Bringt die Zwangsisolierung in Zeiten des Coronavirus die US-Volkszählung zum Scheitern?

Hintergrund

In den nächsten Wochen und Monaten sollte in den USA der Zensus durchgeführt werden: Eine Zählung der Bevölkerung, die unter anderem für die Wertung der verschiedenen Bundesstaaten im Zuge der Präsidentschaftswahlen relevant ist. Durch den Ausbruch des Coronavirus ist es möglich, dass die Ergebnisse des Zensus nicht mehr repräsentativ sind und damit Wahlergebnisse beeinflussen könnten.

Menschen protestieren gegen den Zensus

Was passiert, wenn ein Ereignis, auf das sich die Amerikaner/innen seit Jahren vorbereiten, und das soziale Interaktion zum Gelingen braucht, nämlich die alle zehn Jahre stattfindende US-Volkszählung, zeitgenau auf eines trifft, auf dass sich die Vereinigten Staaten hätten besser vorbereiten können, und dass nur mit extremer sozialer Isolierung in den Griff zu bekommen ist, nämlich die Coronavirus-Pandemie? Die Antwort wird in den nächsten Wochen und Monaten deutlich werden. Viel hängt vom Erfolg des 2020 US-Zensus ab – nicht zuletzt wie zukünftige US-Regierungen gewählt werden und die Fähigkeit amerikanischer Bundestaaten, Städte und Gemeinden, handlungsfähig zum Schutz und Wohl der Gesamtbevölkerung sein zu können, inklusive in Krisensituationen wie COVID-19. Hier gilt tatsächlich die Floskel, das nur zählt, wer gezählt wurde.

Der Zeitpunkt des Starts des 2020 US-Zensus, einen Tag nachdem die Weltgesundheitsorganisation den Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie erklärte, hätte nicht ungünstiger sein können. Schon ohne die Komplikation durch den Coronavirus ist die von der US-Verfassung verpflichtend vorgeschriebene Volkszählung einmal pro Dekade, die zum 24. Mal seit 1790 durchgeführt wird, ein ausuferndes und komplexes soziales Unterfangen, eine gigantische Mobilisierung einer Heerschar von Zensusmitarbeiter/innen, Gemeindeorganisatoren und Behörden, um jede in den Vereinigten Staaten und fünf US-Territorien lebende Person zu zählen, unabhängig vom Staatsbürger- oder Immigrantenstatus jedes einzelnen.

Relevanz des Zensus

Dabei geht es um nicht weniger als um die Grundfesten der amerikanischen Demokratie: die Ergebnisse der Erhebung liefern die Grundlage für die periodisch notwendigen Korrekturen der Wahlbezirke für die 435 Sitze im US-Repräsentantenhaus, und damit auch die Stimmen einzelner Bundesstaaten im Wahlkollegium, die für die Wahl des amerikanischen Präsidenten ausschlaggebend sind. Per Gesetz müssen nämlich Wahl- und Rechtsbezirke ungefähr gleich große Bevölkerungszahlen vorweisen. Neben der Zuteilung politischer Macht, hängt von den Ergebnissen des 2020 Zensus auch ab, wie Billionen an US-Bundesgeldern über die nächsten zehn Jahre proportional zu ihrem Anteil an der US-Gesamtbevölkerung auf die 50 Bundesstaaten verteilt werden. Das sind allein geschätzte US$ 1.5 Billionen an Geldern aus Washington, die für staatliche Gesundheitsprogramme und Hospitäler, zur Unterstützung von Schulen oder Infrastrukturmaßnahmen verteilt werden. Tatsächlich sind es Datenerhebungen wie der US-Zensus, die den Städten und Gemeinden die Datengrundlagen geben, auf Basis derer Gesundheitsexpert/innen zum Bespiel Gesundheitskrisen wie COVID-10 managen. Neben Regierungsstellen nutzen auch Unternehmen und der Wirtschaftssektor die Zensus-Daten, um zu entscheiden, wo Supermärkte oder Fabriken gebaut oder Dienstleistungen angeboten werden.

Für das US-Zensusbüro könnte die Corona-Krise zum Albtraum werden. Verzögerungen in der normalen Choreographie der Befragung sind unvermeidbar geworden. Darunter könnte nicht zuletzt auch die Genauigkeit der Zensus-Ergebnisse leiden, die jetzt bis Mitte August zusammengetragen werden sollen. Zwar erlaubt die diesjährige Volksbefragung die Beantwortung des Fragebogens, den alle US-Haushalte in den vergangenen Tagen zur Selbstbeantwortung erhalten haben, erstmals auch vorrangig im Internet zusätzlich zur traditionellen Beantwortung per Post oder Telefon. In nur wenigen Tagen haben bereits fast ein Viertel der US-Haushalte ihre Fragebögen ausgefüllt. Aber die digitale Kluft in den USA macht die Beteiligung beispielsweise für ärmere Haushalte ohne Internetzugang schwieriger, zumal Büchereien mit kostenlosen Internet geschlossen haben. Auch die gezielten Outreach-Bemühungen von Bürgerrechtsgruppen und gemeinnützigen Vereinen bei Gemeinde- oder Sportveranstaltungen, auf die sich viele Städte und Gemeinden seit Monaten vorbereitet haben, um sicherzustellen, das umfassend gezählt wird, sind bis auf weiteres ausgesetzt. Der Start der Befragung von Personen in Gruppenquartieren wie Gefängnissen, Altersheimen, Universitäten oder Obdachlosenbehausungen wurde um Wochen nach hinten verschoben. Ob es im April oder Mai möglich sein wird, zehntausende Volkszähler/innen (darunter überproportional viele über 60-jährige, die selbst zur Corona-Risikogruppe zählen) wie geplant in Gruppenheime zu senden oder bei den Haushalten nachhaken zu lassen, die den Fragebogen zwar erhalten, aber nicht beantwortet haben, oder aber die Bevölkerungsgruppen aufzuspüren, die schwer zählbar sind, darf angesichts anhaltender Infektionsgefahr bezweifelt werden.

All dies könnte in Zeiten der Corona-Krise die Ungenauigkeit früherer Zensusbemühungen noch verschlimmern, und damit gerade den US-Bevölkerungsgruppen politische Repräsentation und Finanzunterstützung auch für die nächsten zehn Jahre verwehren, die in den USA bereits ohne Coronavirus aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Immigrations- oder Einkommensstatus politisch, wirtschaftlich und sozial marginalisiert sind.

Verzerrung der Ergebnisse

Bereits vor der Corona-Pandemie hatten im vergangenen Jahr Zensus-Beobachter wie das Urban Institute gewarnt, dass die diesjährige Volksbefragung, dazu führen könnte, dass die am schwierigsten zu zählenden Bevölkerungsgruppen noch mehr als in der Vergangenheit chronisch unterzählt werden könnten, nämlich vor allem bis zu vier Millionen Hispanics und Afroamerikaner/innen.  Auch rund 1,3 Millionen Kleinkinder jünger als fünf Jahre gehören dazu, ebenso wie wie die LGBTQ-Gemeinde, Menschen für die Englisch nicht die Muttersprache ist, die 6,2 Millionen US-Haushalte mit unkonventionellen Adressen beispielsweise in Reservaten für amerikanische Ureinwohner/innen, Mieter/innen oder die mehr als 500.000 Obdachlosen. Um sicherzustellen, dass diese US-Bevölkerungsgruppen akkurat gezählt werden können, bräuchte es ein Engagement auf lokaler Ebene, das in Zeiten der Corona-Pandemie und der Vorgabe sozialer Isolierung einfach nicht mehr machbar ist.

Zusätzlicher Schaden – und ein nicht zu unterschätzender Vertrauensverlust –  entstand zudem im Vorfeld des Zensus durch den Versuch der Trump-Regierung, den Zensus durch die Einführung einer Frage zur US-Bürgerschaft der Befragten zu politisieren, und den Immigrationsstatus von Personen erstmals seit 1950 wieder abfragen zu wollen. Bürgerrechtsgruppen und selbst das Zensusbüro hatten dagegen protestiert, weil sie die Nichtbeteiligung von rund 6.5 Millionen Haushalten mit Immigrant/innen und Minderheiten am Zensus befürchteten, mehrheitlich Wähler/innen der Demokraten. Der Oberste Gerichtshof der USA blockierte den Vorstoß letztlich im Juni letzten Jahres. Tatsächlich wurde im Umfeld der Gerichtsanhörung bekannt, dass ein republikanischer Experte fürs Gerrymandering (das Verschieben amerikanischer Wahlkreisgrenzen um den Gewinn einer Partei zu sichern) bereits 2015 angedeutet hatte, dass eine Bürgerschaftsfrage im 2020 US-Zensus zu einem entscheidenden Wahlvorteil für Republikaner im Repräsentantenhaus führen könnte. Obwohl also juristisch abgewehrt, besteht das Misstrauen und die Verwirrung um den 2020 US-Zensus fort. Noch Ende Februar dachten laut einer Umfrage 70 Prozent der Befragten, der Zensus-Fragebogen würde Angaben verlangen, welche Haushaltsmitglieder US-Bürger sind. Rund 40 Prozent aller nicht-weißen Befragten und Haushalte mit Immigrationshintergrund gaben an, extrem besorgt darüber zu sein, dass ihre Zensus-Daten in die falschen (staatlichen) Hände gelangen könnten. Und das obwohl dem staatlichen Zensus-Büro per Gesetz auferlegt ist, identifizierbare Personendaten vom Zensus für 72 Jahre geheimzuhalten, und auch nicht an Regierungsstellen wie die Immigrationsbehörden weiterzuleiten. Diese Angst wurde auch über gezielt fortgesetzte Fehlinformation, zum Beispiel über soziale Netzwerke wie Twitter, geschürt.

So könnte sich auch durch die Ergebnisse des 2020 US-Zensus der Trend fortsetzen, dass Bundesstaaten wie Kalifornien, New York, Texas und Nevada mit einem hohen Prozentanteil von nicht-weißen und einkommensschwachen Einwohner/innen, darunter viele mit Migrationshintergrund, die tendenziell demokratisch wählen, politisch unterrepräsentiert bleiben, während Bundesstaaten mit älterer, vorwiegend weißer Bevölkerung und einem hohen Anteil von Hausbesitzer/innen wie Maine, New Hampshire, Vermont oder West Virginia übergewichtet werden könnten. Diese Bevorzugung republikanischer Wähler/innen und die damit einhergehende Falschaufteilung föderaler Finanzsummen wird durch das seit langem praktizierte Gerrymandering noch weiter verstärkt, wie das Urban Institute in einer Fallstudie für Texas belegt hat.

Zu welchen Verzerrungseffekt dies führen kann, zeigte auch die Kongress-Zwischenwahl von 2018 in für den Ausgang der Präsidentschaftswahl diesen Jahres wichtigen Bundesstaaten wie North Carolina, Ohio und Wisconsin. Republikaner in North Carolina holten dort mit 51 Prozent der Stimmen zehn Kongresssitze, die Demokraten dagegen nur drei. In Ohio gewannen die Republikaner 52 Prozent der Stimmen aber 12 von insgesamt 16 Wahlbezirken. Und in Wisconsin holten die Republikaner mit 46 Prozent der Stimmen dennoch acht Sitze im US-Repräsentantenhaus, während die Demokraten nur fünf reklamieren konnten. Selbst die „Blaue Welle“ der Zwischenwahl, in der Demokraten eine 41-Sitz-Mehrheit gewannen, hätte ohne Gerrymandering viel höher, nach einigen Schätzungen sogar bis zu 57 Sitze, ausfallen können.

Hinsichtlich der Genauigkeit und der Vollständigkeit der 2020 US-Volkszählungsergebnisse steht also viel auf dem Spiel. Denn nur wer im Zensus gezählt wird, hat die Chance, im US-Kongress, im Weißen Haus und in den Hauptstädten der US-Bundesstaaten gehört werden.

Online-Option als Rettung?

Noch ist es zu früh zu sagen, ob die Online-Option zur Ausfüllung des Zensus-Fragebogens und die Verschiebung des Zensus-Zeitplans genug sein werden, um die Gefahr der Unterzählung von Minoritäten und marginalisierten Gruppen der US-Gesellschaft auszugleichen. Vieles spricht leider dagegen. Der derzeitige Notfall-Plan der US-Zenusbehörde unter Corona-Bedingungen sieht neben zeitlichen Verzögerungen von Teilen der Erhebung, zum Beispiel In-Personen-Befragung von schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose gegebenenfalls erst nach Ende der Pandemie, vor allem eine massive Expansion der Werbekosten vor, um US-Einwohner/innen zur Beantwortung des Fragebogens per Post, Telefon und Online zu bewegen. Für eine Änderung der gesetzlichen Frist, bis Dezember diesen Jahres – und damit nach der anstehenden US-Präsidentschaftswahl Anfang November -- die Neuaufteilung der Kongresssitze vorzunehmen und bis zum April nächsten Jahres die Datensätze für eine Umverteilung der Wahldistrikte vorzulegen, bräuchte es einen Beschluss des Kongresses.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass bereits über die Ergänzung der Zensus-Daten durch andere föderale Daten-Quellen und eine Kuration von digital verfügbaren, auch kommerziellen Daten nachgedacht wird, um mögliche Datenlücken zu füllen. So wird bespielsweise unabhängig vom Zensus ohnehin jeden Monat bereits der American Community Survey (ACS) durchgeführt, der an rund 3.5 Millionen Haushalte in allen 50 US-Bundesstaaten geht, und ohnehin zum Beispiel detailliertere Fragen zu Themen wie Bildungstand, Anstellungsverhältnis, Internetzugang oder Transportoptionen, aber eben auch nach dem Immigrationsstatus, stellt, die nicht im 2020 Zensus enthalten sind.

Dies könnte zwar die Datenlage verbessern. Solche Maßnahmen bleiben aber eine grundsätzliche Antwort darauf schuldig, ob und wie eine US-Volksbefragung in einem Klima fortgesetzter politischer Polarisierung – und speziell unter einer US-Regierung, die auf massive Abschiebungsbemühungen und Anti-Migrationsrhetorik setzt und gegenüber White Supremacy-Gruppierungen wohlwollend eingestellt ist – inklusiv, umfassend und gerecht gelingen kann.