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück bleiben.

Sinnvoll ist auch, die Stelle des/der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zu verstetigen. Ebenso positiv zu bewerten ist, dass sexualisierte und pädokriminelle Gewalt gegen Kinder im Netz härtere Konsequenzen nach sich ziehen soll und lange bestehende Schutzlücken geschlossen werden sollen. Maßnahmen zur besseren Kooperation zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen im Bereich Kinderschutz sind notwendig, aber leider nicht geplant.

Ein kleiner, aber wirklicher wichtiger Punkt ist, dass die Situation von Kindern psychisch kranker Eltern endlich verbessert und Schnittstellenprobleme beseitigt werden sollen. Nach jahrelanger Blockade ist dies längst überfällig.

Keine inklusive Lösung im SGB-VIII in Sicht

Seit Jahren diskutieren Expert*innen, Fachverbände und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe über die „große bzw. inklusive Lösung“, die Rechte und Ansprüche aller Kinder und Jugendliche, auch derer mit Behinderung, in einem Gesetzbuch bündelt. In der letzten Wahlperiode mündete ein Gesetzgebungsverfahren in einem Sammelsurium unstrittiger und strittiger Punkte - eine schlechte Basis, die wir im Bundestag abgelehnt haben. Nun das soll das Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) auf der Basis des in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes weiterentwickelt werden. Es ist allerdings fraglich, ob die vielen Schnittstellenprobleme, die vor allem mehrfachbehinderten Kindern und ihren Eltern das Leben schwer machen, endlich aufgelöst werden. Denn davon ist im Koalitionsvertrag keine Rede. Auch die Weiterentwicklung des Pflegekinderwesens bleibt ein blinder Fleck.

Stattdessen hat sich die Union mit ihrer Forderung nach Stärkung sozialräumlicher Ansätze bei den Hilfen für Erziehung und einer Sammlung und Bewertung von Missständen in der Jugendhilfe durchgesetzt: Erfahrungen von Beteiligten und Betroffenen mit der Kinder- und Jugendhilfe sowie Familiengerichtsbarkeit sollen gesammelt und systematisch ausgewertet werden. Im Rahmen einer unabhängigen wissenschaftlichen Begleitung sollen sich betroffene Eltern, Pflegeeltern, Kinder und andere vertraulich äußern können. Die Ergebnisse dieser Auswertung sollen Eingang in das Reformvorhaben finden.

Familienrecht: Keine Anerkennung vielfältiger Familienformen

Regenbogenfamilien gibt es offenbar nicht in der Lebensrealität von Union und SPD. Anders lässt sich nicht erklären, dass sie im Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnt werden. Und obwohl einleitend betont wird, dass unterschiedliche Formen des Zusammenlebens respektiert werden, fehlen Maßnahmen für die verbesserte, rechtliche Absicherung außerhalb der klassischen Ehe -  ein schwerer Schlag ins Gesicht der LSBTI-Community, die auch sonst in der ganzen Vereinbarung überhaupt nicht vorkommt.

Die Anpassungen im Abstammungsrecht – die für lesbische Paare mit Kindern essentiell sind – wollen Union und SPD lediglich prüfen. Das ist keine Lösung, sondern nur ein Aufschub in weitere Arbeitsgruppen und letztlich weitere Jahre Stillstand. Das ist inakzeptabel, denn Kinder verdienen gleiche Rechte und Sicherheit, egal in welcher Konstellation ihre Eltern zusammen leben.

Seit langem sind angemessene Eingangsvoraussetzungen für Familienrichter*innen überfällig. Zu verbindlichen Regelungen dazu gibt es allerdings nur eine schwache Absichtserklärung, auch wenn die Notwendigkeit der Qualitätsentwicklung und -sicherung sowie die Forschung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, des Familienrechts und des Gutachterwesens angesprochen werden. Positiv ist auch die Absichtserklärung, dass bei familiengerichtlichen Verfahren und Hinweisen auf (sexualisierte) Gewalt Stellungnahmen eingeholt werden sollen.

Ein kleiner Punkt, den ich noch hervorheben möchte: Die Zuschüsse für Paare aus der Bundesinitiative „Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit“ sollen in ganz Deutschland unabhängig davon gewährt werden, ob das jeweilige Bundesland sich an dem Programm beteiligt. Das haben wir als Grüne auch lange gefordert.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF): Aushöhlung der Kinder- und Jugendhilfestandards

Wenn man die Sondierungsergebnisse und die jetzige Koalitionsvereinbarung vergleicht, kann man hier zumindest  einer leichten Verbesserung sprechen. Im Vergleich zum Status Quo ist allerdings mit erheblichen Verschlechterungen zu rechnen und einer weiteren Aushöhlung der Kinder- und Jugendhilfestandards. Es ist ausgesprochen dramatisch, dass die Rechtsverschiebung, die es in der Asylgesetzgebung in den vergangenen Jahren gab, auch vor den Schwächsten und Schutzbedürftigsten nicht Halt macht.

Wie lange minderjährige Geflüchtete nun vor ihrer Inobhutnahmen durch die Jugendämter in den sogenannten ANkER - Einrichtungen (Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen) zur Registrierung und Altersfeststellungen bleiben sollen, ist unklar.

Zynisch und diametral gegensätzlich zu geltenden Kinderrechten bleibt der Passus zum Familiennachzug für unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen: „Mit der gesetzlichen Neuregelung wollen wir Anreize ausschließen, die dadurch entstehen, dass Minderjährige von ihren Eltern unter Gefährdung des Kindeswohls zukünftig auf die gefährliche Reise vorgeschickt werden.“

Familienpolitik im Koalitionsvertrag: bittere Pillen, Lichtblicke und Luftbuchungen

Die Regelungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlingen sind eine von mehreren sehr bittere Pillen, die der Koalitionsvertrag enthält. Aber mit Blick auf die Familienpolitik ist nicht alles schlecht, kein Wunder, denn in weiten Teilen liest sich das Kapitel Familienpolitik wie von Jamaika abgeschrieben. Die formulierten Maßnahmen und ihre Hinterlegung im Finanztableau zeigen aber entscheidende Unterschiede, beispielsweise mit Blick auf den Umgang mit Kinderarmut – Die fehlenden Ambitionen beim Kampf gegen Kinderarmut lassen befürchten, dass auch in den kommenden vier Jahren die Situation armutsbetroffener Kinder und Familien nicht verbessert werden kann. Darüber können auch sinnvollen Einzelmaßnahmen nicht hinwegtäuschen, die an der ein oder anderen Stelle Lücken schließen. Auch sie können nicht dazu beitragen, dass aus dem vorliegenden Papier ein runder Wurf wird.