Das Weniger muss mehr werden

Kommentar

So verheißungsvoll die Utopie der Versöhnung von Ökonomie und Politik auch sein mag: Wenn wir globale Gerechtigkeit wollen, ist nicht nur die Frage „Wie viel ist genug?“ unumgänglich – wir werden auch Debatten führen und Konflikte austragen müssen.

Das Weniger muss mehr werden Buschfeuer in Cessnock

Apokalyptische Bilder erreichen uns: Millionen Hektar verbrannter Erde in Kalifornien, Borneo, Sibirien, Brasilien, Australien, viele Todesopfer, eine Milliarde getöteter Tiere. Die brutalen Folgen des Klimawandels werden sichtbar und machen uns einmal mehr bewusst, dass unser „Wohnhaus Erde“ buchstäblich in Flammen steht.



Klima- und Umweltwissenschaft sind sich einig: Wir sind dabei, die natürlichen Grenzen unserer Erde zu überschreiten, mit irreversiblen Folgen für die Bio- und Atmosphäre. Und die Zukunft des Lebens der Menschen auf der Erde. Die radikale Umkehr, zu der sie aufrufen, ist historisch einmalig. Um sie zu erreichen, brauchen wir die Bereitschaft zum Konflikt – auch mit mächtigen Interessengruppen.



Diese ökologische Krise vollzieht sich in einer Welt der Ungleichheit, in der rund 20 Prozent der globalen Eliten und Mittelklassen gut leben, produzieren und konsumieren können, weil sie es auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten und der Natur tun. Wir tun das – um nur ein Beispiel zu nennen –, indem wir in Brasilien oder Argentinien Abermillionen Hektar für den Anbau von Soja okkupieren, das für die billige Fleischproduktion in den Futtertrögen Europas landet. Dadurch werden Hunderttausende von Kleinbäuerinnen und Bauern vertrieben, ihrer Lebensgrundlage beraubt und die Umwelt unwiederbringlich zerstört. Die Klimakatastrophe steigert die menschliche Not.



Das ist kein Alarmismus, sondern eine Aufforderung, mit diesen Erkenntnissen politisch und gesellschaftlich umzugehen. Gerechtigkeit hat längst nicht nur eine soziale, sondern eine ökologische Dimension. Nichts anderes bedeutet es, wenn wir davon sprechen, die planetaren Grenzen zu respektieren, die Umwelt zu schützen, den Klimawandel aufzuhalten und dabei die soziale Ungleichheit abzubauen. Das ist eine politische Aufgabe ersten Ranges, die von denen, die sie bewältigen müssen, nach wie vor nicht zureichend ernst genommen wird. Sie müssten die Fehlentscheidungen der Vergangenheit korrigieren und die Stabilisierung des Erdsystems endlich einleiten.



Ob das Klimapaket der Bundesregierung oder die internationalen Klimaverhandlungen: Die Weichen, um die Pariser Klimaziele wirklich zu erreichen, die mittlere Erderwärmung deutlich unter zwei Grad zu halten, werden nicht gestellt.



So scheint mir die Dystopie einer Erde, die immer unbewohnbarer wird, auf der Städte im Meer zu versinken drohen und Milliarden Menschen vertrieben werden, immer näher. Und die Utopie von einer Welt ohne Hunger, Armut und Elend, mit einem guten Leben für alle Menschen in Wohlstand und Freiheit, rückt immer weiter in die Ferne.



Doch Hoffnung ist Kern des Menschseins, und so haben es die neuen Klimabewegungen von „Ende Gelände“ bis „Fridays for Future“ geschafft, uns die drohende Dystopie so vor Augen zu führen, dass es neuen Schwung gibt in der Diskussion um eine lebenswerte Zukunft. Dies gilt auch für die vielfältigen Proteste auf allen Kontinenten gegen politische Willkür und Machtmissbrauch und für mehr Demokratie, Menschenrechte und politische Teilhabe. Es sind diese Bewegungen und Proteste, die beides – soziale und ökologische Gerechtigkeit – ins Zentrum ihres politischen Aktivismus stellen.



„Climate Justice Now“ ist einer der wichtigsten Slogans der globalen Klimabewegung. Er artikuliert ein um die Ökologie erweitertes Verständnis globaler Solidarität. So, wie wir Wenigen produzieren und konsumieren, auf Kosten der Natur und der Armen und Ärmsten, graben wir dem guten Leben für alle immer weiter das Wasser ab – auch unserem eigenen und dem unserer Kinder!



Sie ist also sehr lebendig, die Allianz von Menschen, die eine Vision vom Ende der Ungerechtigkeit, einer Welt ohne Armut und einer besseren, sicheren und friedlichen Welt für alle haben – und dafür auf die Straße gehen und kämpfen.



Das Wissen um die planetaren Grenzen gemeinsam mit den machtkritischen und sozialen Analysen zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind der Ausgangspunkt für eine positive Vision, die nicht lähmt, sondern zu radikalem Handeln geradezu herausfordert. Und Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Vielfalt sind das normative Fundament, auf dem transformative Strategien für eine lebenswerte Zukunft ausgehandelt werden müssen. Sie sind die Errungenschaften der Moderne, die es zu erhalten gilt.



Das normative Zukunftsprojekt heißt sozialökologische Transformation. Das Ziel ist eine Jahrhunderte alte Utopie: das gute Leben für alle. Die Aufgabe ist riesig. Dieses Zukunftsprojekt heißt: keine Klima-Emissionen mehr, damit der Klimawandel und der Anstieg der Temperatur gestoppt wird. Aber wenn wir auch das Versprechen eines guten Lebens für alle einlösen wollen, muss die Transformation andere Politikfelder mit einschließen. Und Lösungen müssen nicht nur daran gemessen werden, ob sie ökologisch überzeugen, sondern auch daran, ob sie demokratisch und sozial liefern.



Das schließt als politische Aufgabe mit ein, das Konflikthafte auf dem Weg der Transformation nicht nur aufzuzeigen, sondern zu gestalten. Denn radikales Umsteuern geht nicht ohne Konflikte und Brüche. Zielkonflikte sind vorprogrammiert.



„Die Besonderheit der modernen Demokratie liegt in der Anerkennung und Legitimierung des Konflikts und in der Weigerung, ihn durch Auferlegung einer autoritären Ordnung zu unterdrücken“, so Chantal Mouffe, die analysierte, wie der Konflikt aus der politischen Agenda zugunsten konsensorientierter Verfahren gedrängt wurde und wird. Sie hält zu Recht Meinungsverschiedenheiten und Konflikte in einer pluralistischen Demokratie nicht nur für legitim, sondern für notwendig. „Sie enthalten den Stoff, aus dem demokratische Politik gemacht wird.“

Die Konflikte, um die es hier geht, sind mannigfaltig: Was heißt Fairness und Gerechtigkeit global für die Verteilung von Ressourcen und Emissionen aller Art, wenn ein Leben in Würde für alle ein konkretes Ziel und nicht nur ferne Utopie bleiben soll? Brauchen wir Gentechnik, um zehn Milliarden Menschen zu ernähren? Bauen wir statt kleinbäuerlicher Landwirtschaft Biokraftstoffe an, damit die Mobilität angeblich klimaneutral wird? Aber nehmen wir dabei auch in Kauf, dass wir noch mehr Landfläche umwandeln müssen und so noch mehr Biodiversität zerstören? Setzen wir auf Großtechnologien, um CO2 aus der Atmosphäre zu saugen, anstatt die Emissionen radikal zu reduzieren? Und nehmen wir dabei in Kauf, dass diese Technologien in den Händen einiger weniger Unternehmen, ohne demokratische Kontrolle, liegen werden?

Wir werden also vor immensen Zielkonflikten stehen, die frühzeitig erkannt und transparent gemacht werden müssen, damit wir sie überhaupt gesellschaftlich aushandeln können. Das ist demokratische Politikgestaltung. Doch die meisten politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger scheuen sich davor, sie offen anzusprechen. Vielleicht ducken sie sich vor ihrer demokratisch-gesellschaftlichen Verantwortung, weil sich mit einfachen Analysen und Antworten einfacher Wahlen gewinnen lassen. Und Politik macht sich allzu häufig erpressbar, beugt sich den Lobbys.

Das sehen wir zum Beispiel, wenn es um das Thema Mobilität, Dieselskandal und Tempolimit auf den Autobahnen geht. Oder wenn die EU-Agrarpolitik nach wie vor Subventionen an Großbauern ausschüttet, anstatt Bäuerinnen und Bauern vor allem dafür zu entlohnen, dass sie in eine gesunde, ökologische und tierwohlorientiere Landwirtschaft investieren. Es kann aber nichts mehr so bleiben wie es war. Das ist doch die radikale Botschaft nicht nur der Klimawissenschaft, sondern der real existierenden Klimakatastrophe.

Auf dem Weg zum besseren Leben für alle und in eine sozial-ökologische Transformation wird es auch um Machtfragen gehen: Wer kontrolliert das Wissen, das Saatgut, die Technologien? Wirtschaftliche und Wissensmonopole müssen deshalb begrenzt, eingehegt und umverteilt werden. Nur so können wir auch das Diskursmonopol aufbrechen, wenn es um Lösungen geht.

Es darf eben nicht dabei bleiben, dass wir als Antwort auf Klimawandel, Hunger, Armut und Krankheit nur über Technologien – von neuer Gentechnik oder Geo-Engineering – reden. Sondern wir müssen vielfältige Optionen diskutieren – nicht alle Innovationen sind technologischer Natur! Eine Antwort auf zu viel CO2 in der Atmosphäre muss sein, weniger zu produzieren, statt darauf zu wetten, dass wir es schon irgendwann schaffen werden, das Gas wieder aus der Atmosphäre zu saugen. Die Antwort auf Unterernährung und Hunger müssen nicht Pestizide und Kunstdünger sein – die Agrarökologie ist eine der Möglichkeiten, die ganz ohne diese vermeintlichen Wundermittel Antworten anbieten. Wir haben (und einige leben bereits) Alternativen und wir haben Handlungsspielräume für eine lebenswerte Zukunft – noch.



Diese Zuversicht, diesen Mut brauchen wir – und ein Verständnis davon, wie die wirtschaftlichen und politischen Interessen, die Ressourcen und die Macht derjenigen , die für sich die Hegemonie über den Transformationsweg reklamieren, zu kontern sind. Dann finden wir nicht nur im individuellen, sondern und gleichzeitig im politischen Handeln Antworten und Lösungen.



Welchen Weg wir auch gehen, soziale und ökologische Kämpfe sind immer eingeschlossen. In Verständigung um den Weg der Transformation als gutes Leben können sie unter Umständen sogar die Essenz und der Kern für Wandel sein. Konsens, Streit und Konflikte müssen wir als Teil der Transformation, als Teil des notwendigen Suchprozesses begreifen, auf den wir uns einlassen. Und dafür brauchen wir eine Stärkung der Autonomie des Politischen, brauchen Diskurs- und Handlungsspielräume. Wir müssen uns auf hartes Aushandeln, auf Konflikte einstellen. Denn so schön die Utopie der Versöhnung von Ökonomie und Politik ist: Voraussetzung dafür wären ein neues Verständnis und eine neue Wirklichkeit einer Ökonomie, die sich den planetaren Grenzen und dem guten Leben für alle Erdenbürgerinnen und -bürger unterordnet.

Zum Leitbild einer grünen Transformation gehört auch die Kunst des Unterlassens, des Schrumpfens, des Weniger. Die Frage der Suffizienz, „Wie viel ist genug?“, wird sich eben nicht und schon gar nicht im Kontext globaler Gerechtigkeit umgehen lassen. Davon wollen die Protagonisten eines nur leicht grün angestrichenen „Weiter so“ nichts wissen. Das passt nicht ins „Geschäftsmodell“.

Die Vorstellung für das gute Leben setzt auf Wiederbelebung und Erweiterung der Demokratie von unten, auf demokratische Parlamente und Institutionen, auf die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Und auf Widerständiges.


Der Artikel erschien zuerst in auf der Website der Frankfurter Rundschau >>