Nach der Europawahl: Wohin steuert die Europäische Union?

Konferenzbericht

Die Europäerinnen und Europäer haben gewählt. Das Wahlergebnis ist so vielfältig wie Europa selbst. Auf unserer Konferenz „Nach der Europawahl: Wohin steuert die Europäische Union?“ am 04. Juni analysierten wir die Wahlergebnisse, fragten nach Ursachen für das Abstimmungsverhalten in den einzelnen EU-Ländern und diskutierten mit europäischen Expertinnen und Experten, wie sich die neuen Mehrheitsverhältnisse auf die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlamentes, das Zusammenwirken der Europäischen Institutionen und die zukünftige politische Ausrichtung der EU-Politik auswirken werden.

Dr. Ellen Ueberschär - Vorstand der Hienrich-Böll-Stiftung
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Dr. Ellen Ueberschär

Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, hob gleich zu Beginn der Konferenz europaweite Trends hervor: Im Vergleich zur letzten Wahl war die Wahlbeteiligung europaweit höher. Dies sei Ausdruck eines neuen Bewusstseins in der europäischen Bevölkerung von der Bedeutung eines vereinigten Europas. Dies sieht sie auch im zweiten Trend: Pro-Europäische Kräfte konnten trotz Erstarken von Populist/innen ihre Gestaltungsmacht erhalten. Besonders positiv sei auch auf das Erstarken pro-europäischer und anti-populistischer Bewegungen in den Zivilgesellschaften zu sehen, die häufig unter der EU-Flagge demonstrierten.

Europa ist mehr als Europaparlament, Rat und Kommission. Europa sind seine Bürgerinnen und Bürger, die sich in den letzten Monaten für Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Humanität engagiert haben – nicht selten unter der europäischen Flagge. Egal ob in Warschau, Bukarest, Wien, London oder Berlin – was wir in den letzten Monaten und Jahren beobachten konnten, ist eine europäische Zivilgesellschaft, die in einer europäischen Öffentlichkeit über europäische Innenpolitik streitet. Europa ist für viele Menschen inzwischen ein natürlicher Bezugsrahmen für politische und gesellschaftliche Debatten. Das ist ein Erfolg für alle Europäerinnen und Europäer.        

Umso wichtiger ist es nach der Wahl, nun die Herausforderungen, vor der die Europäische Union steht, anzugehen.   Für ein tieferes Verständnis ist es wichtig, diese Wahl nicht nur aus deutscher Perspektive zu betrachten, sondern auch eine gesamteuropäische Sicht einzunehmen. Unabhängig davon, wie unterschiedlich die Ergebnisse in den einzelnen Mitgliedsländern aussehen, steht Europa vor Herausforderungen, die nur geeint gelöst werden können. Daher stellt sich nun die Frage, wie man trotz Polarisierung und Fragmentierung aus einem „Nebeneinander oder gar Gegeneinander jetzt im Parlament ein Miteinander“ bilden kann, so der DIE ZEIT Korrespondent Michael Thumann.     

Wunsch nach Wandel als Wahl-Motivation

Ivan Krastev, Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies und Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, sieht im Wahlergebnis einen starken Wunsch der Bevölkerung nach Wandel. Dies äußere sich entweder in der Wahl von Populisten auf der einen Seite oder in der Wahl von neuen, progressiven Parteien auf der anderen. Beide Seiten äußern Unzufriedenheit mit der EU – jedoch selbstverständlich mit unterschiedlichen Akzenten und Ursachen.

Während bei den Rechten das bestehende Ausmaß der Kompetenzen der EU kritisiert wird, wollen progressive, pro-Europäische Bewegungen eine stärkere Integrierung zum Bewältigung globaler Herausforderungen. Bei beiden Seiten kann ein Narrativ des „Rettens“ gefunden werden. Die Grünen Parteien sprechen von der Rettung des Planeten, die rechten von der Rettung ihrer Werte und „Lebensweise“. Bei den jeweiligen Fraktionen herrsche – im Gegensatz zu den Etablierten Parteien – eine Bewegungsstruktur, die man auch auf der Straße sehen kann.

In der Fragmentierung des Parlaments sieht Krastev auch eine regionale Fragmentierung: Bei den Sozialisten sind vor allem Süd-Europäerinnen stark vertreten, bei den Konservativen aus Ost-Europa. Die sogenannten „Grüne Welle“ fand vor allem in Westeuropa statt.

Sven Giegold, MdEP und Spitzenkandidat von Bündnis 90/Die Grünen zur Europawahl 2019, sieht in der Wahl – anders als vorher häufig angekündigt – keine „Schicksalswahl“. Die Zusammensetzung der einzelnen Blöcke habe sich zwar etwas geändert, unterm Strich ist das Ergebnis jedoch eher eine Wahl des „Status Quo“. Die tatsächliche große Veränderung ist nun aber, dass es keine Mehrheit mehr für eine Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten mehr geben wird. Hier sieht er aber auch eine Chance für neue Dynamiken im Parlament. Gemeinsam mit Liberalen und Grünen kann nun eine breite, pro-Europäische Mehrheit Handlungsblockaden lösen.

Im Anschluss sprachen Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Ländern über die nationalen Wahlergebnisse und die Konsequenzen für die jeweilige Europapolitik des Landes. In den jeweiligen Mitgliedsstaaten stellt sich die Frage, ob es einen Diskurs über europäische Themen gab oder nationale Fragen dominierten.

 

Quelle: Europäisches Parlament

 

Quelle: Europäisches Parlament

Piotr Buras, Leiter des Warschauer Büros, European Council on Foreign Relations, sieht in der Namensgebung der polnischen Opposition im Wahlkampf einen Versuch, eine Debatte zu europäischen Themen zu starten. Dies sei jedoch nicht gelungen: Europäische Themen haben im Wahlkampf in Polen tatsächlich kaum eine Rolle gespielt und die Wahl wurde eher als eine Art Stimmungstest für die nationale Parlamentswahl im Herbst gesehen. Die Hochstilisierung der Wahl auf eine Art „Schicksalswahl“ für Europa und Polen konnte nicht genug Wählerinnen mobilisieren. Das starke Ergebnis für die PiS Partei zeige auch, wie zufrieden ein Großteil der Bevölkerung mit der Politik der Regierung sei. Der europaweite Trend der Fragmentierung ist aber auch hier klar zu sehen. Die klare Gewinner-Partei PiS stellt die EU-Mitgliedschaft zwar nicht in Frage, sie setzt sich jedoch dafür ein, dass die Rolle der Nationalstaaten wieder gestärkt wird. So ist eine klare Forderung Polens, das Mehrheitsstimmrecht im Europäischen Rat nicht auszuweiten. Bei Fragen wie Klimapolitik oder transatlantischen Beziehungen, steht der Kurs Polens eher gegen den der EU – dementsprechend stehe die EU nun vor einer Herausforderung, mit einer noch mehr gestärkten PiS in Polen Kompromisse einzugehen.


 

Quelle: Europäisches Parlament

 

 

Quelle: Europäisches Parlament

 

Auch in Griechenland hatte der Wahlkampf einen Fokus auf nationale Themen und dementsprechend kann laut Prof. Dr. Lina Papadopoulou die Wahl auch als eine Art „Zwischenwahl“ für die aufgrund des schlechten Wahlergebnisses für Syriza vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli interpretiert werden. Die Regierungspartei wurde von Wähler/innen abgestraft. Als klare Siegerin ging hier die konservative Partei Nea Dimokratia hervor. Offen EU-Kritische Parteien verloren dagegen stark. 


 

Quelle: Europäisches Parlament

 

Quelle: Europäisches Parlament

Frankreich gehört zu den Ländern, in denen die Volksparteien mit einem sehr schwachen Ergebnis abgestraft wurden. Sozialdemokraten und Republikaner haben kaum noch relevante Ergebnisse. Die Rechtextreme Partei Rassemblement national ging als stärkste Kraft aus der Wahl hervor. Die Partei des Staatspräsidenten Macron, En Marche, unterlag jedoch – entgegen der Erwartungen – nur sehr knapp. Die Grünen kamen überraschend stark auf Platz 3. Prof. Dr. Sylvie Strudel, Professorin für Politikwissenschaften an der Sorbonne, sieht vor allem den Trend einer starken Personalisierung. Der Europa-Wahlkampf glich eher einem „Zusammenstoß“ zwischen Macron und Le Pen, die beide selbst nicht zur Wahl standen, was zur sowieso schon ausgeprägten Polarisierung im Land beitrug. Trotz alledem könne man aber auch von der gestiegenen Wahlbeteiligung immerhin auch ein gestiegenes Bewusstsein für europäische Politik in der französischen Gesellschaft ableiten.


 

Quelle: Europäisches Parlament

 

Quelle: Europäisches Parlament

Prof. Dr. Uwe Jun sieht die Wahl in Deutschland vor allem als eine „Klima-Wahl“. Die deutsche Bevölkerung sei zwar auch laut vieler Studien europafreundlicher als jemals zuvor, entscheidend für den starken Zuwachs der Grünen sieht er jedoch im thematischen Fokus. Dieser Trend sei auch schon zuvor auf Landesebene sichtbar gewesen, wo auch die Parteien der GroKo schon abgestraft wurden. Europa-kritische Parteien wie die AfD haben vor der Wahl extremere Positionen abgeändert – einen Austritt („Dexit“) fordere niemand mehr.

Zusammenfassung

Zusammengefasst lässt sich also sagen: In Westeuropa haben die Grünen Grund zum Jubeln. In Polen und Ungarn wurden die rechtsnationalen Regierungsparteien, mit denen die EU wegen des Abbaus von Rechtsstaatlichkeit im Clinch liegt, bestätigt. Die rechtsextremen und rechtspopulistischen Kräfte konnten in einigen Ländern zwar hohe Ergebnisse einfahren - und in Frankreich, Italien und Großbritannien gar als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen - doch war ihr Auftrieb nicht so explosiv wie befürchtet. Dementsprechend ist die vorher angekündigte „Schicksalswahl“ nicht eingetreten.

Was diese nationalen Trends auf der europäischen Ebene bedeuten, wurde im zweiten Panel „Wohin steuert die EU nach der Europawahl“ beleuchtet: Der Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei, Reinhard Bütikofer betonte in der Abschlussrunde die besondere Rolle der Grünen im neugewählten Parlament und sagte klar, dass er die Chancen bei mehr als 50 Prozent sehe, dass die Grünen nun als Mehrheitsmacher gebraucht würden, vor allem in Anbetracht der Zerstrittenheit und Fragmentierung der sozialdemokratischen und liberalen Fraktionen. Diese habe sich in der letzten Legislaturperiode manifestiert:

Die Kohäsion und der Zusammenhalt der liberalen und sozialdemokratischen Fraktion ist so schwach, dass die rein zahlenmäßige Addition keine verlässlichen Gestaltungsmöglichkeiten zulässt.

Bei allem Grund zur Freude, sollte dennoch nicht vergessen werden, dass die Erfolge der Grünen vor allem im Norden und Westen Europas verbucht werden konnten, die EP-Wahl kann in diesen Regionen gar als „Klimawahl“ verstanden werden, allerdings gilt dies nicht für Gesamteuropa. Im Osten und Südosten erhielten grüne Themen wenig Rückhalt, grüne Parteien, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, spielten dort keine Rolle. Es wäre deshalb wichtig, für grüne Gesetzesentwürfe und Initiativen auch Anknüpfungspunkte für Themen und Belange in diesen Regionen zu finden, um gemeinsame Projekte zu entwerfen, um Europa gemeinsam zu gestalten. Diese Trennung zwischen Ost und West, Norden und Süden, müsste überwunden werden.

Stadt – Land-Gefälle in vielen Regionen Europas hat sich verstärkt

Auf die Frage, welche zentralen Aufgaben für das EP in den nächsten 5 Jahren ganz oben auf der Agenda stehen müssen, nannte Bütikofer: den Kampf um Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern, ein gemeinsames Voranschreiten in der europäischen Außenpolitik, hier vor allem die Überwindung der Einstimmigkeit, um handlungsfähiger gegenüber den USA und China zu werden, und als Hauptfokus, die Klimapolitik.

Gerade aber bei der Klimapolitik wäre es ein zentrales Anliegen diese mit einer Industriepolitik oder vielmehr Infrastrukturpolitik zu verbinden. Die EP-Wahl hat gezeigt, dass sich gerade viele Menschen im ländlichen Raum abgehängt fühlen und die Anbindung an das globale Europa verloren haben. So hat sich das Auseinanderdriften von urbanen und ländlichen Räumen in fast allen Ländern Europas in der letzten Legislaturperiode noch verstärkt. Es ist die Aufgabe des neues EP der Deindustrialisierung ländlicher Räume etwas entgegen zu setzen, und Industriepolitik so sozial und ökonomisch verträglich wie möglich zu machen. Gerade hier kann Europa soziale Standards und Rahmenbedingungen schaffen, wie beispielsweise die Durchsetzung von Mindestlohn.