Auf die Wahl mit dem vorhersehbaren Ergebnis folgt die Ungewissheit. Unklar bleibt, wie es in Russlands Politik der persönlichen Entscheidungen und intransparenten Machtgeflechte grundsätzlich weitergeht - vor allem nach dieser letzten Präsidenschaft Putins. Eine Einschätzung unseres Büroleiters Johannes Voswinkel aus Moskau.

Pünktlich um 8 Uhr morgens wurden die Lautsprecher vor dem Moskauer Wahllokal angeworfen. Ein wenig scheppernd, aber dafür weithin hörbar spielten sie russische Schlager („Moskau, ich liebe Dich!“) und schmissige Volkslieder wie in den guten alten Zeiten. Schon in der Sowjetunion kannte der Erfindungsreichtum, das Wahlvolk zur bedeutungslosen Stimmabgabe zu locken, kaum Grenzen. Sowjetnostalgiker konnten sich am Sonntag vor Russlands Wahllokalen wohlfühlen. Luftballons und Anstecker in Landesfarben wurden verschenkt, in aufgestellten Pavillons gab es Piroggen, Makkaroni und Limonade zu Spottpreisen. Kinder durften sich im Torschießen mit dem Eishockeyschläger üben, Sportstars standen für Selfies mit den Wählern bereit, Brigadechefs überwachten den Wahlenthusiasmus der Untergebenen und kostümierte Kosaken verliehen dem Ganzen den Flair von Geschichte und Disziplin. Nebenbei wurde der alte Präsident Russlands neu gewählt.
Mobilisierte Wählerschaft
Wladimir Putin kannte bei dieser Wahl keine ernsthaften Konkurrenten. Er trat gegen sich selbst an: gegen seine früheren Ergebnisse und die früheren Wahlbeteiligungen. 70 Prozent Wahlbeteiligung und 70 Prozent der Stimmen für den Amtsinhaber – so wurde das Ziel der Kremlverwaltung im Voraus kolportiert. Die Mobilisierung der Wähler und Wählerinnen erreichte neue Sphären: per Telefonanruf, per Massen-SMS, auf den Webseiten großer russischer Unternehmen. Sogar Restaurantbesitzer verdonnerten ihre Kellner und Kellnerinnen dazu, die Gäste am Wahlsonntag mit prüfendem Blick zu fragen, ob sie schon an der Urne gewesen seien. Der Lohn der allrussischen Anstrengung war ein Rekordergebnis mit 76,7 Prozent der Stimmen. Die Einzigartigkeit Putins fand ihre bestellte Bestätigung, die zugelassene Opposition wurde im Wahlkampf dank der staatlichen Kontrolle der Massenmedien als verantwortungslos dargestellt, die liberale Alternative demoralisiert. Nur zur erwünschten Wahlbeteiligung hat es nicht ganz gereicht: 67 Prozent.
Von Feinden umlagert
Dabei haben auch die außenpolitischen Spannungen der letzten Wochen zur Mobilisierung der Wählerschaft beigetragen: Großbritanniens Ultimatum an Russland wegen des Giftgasanschlags auf einen russischen Ex-Spion, der verbale Schlagabtausch mit den USA und die Querelen um die russische Teilnahme an den Olympischen Spielen in Südkorea erhöhten noch einmal das Gefühl, von äußeren Gegnern und Feinden umlagert zu sein. Vielen mag die Stimmabgabe als staatsbürgerliche Pflicht und die Solidarität mit dem Präsidenten als Gebot der Stunde erschienen sein. Kuriose Ergebnisse in manchen russischen Regionen, in denen Stimmenzahlen für den Präsidenten jenseits der 90 Prozent gemeldet wurden, trugen zum Rekordsieg Putins bei. Die Wahl wurde zum letzten Erfolgsbeleg der 18-jährigen Bemühungen der Polittechnologen des Kremls, der Behörden, der staatlich kontrollierten Medien und Unternehmen, den Präsidenten mit einer Vielzahl von Mitteln alternativlos zu machen. Ein demokratischer Wettstreit um Ideen und Macht sieht anders aus.
Wahl der Ungewissheit
Auf die Wahl mit dem vorhersehbaren Ergebnis folgt die Ungewissheit. Unklar bleibt, wie es in Russlands Politik der persönlichen Entscheidungen und intransparenten Machtgeflechte grundsätzlich weitergeht. Sechs Jahre darf Putin regieren. Danach verbietet ihm die Verfassung eine neue Kandidatur, aber eine verfassungsändernde Mehrheit fände der Präsident, wenn er es wollte. Politologen diskutieren bereits verschiedene Modelle vom rechtzeitigen Aufbau eines Nachfolgers bis zur Einrichtung eines Staatsrates, in dem Putin auch ohne Amt zeitlebens das entscheidende Wort haben könnte. Welchen Weg Russlands Führung wählt, muss sich erst zeigen. Auch viele Fragen in Außenpolitik und Innenpolitik bleiben offen, weil die Antworten vom Willen eines einzigen abhängen: Wird Russland Schritte zur Entspannung des Verhältnisses zu Europa und den USA unternehmen? Ist eine Entschärfung des Konflikts in der Ostukraine zu erwarten? Sind die Ziele der Digitalisierung und Modernisierung der russischen Wirtschaft mehr als nur Schlagwörter? Wird das Rentenalter heraufgesetzt?
Wirtschaftliche Stabilisierung
Wirtschaftlich zeichnet sich eine relative Stabilisierung in den nächsten Jahren ab, falls es nicht zu besonderen außen- oder innenpolitischen Erschütterungen kommt. Internationale Prognosen sehen das Wirtschaftswachstum in diesem und im nächsten Jahr bei 2 Prozent – wenig für die ehrgeizigen Rüstungs- und Infrastrukturpläne der Regierung, aber ausreichend für ein „Weiter so“. Die Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Strukturprobleme der russischen Wirtschaft mit einer fehlenden Rechtssicherheit und der Einengung unternehmerischen Freiraums bleiben bestehen. Ein Kurswechsel weg von einer staatsdominierten Wirtschaft ist kaum erwarten.
Selbstisolation Russlands mit kritischem Dialog begegnen
Auch Motive für eine innenpolitische Liberalisierung sind nicht erkennbar. Nichtregierungsorganisationen stehen schon jetzt unter großem Druck durch Staatsbehörden. Sie befürchten, dass vom Sommer an, nach der Regierungsbildung und dem Abschluss der Fußball-Weltmeisterschaft, weitere repressive Maßnahmen vorangetrieben werden. Denn Abschottung nach außen und ein hartes Vorgehen gegen jene Aktive im Land, die sich kritisches Denken bewahren, haben zuletzt zur Konsolidierung des Regimes beigetragen.
Umso wichtiger ist es, der Selbstisolation Russlands Offenheit und Dialog entgegenzusetzen, denn eine Ausgrenzung dient nur den Hardlinern. Der politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontakt sollte nicht abreißen. Je mehr sich Menschen beider Länder begegnen, desto größer wird die Chance, Feindbilder gemeinsam zu entkräften. Persönliche Kontakte sind in Russland besonders bedeutsam, um die Ernsthaftigkeit des eigenen Anliegens zu unterstreichen und erneut Vertrauen zu gewinnen. Im Gespräch aber ist neben Geduld auch Unbeirrbarkeit gefordert. Denn Dialog bedeutet nicht die Aufgabe der eigenen Werte und Kernpositionen zu Menschenrechten und Demokratie, zur Annexion der Krim, zum Krieg in Syrien und in der Ostukraine. Zum Dialog gehört es auch, Konflikte anzunehmen und auszuhalten.