Sechster Brief an Samira: Masken aller Art

Im sechsten Brief, den Yassin Al Haj Saleh an seine entführte Frau Samira Khalil richtet, gibt er Einblick in die Schwierigkeiten, die sich nach dem Gerettetsein zeigen. Kafkaeske Hürden der Bürokratie machen beispielsweise grenzüberschreitende Reisen fast unmöglich. Zudem belasten Schuldgefühle gegenüber denjenigen, die zurückbleiben mussten, das eigene Gewissen. Dies ist der sechste von elf Briefen des Autors an seine verschwundene Frau Samira.

 

Samira Khalil

Sammour,

Was habe ich während deiner Abwesenheit gemacht, Sammour? Wie bei den anderen Ereignissen auch, kann ich dir nicht alles im Detail erzählen; ich werde dir genauer darüber berichten, wenn du zurückkommst.

Neu ist – abgesehen vom Schreiben, aber das weißt du und das erwartest du von mir -, dass ich die Möglichkeit hatte, nach Europa zu reisen. Aber weil ich immer noch keinen Reisepass besitze, Sammour, ist für jede Reise eine ausführliche Korrespondenz zwischen der einladenden Stelle, dem Konsulat des jeweiligen Landes und der türkischen Ausreisebehörde erforderlich … Das ist wirklich äußerst aufreibend. Das Reisen zwischen den Ländern ist zu einem Politikum geworden, oder besser, zu einer Frage der Souveränität, eingebettet in Gefahren und Sicherheitsfragen, besonders in Bezug auf die Syrer. Die Konsulate, die man wegen eines Reisedokuments aufsuchen muss, erinnern darüber hinaus an Assads Geheimdienstabteilungen. Unsere Situation in der Welt, Sammour, ist die gleiche wie unsere Situation in »Assads Syrien«.

Trotzdem gehöre ich immer noch zu den wenigen glücklichen Syrern, die von Zeit zu Zeit reisen und zu ihrem Wohnort zurückkommen können. Ich bin in europäische Länder gereist, aber bis heute in kein einziges arabisches Land oder woandershin. Vor etwa einem Jahr wurde ich zwar in ein arabisches Land eingeladen, aber der Geheimdienst jenes Landes versprach einem Freund, der versucht hatte, bei der Botschaft zu vermitteln, mich nur unter einer Bedingung willkommen zu heißen: Er müsse mich gleich nach meiner Ankunft „in Empfang nehmen“ können. Ich wurde auch von der Universität eines anderen arabischen Landes eingeladen, aber dort erwartete man, dass ich das Problem mit dem fehlenden Reisepass selbst löse!

Zweck all der Reisen war die Teilnahme an kulturellen oder politischen Aktivitäten, die mit der syrischen Sache zu tun haben. Diese „syrische Sache” ist heute eines der größten internationalen Probleme überhaupt. Es ist ein Problem, das die Grundlagen des Denkens, der Politik und des bestehenden internationalen Systems herausfordert. Und uns, die wir darüber sprechen, begegnet man mit einer Mischung aus Achtung, Feindschaft und Verunsicherung.

Gleichzeitig hast du in unserem Land mehr als in anderen Ländern der Welt die Geschichte vor Augen; du siehst den Staat in seiner Brutalität, seiner Banalität und seiner Bedürftigkeit, und du siehst die Religion in ihrem Wahnsinn und ihrer Weltlichkeit. Du siehst die Welt in ihrer Enge, ihrer Weite und ihrer Verderbtheit. Du siehst, wie sich Individuen und Gruppen gegen sich selbst und gegeneinander wenden. Und du siehst Masken aller Art: Die Sklaverei mit der Maske der Befreiung, den Hass mit der Maske der Liebe, den Konfessionalismus, der den Schleier der Heimat trägt; das Töten, das sich selbst Barmherzigkeit nennt; die Lüge, die mit dem Anschein der Wahrheit spricht; den Egoismus, der sich als Altruismus und Aufopferung ausgibt. Und die Unverschämtheit, die behauptet, gerecht zu sein …

Fast alles, was du siehst und hörst, ist das Gegenteil von dem, was es vorgibt zu sein. Wäre mir das Herz nicht so schwer in deiner Abwesenheit, wäre das Sinnieren über diese Welt ein Quell gedanklichen Genusses, es wäre ein besonderes Glück, trotz der allumfassenden Katastrophe, in einer historischen Zeit wie dieser zu leben. Ich glaube, dass die großen Konflikte das Nachdenken über die Geschichte und das Schicksal der Menschheit anspornen, und dass wir uns heute in einer solchen Situation befinden, Sammour. Wärst du doch bei mir!

Was das Schreiben betrifft, so ist neu, dass ich über euch vier schreibe, über Razan und besonders über dich. Das Schreiben über dich ist nicht nur ein neues Thema meiner Arbeit, Sammour, es gibt all meiner anderen Arbeit einen Sinn. Du bist nicht mein Anliegen, Sammour, du bist meine Identität.

Über dich zu schreiben ist auch eine Therapie, Sammour. Wie viele syrische Flüchtlinge habe ich den "Komplex des Gerettetseins", ein Schuldgefühl, das denjenigen befällt, der aus einer Katastrophe gerettet wurde, während andere es nicht geschafft haben. Auf der Website Al-Jumhuriya (du erinnerst dich natürlich, es gibt sie noch und ich schreibe hauptsächlich dafür), beschrieb ein junger Autor diesen Komplex, von dem er vielleicht noch nie gehört hatte, mit der eindringlichen und sehr schönen Formulierung: "vom Wohlergehen heimgesucht"! In meinem Fall ist es eine doppelte "Heimsuchung". Denn dieses Mal bin ich davongekommen, während es vielen anderen, deren Anzahl immer noch steigt, nicht wohlergeht; insbesondere aber, weil du nicht zu den Geretteten gehörst.

Diese Verantwortung nehme ich ganz allein auf mich, und das ist es, was mich mehr als alles andere zerstört, Sammour. Ich habe versucht, dieses Gefühl durch Arbeit zu überwinden, und viele Freunde, die alle in unterschiedlicher Art und Weise unter diesem Komplex, gerettet worden zu sein, leiden, waren eine große Hilfe dabei. Sogar unsere türkischen Freunde kennen bis zu einem gewissen Grad dieses Gefühl, sie zeigten sich solidarisch und nahmen an kulturellen Aktivitäten und Protestaktionen teil. Ihre Unterstützung war großartig.

Ich habe in den nahezu vier Jahren versucht, gegen dieses Gefühl des "Gerettetseins" anzukämpfen, Sammour, denn ich glaube, dass es in mindestens zweierlei Hinsicht zerstörerisch ist. Erstens kann es den Geretteten dazu verleiten, die Zeit ab dem Zeitpunkt "seiner Rettung" anzuhalten. Im syrischen Fall ist das der Zeitpunkt, an dem man das Land verlassen hat.

 

Samira Khalil und Yassin al-Haj Saleh

Briefe an Samira

Am 9. Dezember 2013 wurde Samira Khalil in Douma, einem Vorort von Damaskus, entführt. Sie ist bis heute verschwunden. Ihr Ehemann Yassin al-Haj Saleh ist syrischer Schriftsteller und Dissident und verbrachte 16 Jahre in einem syrischen Gefängnis. In dieser Reihe von Briefen schreibt er seiner Frau, wie sich die Lage in Syrien seit ihrem Verschwinden entwickelt hat. mehr...

Offenbar nimmt man danach nicht mehr wahr, wie sich die Lage im Land ändert. Der Kampf, den wir mit freiheitlicher Haltung führen, muss auf die veränderte Lage in Syrien abgestimmt werden. Ich glaube, ich kenne Gerettete aus dem Umfeld unseres früheren Kampfes, die noch immer einen alten Kampf kämpfen, einen Kampf, den sie damals, als sie ihn hätten fechten müssen, nicht gefochten haben. Doch nachdem sich alles verändert hat, hat ihr Kampf nicht mehr die gleiche Bedeutung, sie folgen nicht mehr der gleichen freiheitlichen Haltung, ihr Handeln wirkt rückständig und überholt, dies ist ein Schicksal, das ich hoffentlich zu vermeiden weiß, Sammour.

Der „Gerettet-sein“-Komplex hat außerdem zur Folge, dass man unfähig wird, unter den im Exil herrschenden Bedingungen weiterzukämpfen, viel Energie geht durch Jammern, Selbstkritik oder die Kritik an anderen verloren. Ich versuche, dieses Gefühl der Schuld zu überwinden, damit ich weiterkämpfen kann, Sammour. Ich glaube, dass die Fähigkeit zu kämpfen am meisten dann zerstört wird, wenn wir uns dem schlechten Gewissen ausliefern. Diese psychische Verfassung ist nämlich am wenigsten dazu geeignet, jenen eine Stütze zu sein, die nicht von dem Komplex befallen sind oder denen es noch schlechter geht als uns. Das ist nicht einfach, das weiß ich aus Erfahrung, Sammour. Es ist wie ein ständiger Kampf, der täglich neu aufgenommen wird, den wir nie gewinnen, den wir aber immer weiterführen können.

Was mir vielleicht dabei hilft, mich in diesem unerträglichen Zustand zu bewegen, ist, dass ich einmal selber in einem Zustand des "Nicht-Gerettetseins" war. Als ich im Gefängnis war, Sammour. Damals waren die Genossen und Freunde von der "Krankheit des Wohlergehens" infiziert. Damals warst auch du in einer ähnlichen Lage wie ich, und es gibt keinen Zweifel daran, dass deine Freunde und Genossen ähnliche Gefühle hegten. Was erhofften wir uns von jenen, die damals davongekommen waren, während wir mit den meisten unserer Genossen im Gefängnis saßen? Wollten wir, dass sie den Kampf weiterkämpfen, den wir hatten aufgeben müssen? Nein, nicht unbedingt.

Nur, soweit sie dazu in der Lage waren und ihre Situation es erlaubte. Wünschten wir uns, dass sie sich dem Schuldgefühl auslieferten, sich dafür tadelten, unversehrt geblieben zu sein? Wünschten wir, dass sie sich von der "Krankheit des Wohlergehens" befreien, indem sie mit uns im Gefängnis sitzen? Keineswegs. Ich glaube, wir wünschten uns von ihnen, dass sie sich schonten und damit unsere Sache weiter hochhielten. In den Gefängnissen von Hafez al-Assad einsitzend, erhofften wir uns von unseren Freunden, dass sie ihre und unsere Würde bewahrten.



Das ist es, was ich zu tun versuche, Sammour: Ich will nicht nur deine Würde und die unserer Sache bewahren, sondern ich will auch meine eigene Würde schützen und mit Mitteln weiterzukämpfen, die sich womöglich ein wenig von den früheren unterscheiden, damit wir unsere Sache besser schützen können.

Es gibt nichts, was in einer Situation wie der unsrigen zufriedenstellend sein könnte: du bist hinter engen dunklen Grenzen verschwunden, und ich wurde weit über die Grenzen hinaus fortgetrieben. Ich bin damit nicht zufrieden. Doch versuche ich, nachdem wir die erste Runde der Revolution verloren haben, den Kampf mit adäquaten Mitteln weiterzuführen und etwas zu tun, das direkt mit dir in Verbindung steht. Bis heute gab es keinen wirklichen Durchbruch, Sammour, aber ich klopfe weiter an die Tür und hoffe, sie eines nahen Tages vielleicht aufbrechen zu können, um dich zu befreien, dich und Razan und Wael und Nazem.

Und vor allem kämpfe ich weiter, weil du mich brauchst und weil ich stark sein muss, wenn du zurückkehrst.

Ich warte auf dich, pass bitte auf dich auf.

Ich küsse dich von Herzen

Yassin

Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Dieser Text erschien zuerst im Faust-Kultur Magazin.