„Wir haben unsere Zukunft in die eigenen Hände genommen“

Bericht

Mit Arbeit die Trauer überwunden und sich ein Auskommen verschafft: Die Kriegswitwenkooperative in Krusha e Madhe hat sich gegen alle Vorurteile im patriarchalisch geprägten Kosovo zu einem Modellbetrieb entwickelt.

„Wir haben unsere Zukunft in die eigenen Hände genommen“ - Das eine Bild zeigt das im Text beschriebene Label der Kriegswitwenkooperative

tro KRUSHA E MADHE. Nur auf dem Firmenlogo trägt die Frau mit den roten Paprikaschoten einen weiten Rock und weißes Kopftuch. Ansonsten haben bei der Agrarkooperative in Krusha e Madhe die Frauen die Hosen an. In Kosovo werde oft erwartet, „dass Witwen bei der Familie ihres Mannes leben, ein Kopftuch und lange Kleider tragen, zuhause bleiben und sich nur um den Haushalt kümmern“, erzählt die seit dem Krieg verwitwete Ganimeti Hoti: „Aber ich hatte darauf keine Lust mehr.“

Um ihren drei Töchtern eine Ausbildung zu ermöglichen, entschied sich die energische Familienmutter vor zwei Jahren stattdessen, arbeiten zu gehen – und sich ein Auskommen zu verdienen: „Die Familie wollte das nicht akzeptieren – und warf mich aus dem Haus.“ Damals habe sie entschieden, nur noch das zu tun, was sie selbst wolle. Bereut habe sie den Bruch mit der Familie nie: „Ich bin glücklich mit meiner Arbeit in der Kooperative – und froh, so das Studium meiner Töchter finanzieren zu können.“

Der schwarze Albaneradler prangt in der Landgemeinde unweit von Gjakove (Djakovica) auf einer rot getünchten Häuserwand. Vor 20 Jahren wurde Krusha zum Schauplatz einer der blutigsten Massaker des Kosovokriegs. Vom 25. bis zum 27.März 1999 brannten die Truppen der Jugoslawischen Armee bei der Verwüstung des Ortes hunderte von Häusern nieder: Bei Massenerschießungen wurden über hundert Männer hingerichtet. Insgesamt wurden im Krieg mehr als 140 Frauen in Krusha zu Witwen: Viele ihrer Männer, deren Leichen nie gefunden wurden, gelten bis heute als vermisst.

„Von Frauen wird hier traditionell nicht erwartet, unabhängig zu sein“

Jahrelang hatte die Witwe Fahrije Hoti nach dem Krieg für die Aufklärung des Schicksals der Kriegsvermissten gestritten. Heute mag die Frau mit dem kräftigen Händedruck über den Krieg, den Verlust ihres noch stets verschollenen Mannes und ihre dramatische Flucht nach Albanien mit ihren beiden kleinen Kindern nicht mehr sprechen. Sie habe über die Kriegsschrecken sehr oft gesprochen, aber je älter sie werde, „desto emotionaler wird man dabei“, sagt die 49jährige. Den Schmerz über den Verlust der getöteten Angehörigen könne man „nur mit dem Blick zurück kaum überwinden“, so die Erfahrung der Direktorin und Mitbegründerin der Frauenkooperative von Krusha: „Nur mit Arbeit kommt man über den Kummer hinweg – und muss nicht ständig an die Ermordeten denken.“

Die Gründerin und Direktorin der Kooperative, Fahrije Hoti (49 Jahre).

Mit „drei Arten von Krieg“ sei sie nach der Rückkehr in ihr völlig zerstörtes Dorf konfrontiert worden, sagt die tatkräftige Genossenschafterin, während sie mit tiefen Zügen an ihrer Zigarette inhaliert. Neben der Bewältigung der erlebten Kriegstraumata hätten ihr vor allem der Kampf um das wirtschaftliche Überleben ihrer Familie und der „Krieg gegen die Vorurteile“ im eigenen Dorf zu schaffen gemacht. Witwen hätten in der albanischen und kosovarischen Gesellschaft den „geringsten Wert – auch in der Familie“. „Von Frauen wird hier traditionell nicht erwartet, unabhängig zu sein. Und manche hatten hier darum zunächst ein Problem, dass wir als Witwen Gemüse verarbeiten - und verkaufen.“

Am Anfang sei es ihr nach dem Krieg schwergefallen, „die Rolle der Frau und des Mannes in der Familie zu übernehmen“, räumt Fahrije offen ein. Ihre Mitstreiterinnen lernte sie damals bei dem von ihr mitbegründeten Verband der Angehörigen der Kriegsvermissten in Krusha kennen. 2005 begann sie schließlich mit einem Dutzend der Witwen Gemüse anzubauen und einzumachen: „Am Anfang war unser Ziel einfach, aktiv zu sein, etwas für uns selbst zu tun. Wir hatten damals noch keine Idee, welche Entwicklung das Ganze nehmen würde.“ 

Zu Gute kam den Frauen beim Vertrieb ihrer Gemüsegläser in den ersten Jahren, dass Fahrije schon unmittelbar nach dem Krieg den Führerschein gemacht und sich ein Auto gekauft hatte. Leicht sei es den Witwen jedoch nicht immer gefallen, sich mit ihrer 2010 in eine kommerzielle Agrarkooperative umgewandelte Selbsthilfeinitiative über das soziale Stigma und die Vorurteile hinwegzusetzen, bekennt Fahrije: „Aber wir nahmen unsere Leben in die eigenen Hände – und verschafften uns selbst unseren eigenen Lebensunterhalt.“

„Nur mit Arbeit kommt man über den Kummer hinweg – und muss nicht ständig an die Ermordeten denken.“

Heute zähle die Kooperative 50 Beschäftigte, werde von 70 Landwirten beliefert und exportiere ihre Gemüse- und Ajvargläser selbst in die Schweiz und nach Deutschland: „Inzwischen sind es mehr als 200 Familien, die von unserer Arbeit leben.“ Die Frauen aus Krusha seien „Helden aus dem echten Leben“, sagt Farije. Es gebe viele Dörfer in Kosovo, die im Krieg stark gelitten hätten: „Aber nur wenige haben die Initiative gezeigt, aus dieser Situation etwas zu machen. Wir sind sehr stolz, wenn wir nach Deutschland fahren, und unsere Produkte dort in mehr als achtzig Läden sehen.“

Außer Witwen sind bewusst auch Frauen mit arbeitslosen Männern in der Kooperative beschäftigt, die so ihren Familien den Lebensunterhalt sichern können. Nicht nur die Frauen hätten sich mit ihrer Arbeit „resozialisiert und rehabilitiert“, sondern im Dorf habe sich auch die Einstellung zu den Kriegswitwen geändert, berichtet Fadile Hoti, die seit 2011 in der Kooperative arbeitet: „Bis vor sechs Jahren konnte ich nicht einmal zu Hochzeiten gehen – Witwen waren dort nicht erwünscht.“ Inzwischen habe sich das Dorf daran gewöhnt, dass Frauen auch einmal alleine ins Cafe gehen, um sich mit anderen zu treffen oder einen Kaffee zu trinken. Auch die mittlerweile erwachsenen Kinder würden viel mehr Verständnis für die Lage ihrer Mütter zeigen als früher: „Wenn ich manchmal keine Lust habe, einen Kaffee trinken zu gehen, ermuntert mich heute immer mein Sohn, notfalls auch alleine auszugehen.“

„Am Anfang war unser Ziel einfach, aktiv zu sein, etwas für uns selbst zu tun“

Stolz führt Direktorin Fahrije Besucher durch die Abfüll- und Verladehallen der Krusha-Kooperative. Sehr langlebig sei das überwiegend von den Bauern aus der Umgebung aufgekaufte Gemüse leider nicht und müsse nach der Ernte in einem sehr arbeitsintensiven Zeitraum von zwei Monaten relativ schnell verarbeitet, eingemacht und vertrieben werden: „In der Erntesaison arbeiten wir darum im Schichtsystem - notfalls 24 Stunden nonstop.“

Die Arbeit sei vielseitig und werde von den Frauen „kollektiv ausgeführt“, so Fadile: „Dass Fahrije Direktorin ist, bedeutet nicht, dass sie nur Anweisungen erteilt: Alle Arbeiten werden von allen gemacht.“ Die Anmietung eines größeren Werksgeländes in diesem Jahr sei geplant, neue Partner und Finanzmittel zur Realisierung der Wachstumspläne würden noch gesucht, so Fahrije: „Wir wollen größer werden, strukturierter arbeiten – und mehr Leute einstellen.“

„Aber wir nahmen unsere Leben in die eigenen Hände – und verschafften uns selbst unseren eigenen Lebensunterhalt.“

Selbst an Hochschulen und Universtäten berichten die Witwen von Krusha inzwischen über ihre Kooperative. „Wir versuchen unsere Erfahrungen zu verbreiten, zeigen durch welche Phasen unsere Kooperative ging – und wie sich ähnliche Firmen am besten gründen lassen“, so Betriebspionierin Fahrije: „Unsere Türen sind offen für jeden, der um Rat und Hilfe fragt.“

Doch trotz der erfolgreichen Arbeit der Krusha-Kooperative bewertet deren Direktorin die wirtschaftlichen Perspektiven des Kosovo eher düster. Nicht nur in Krusha sei das größte Problem, dass die Jungen wegen des Mangels an Arbeitsplätzen in die Emigration getrieben würden: „Für unsere Jungen gibt es hier keine Arbeit, kein Zuhause - und Zukunft.“

Die Ursache von Kosovos Dauermisere sei die Korruption, die von der Polizei über die Politik und das Bildungswesen bis zur Justiz alle Bereiche der Gesellschaft infiziere: „In Kosovo kommt man im Leid – und geht man im Leid. Solange die jetzige Generation krimineller Politiker nicht ausgestorben ist, wird sich in Kosovo nie etwas ändern.“