„Russland ohne Grenzen“: Die Genese einer außenpolitischen Doktrin

Hintergrund

Eine Dekade ist vergangen seit dem 5-Tagekrieg zwischen Russland und Georgien. Der Publizist Aleksander Morozov analysiert den Wandel der russischen Außenpolitik vom Zerfall der Sowjetunion bis heute.

Georgisches Dorf kurz vor Südossetien

Abweichen vom Modell postsowjetischer Transformation

Wann genau Russlands politische Klasse in ihrem Selbstverständnis wieder in ein Weltbild verfiel, in dem die Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken lediglich als provisorisch betrachtet werden, lässt sich heute nicht mehr genau bestimmen. In den 1990er Jahren war dieser vorläufige Charakter der Grenzen Gegenstand heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen. Gerade einmal fünf Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion lancierten die Kommunisten nach den Parlamentswahlen im Jahr 1996 eine politische Kampagne, deren Ziel es war, das Belowescher Abkommen aufzukündigen, die Staatsduma verabschiedete damals sogar diesbezüglich einen Beschluss.

Die rote Opposition neigte schon immer einem romantischen Revanchismus zu. Denn damals im Jahr 1996 entstand die Staatenunion zwischen Russland und Belarus. Dadurch war die Grenze zwischen Moskau und Minsk nicht nur de facto, sondern nun auch de jure zu einem Provisorium geworden. In den 1990er Jahren schwebten die von Eduard Limonow geführten Nationalbolschewiken derart „jenseits der Grenzen“, dass sie nicht einmal die baltischen Staaten anerkannten. In den Jahren 2000 und 2001 versuchten sie sogar, in Nordkasachstan einen „Donbas“ anzuzetteln. Insgesamt jedoch war die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten der eigentliche Referenzrahmen für die politische Klasse Russlands. Sie erkannte die Souveränität der anderen GUS-Mitglieder an und vertrat die Meinung, dass der Zerfall der Sowjetunion mit relativ wenigen Opfern noch glimpflich ausgegangen war, schließlich hätte es auch schlimmer kommen können. Die zeitlich begrenzten Territorialkonflikte in Transnistrien, Abchasien und Südossetien sah man als kleinere Kollateralschäden, die ein Staatszerfall eben mit sich bringt. Der Kreml beharrte darauf, dass die Konflikte „eingefroren“ werden müssten.

Heute liest man oft, dass der erste Maidan, also die „Orangene Revolution“ in der Ukraine im Jahr 2004, der eigentliche Wendepunkt gewesen sei. Dieser hinterließ im Kreml tatsächlich einen tiefen Eindruck, weil schon Ende 2003 die „Rosenrevolution“ in Georgien Staatspräsident Schewardnadse hinwegfegte und Micheil Saakaschwili an die Macht kam. Diese so entstandene Weggabelung eröffnete einen alternativen Pfad, der vom russischen abwich. „Serbien, Georgien, Ukraine – wer ist als nächstes dran?“ Dieser Slogan stand auf Plakaten kremlloyaler Parteien auf einer Kundgebung, die zusammengetrommelt worden war, um Putins Entscheid vom Oktober 2004, die Gouverneurswahlen in den russischen Regionen abzuschaffen, öffentlich zu legitimieren. Schon zu diesem Zeitpunkt also hatte der Kreml eine Drohkulisse aufgebaut und setzte unverblümt auf eine Rhetorik, die Gefahren von außen heraufbeschwor, um Entscheidungen zu rechtfertigen, die im Innern zu einer fortschreitenden Usurpation der Macht führten.

Die Jahre 2003-2004 waren schließlich jener Zeitraum, in dem die russische politische Klasse endgültig eine Schwelle überschritt. Ein Europa „von Lissabon bis Wladiwostok“ war nunmehr vom Tisch. Stattdessen begann der „alte Sharp“ die Geister zu plagen und verdrängte dabei das von Zbigniew Brzeziński propagierte Konzept des „großen Schachbretts“. In Russland lässt man sich ohnehin stark von gewöhnlichen amerikanischen Traktaten beeinflussen, die dabei zu „Protokollen der Weisen von Zion“ hochstilisiert und nicht als wissenschaftliche Untersuchungen verstanden werden. Sharps Buch über „Strategien, die Junta zu stürzen“ wurde im Kreml zur Pflichtlektüre, die Tschekisten rüsteten sich damit, um die „orangene Gefahr“ abzuwehren.

Erster Einsatz der russischen Propaganda-Maschine

Beschossen wurde die südossetische Hauptstadt Zchinwali oft, deswegen nahm der Kreml die Verschärfung der Situation Anfang August 2008 auch nicht als etwas Außergewöhnliches wahr. Saakaschwili behauptete später, dass die erhöhte Aktivität der südossetischen Separatisten nur eine Schlussfolgerung zuließ: Sie planten einen Einmarsch. Deswegen befahl er den Präventivschlag. Dieser Argumentation ist schwer zu glauben. Die Ereignisse zwischen dem 08. und 10. August demonstrierten deutlich, dass der Kreml auf diese Eskalation absolut nicht vorbereitet war. Zwei Tage lang warteten Hobbypatrioten im Internet mit großer Anspannung darauf, ob das russische Militär nun den Roki-Tunnel durchqueren würde, der Russland mit Südossetien verbindet.

In den europäischen Hauptstädten beobachtete man den mit aller Wucht geführten Militärschlag des Kremls mit großem Unbehagen. Darum setzte der Kremlstratege Surkow alles daran, um progeorgische Interpretationen zu untergraben. Während des russisch-georgischen Konflikts wurde die Welt zum ersten Mal mit der hochgerüsteten Propaganda-Maschinerie des Kremls konfrontiert: aufgeboten wurde unter anderem Filme, Bücher, Fotoausstellungen, die außerhalb von Russland gezeigt wurden, die Mobilisierung von Politikern im Ausland, Internet-Trolling, Propagandainhalte, die massenhaft nach Vorgabe des Kremls aufbereitet und dann über Russia Today verbreitet wurden.
Zwar scheiterte Micheil Saakaschwili in seinem Versuch, die Kontrolle über Südossetien wiederherzustellen, allerdings blieb er noch weitere fünf Jahre als Staatsoberhaupt von Georgien im Amt. So konnte er die Reformen fortführen und hatte weiterhin den Großteil der Bevölkerung hinter sich.

Paradox war die Situation deswegen, weil seine Attacke dem russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew großen Schaden zufügte und dessen „Modernisierungsprogramm“ um ein Jahr verzögerte. Medwedjews allseits bekannter Text „Vorwärts, Russland!“ erschien erst ein Jahr nach dem Krieg. Der Text strotzte nur so vor Energie und utopischen Ideen, allerdings ist er heute größtenteils in Vergessenheit geraten. Trotzdem zeugt die Programmschrift davon, dass es in Russland „Kreise“, „Kräfte“, „Gruppierungen im Verwaltungsapparat“, ja nicht einmal „Strömungen“, sondern eher „Wasserstrudel“ – die Wortwahl, um diesen Reformismus zu beschreiben, fällt einem schwer – im Dunstkreis des Kreml gibt, die auf die Entwicklung von Institutionen und die Schrumpfung des Staatssektors setzen, gegen eine weitere Aufblähung der Staatsunternehmen und zumindest für eine mentale Annäherung an das Vorbild Silicon Valley sind, ohne dass dabei das Grundgerüst des „Sanften Autoritarismus“ aufgegeben werden würde. Theoretiker des „Medwedjewismus“ wie Aleksandr Ausan und Ewgenij Gontmacher forderten sogar, dass der russische Gesellschaftsvertrag geändert werden müsste: Das Prinzip „Wir tauschen Freiheit für Wurst und Sicherheit ein“ sollte durch das Prinzip „Wir bewegen uns weg von Überlebenswerten hin zu Selbstentfaltungswerten“ ersetzt werden.

Hätte Russland diesen Weg eingeschlagen, so hätte zweifelsohne auch die Ungleichzeitigkeit der postsowjetischen Transformation in den ehemaligen Sowjetrepubliken gemindert werden können. Saakaschwili setzte in Georgien seine Reformen fort, die zunehmend als die Erfolgsgeschichte der postsowjetischen „Transformation“ gefeiert wurde. Gleichzeitig gewann 2010 Wiktor Janukowitsch in der Ukraine die Wahlen, und in Belarus schlug Aljaksandr Lukaschenka Massenproteste nieder und wurde zum vierten Mal ins Amt des Präsidenten „gewählt“. Im Dezember wurde auch Moskau durch Demonstrationen aufgerüttelt, aber Putin schlug die Proteste bis zum Mai 2012 nieder, die den belarussischen durchaus ähnelten. Im virtuellen Ringkampf zwischen dem Innovationscluster „Skolkovo“ und dem Untersuchungsgefängnis „Lefortowo“ behielt das Zuchthaus die Oberhand.

"Russland ohne Grenzen" heute Gemeinplatz im Kreml-Sprech

Nun stellt sich natürlich die Frage, bis zu welchem Grad der Georgienkrieg das Verhalten des Kremls während des zweiten Maidans Ende 2013, Anfang 2014 vorbestimmte. Aus heutiger Sicht liegt es geradezu auf der Hand, eine direkte Verbindungslinie zwischen zwei scheinbar getrennten Orientierungspunkten zu ziehen – der Militäroperation in Südossetien und der Intervention auf der Krim und im Donbas. Schon immer gab es in Russland den inzwischen schon sprichwörtlichen „General Iwaschow“ („wenn wir nicht eingreifen, werden hier bald NATO-Soldaten einmarschieren“). Ebenso weit verbreitet sind hartgesottene Sowjetnostalgiker, die die postsowjetischen Grenzen nicht ernst nehmen und die staatliche Souveränität der ehemaligen Sowjetrepubliken als ein zeitlich begrenztes Provisorium abtun. Bis zur vierten Amtszeit Putins galten diese Konsorten jedoch lediglich als exotische Fantasten jenseits allen guten Menschenverstandes, sie waren meilenweit weg vom politischen Mainstream. Doch nun ist das „Russland ohne Grenzen“ zu einem Gemeinplatz im Kreml-Sprech geworden, mit dem rhetorisch nicht nur den Nachbarstaaten Russlands, sondern auch den „alten“ europäischen Ländern das Recht auf Souveränität abgesprochen wird.

Putin setzt alles daran, um die wildesten Fantasien des linken Nationalbolschewiken Limonow und des rechtsradikalen Prochanow zu verwirklichen. Lukaschenka und Nasarbajew zeigen sich zurecht besorgt. Zwischen den Jahren 2008 und 2014 verstrichen lediglich sechs Jahre, in denen der Kreml jedoch eine immense Distanz zurücklegte: Am Startpunkt unterstützte Russland Versuche, Territorialkonflikte einzufrieren, die es nach dem Zerfall der Sowjetunion geerbt hatte und agierte als Regionalmacht, die ihre Politik auch auf soft power stützte. Am vorläufigen Endpunkt dieses kurzen Zeitraums stand das Unternehmen, die Ukraine als Staat zu zerschlagen, in dem sechs bis sieben Gebiete abgetrennt und daraus „Noworossija“ geformt werden sollte.


Wenn wir heute auf den georgisch-russischen „Fünftagekrieg“ zurückschauen, sollten wir uns eine entscheidende Frage stellen: Zu welchem weiteren, dritten Punkt führt die Gerade der russischen Politik, die sich aus den Ereignissen in den Jahren 2008 und 2014 ergibt?

Übersetzt von Fabian Burkhardt