Abschiebungen in ein umkämpftes Land

Hintergrund

Während in Afghanistan neue Gewaltausbrüche die Parlamentswahlen überschatten, wird in Deutschland die nächste Sammelabschiebung vorbereitet. Die Lage in Afghanistan ist so dramatisch wie lange nicht mehr. Die deutsche Politik sollte die Realität endlich anerkennen und eine Neubewertung der politischen Situation in Afghanistan vornehmen.

Eine Frau demonstriert auf einer Demo in Hamburg gegen die Abschiebung nach Afghanistan

Drei Jahre später als vorgesehen fanden in Afghanistan am 20. Oktober die Wahl des Unterhauses des afghanischen Zweikammer-Parlaments, der Wolesi Dschirga, statt. Die Wahlen wurden aufgrund der schlechten Sicherheitssituation und logistischer Probleme vorher mehrmals verschoben. Doch auch jetzt waren die Vorbereitung und der Ablauf der Wahl alles andere als ein Zeichen für Stabilität. Im Gegenteil: Eine Welle von Gewalt und Terror überzog ein weiteres Mal Afghanistan. 

Hoher Preis für die Wahl: 78 Tote und 470 Verletzte

Anders als von der internationalen Gemeinschaft erhofft, sind Abstimmungen in Afghanistan inzwischen zu Auslösern für immer neue Unruhen und erbitterte politische Kämpfe geworden. Bereits im Vorfeld der Wahlen drohte die Taliban der Bevölkerung Gewalt an, sollten sie ihr Stimmrecht ausüben.

Die Einschüchterungstaktik zeigte Wirkung. Aus Angst vor Anschlägen machte ein Drittel der Wahllokale, die in von Taliban kontrollierten Gegenden liegen, erst gar nicht auf. Viele Wählerinnen und Wähler wollten ihr Leben nicht aufs Spiel setzen und blieben zu Hause.

Am Wahltag selber wurden Wahlzentren mit Mörsern beschossen und in einigen Städten kam es zu Bombenexplosionen. Allein in Kabul meldeten die Sicherheitsbehörden mehr als ein Dutzend Explosionen. Der Preis für diese Wahl fiel hoch aus: Mindestens 78 Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben und mehr als 470 Personen wurden bei kleineren Angriffen verletzt. 

UN stuft Afghanistan als "Krisenland" ein

Diese tragischen Ereignisse während der Wahlen werfen ein Schlaglicht auf den politischen Zustand des Landes und offenbaren die verheerende Sicherheitssituation in Afghanistan. Inzwischen vergeht kein Tag mehr ohne Zwischenfälle und für die Bevölkerung ist das Leben in Afghanistan zu einem reinen Überleben geworden.

Viele Afghaninnen und Afghanen empfinden die aktuelle Lage als die schlimmste im bereits 17 Jahre andauernden Krieg. Und eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die Behörden scheinen angesichts der nicht endenden Gewaltspirale machtlos zu sein. Über weite Teile des Landes hat die afghanische Regierung ihre Kontrolle verloren.

Der aktuelle US-Fortschrittsbericht zu Afghanistan konstatiert, dass die Zahl der umkämpften Provinzen weiter angestiegen ist. Mindestens 30 der 34 Provinzen sind inzwischen von Konflikt und Vertreibung betroffen. Die Lage hat sich so zugespitzt, dass auch die internationale Gemeinschaft ihre Sichtweise auf Afghanistan änderte.

Der UN-Sicherheitsrat stufte unlängst Afghanistan wieder als "Krisenland" ein. Dies zeigt, dass das Ziel der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, ein hinreichend stabiles und gefestigtes politisches System in Afghanistan zu etablieren, wieder in weite Ferne gerückt ist.

Sammelabschiebungen sind makaber

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erscheint es schlichtweg makaber, dass in Deutschland die Sammelabschiebungen nach Afghanistan fortgesetzt werden. Der Kurs vieler Bundesländer, die Abschiebungen nicht mehr nur auf Straftäter, Gefährder oder Identitätsverweigerer zu beschränken, wird von den Gerichten gestützt.

Der Verwaltungsgerichtshof von Baden-Württemberg entschied jüngst, dass Afghaninnen und Afghanen in Kabul nicht so gefährdet seien, dass ihnen eine Rückkehr nicht zugemutet werden könne. Afghanistan wird somit in der deutschen Asylpraxis als teilweise sicheres Herkunftsland angesehen.

Wie ein Rückkehrer sein Leben in einem kriegsversehrten Land bestreiten soll, in dem die Wirtschaft massiv eingebrochen ist und die Rückerlangung alter Besitze oder der Zugang zu einem Stück Land quasi unmöglich ist, wird von Behörden und Gerichten indes nicht beantwortet. 

Konflikt eskaliert zu einem Krieg

Die deutschen Verwaltungsgerichte oder auch das Bundesamt für Migration und Flucht ziehen dabei ihre Erkenntnisse für solche Entscheidungen – nicht nur aber auch - aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes. Das Auswärtige Amt beschreibt darin die Sicherheitslage lediglich als „volatil“, was man mit Blick auf die vergangenen Ereignisse getrost als Euphemismus bezeichnen kann.

Die Tatsache, dass der Konflikt in Afghanistan momentan zu einem Krieg eskaliert und Teile des Landes unter Willkürherrschaft stehen, finden in dem Bericht kaum Erwähnung. Wirklich ehrlich gegenüber den Afghanninen und Afghanen, die Angst haben von Deutschland in ihr Land zwangsrückgeführt zu werden, ist das nicht.

Neubewertung der Situation ist notwendig

Wenn sich die deutsche Außenpolitik tatsächlich für Frieden, Sicherheit und die Förderung von Menschenrechten einsetzen will – wie sie es sich selbst auf die Fahnen schreibt - sollte sie schleunigst eine Neubewertung der Situation in Afghanistan vornehmen.

Erst wenn alle Fakten über die Lebensumstände in Afghanistan und die Komplexität der Konflikte offen auf dem Tisch liegen, können Behörden und Gerichte auch eine vollumfängliche sachliche Entscheidung treffen. Bis dahin sollten die Abschiebungen nach Afghanistan wieder ausgesetzt werden.

Anders als die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die erst am 20. November verkündet werden und mit großer Wahrscheinlichkeit zu neuen Auseinandersetzungen führen, wäre dies für viele in Deutschland lebende Afghaninnen und Afghanen eine echte Veränderung.