Coronakrise in Israel: Rettung für Netanjahu

Hintergrund

Auch die dritte Wahl binnen eines Jahres hatte Benjamin Netanjahu nicht gewinnen können. Doch er nutzt die Corona-Krise, um sich als unersetzlicher Staatsmann zu inszenieren und seine Macht zu sichern – zu Lasten der israelischen Demokratie.

Coronakrise in Israel: Rettung für Netanjahu - Ein Superkarkt in Israel

Die Bekämpfung der Corona-Epidemie fällt in Israel mit einer Krise der Demokratie zusammen: Drei Wahlen binnen eines Jahres konnten den Patt zwischen dem Netanjahu-Lager und seinen Gegnern nicht beenden. Der politische Stillstand blieb damit bis zuletzt bestehen.

Zwar hatte Benjamin Netanjahu sich nach den Wahlen im März schon als Sieger feiern lassen. Seinem rechtsreligiösen Block fehlten nach Abschluss der Auszählung aller Stimmen jedoch weiterhin drei Sitze zur erforderlichen Mehrheit von 61 Sitzen im israelischen Parlament.

Die Corona-Krise bot Netanjahu jüngst jedoch einen Ausweg aus dem Patt und zur Sicherung seiner Macht. Sehr früh hatte der Ministerpräsident die Chance erkannt, sich in der Krise als politischer Führer zu profilieren und den Druck auf seine politischen Gegenspieler zu erhöhen.

Netanjahu inszeniert sich als unersetzlicher politischer Führer

Der erste Corona-Fall wurde in Israel am 21. Februar diagnostiziert. Die israelische Regierung reagierte recht schnell und energisch auf die steigenden Fallzahlen und setzte schrittweise einschränkende Maßnahmen durch – bis hin zur Ausrufung des nationalen Notstandes am 19. März.

Benjamin Netanjahu inszenierte sich schnell als Krisenmanager und zog die Kommunikation und Information gegenüber der Bevölkerung an sich. Der Ministerpräsident war insbesondere zu Beginn der Krise allgegenwärtig in nächtlichen Briefings, zu Beginn der Kabinettsberatungen und auf seinem privaten Facebook-Kanal.

So wurden nicht Expert/innen oder der Gesundheitsminister zu Gesichtern und Autoritäten, sondern der Ministerpräsident. Dieser verkündete nicht allein die getroffenen Maßnahmen, sondern gab auch nützliche Alltagstipps. So demonstrierte Netanjahu, wie die Israelis richtig ihre Nasen putzen sollen.

Wie der israelische Journalist Anshel Pfeffer anmerkt, setzte Netanjahu in der Corona-Krise nahtlos seine Wahlkampagne fort und inszenierte sich als unverzichtbarer Staatsmann im Angesicht einer nie dagewesenen Krise für Israel. Dabei sind seine Auftritte gekennzeichnet durch eine dramatische Darstellung der Lage sowie historisches Pathos, das stets mit einem ausführlichen Lob für das weitsichtige Handeln seiner selbst verbunden ist.

Israel habe schneller und besser als alle anderen reagiert. Dass jemand anderes Israel durch diese Krise führen könne, sollte im öffentlichen Bewusstsein undenkbar sein. Und diese Botschaft ist durchaus in der Bevölkerung angekommen, die Zustimmungswerte für Netanjahu sind gestiegen. Inwieweit das auf Dauer trägt, bleibt angesichts der aufziehenden ökonomischen Krise abzuwarten.

Zugleich appellierte Benjamin Netanyahu an seinen Herausforderer Benny Gantz, angesichts der nationalen Krise eine gemeinsame Regierung zu bilden: “In the past, we also knew other moments. Two-thousand years ago, when the external enemy besieged Jerusalem – brothers’ hands were raised against each other and the disaster was not late in coming.” Gantz solle nicht den gleichen Fehler begehen und Unglück über Israel bringen, so die deutliche Botschaft Netanjahus.

Der „Krieg“ gegen Corona wird auch mit geheimdienstlichen Mitteln geführt

Netanjahu nutzte das in Israel allzu vertraute Kriegs- und Terrorvokabular, um weitreichende Maßnahmen und Einschränkungen von Freiheits- und Bürgerrechten zu legitimieren. Bei der Bekämpfung gegen Corona handele es sich um einen "Krieg gegen einen unsichtbaren Feind", der auch den Einsatz entsprechender Mittel notwendig mache.

So kündigte Netanjahu an, technologische Mittel des Anti-Terror-Kampfes nicht länger alleine gegen äußere Feinde, sondern nun auch gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger einzusetzen. Das Kabinett erließ eine entsprechende Notstandsregelung, die es dem israelischen Inlandsgeheimdienst Shabak ermöglicht, durch die Analyse von Standortdaten die Einhaltung der Heimquarantäne zu kontrollieren.

Zugleich kann der Geheimdienst auf die Handydaten aller israelischen Nutzerinnen und Nutzer zugreifen, um Personen zu identifizieren, die sich im Umfeld einer mit Corona-infizierten Person aufgehalten haben. All dies findet ohne Gerichtsbescheid statt.

Die israelische Regierung, die Israel offensiv als Start-up Nation bewirbt, setzt auch in der Bekämpfung des Corona-Virus auf High-Tech. Dabei kooperiert sie mit durchaus umstrittenen Firmen, die sich auf Überwachungstechnologien und den Einsatz von künstlicher Intelligenz spezialisiert haben. Dies hat auch in Israel zu Unbehagen geführt. Datenschützerinnen und -schützer beklagen einen präzedenzlosen Eingriff in die Privatsphäre und fürchten eine Ausweitung der staatlichen Mittel, ihre zeitliche Verlängerung und eine Zweckentfremdung der Daten.

Der israelische Generalstaatsanwalt signalisierte jedoch seine Zustimmung. Erst das Oberste Gericht verfügte dann, dass die geplanten Maßnahmen nur nach Einrichtung eines kontrollierenden Knesset-Ausschusses fortgesetzt werden dürfen. Außerdem urteilten die Richter, dass die Metadaten nicht eingesetzt werden dürften, Israelis zu überwachen, die unter Quarantäne stehen.

Die Coronakrise führt zur Aushöhlung der Demokratie  

Die Betonung politischer Führung geht bei Netanjahu – wie bei populistischen und autoritären Politkern generell – mit einer Schwächung demokratischer Institutionen einher. Seit 2015 richtet sich die Politik der Regierung Netanjahu gegen elementare Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung und liberalen Demokratie. Die Politikwissenschaftlerin Gayl Talshir urteilt, Netanjahu will Israel "von einer (angestrebten) liberalen Demokratie zu einem neo-konservativen, jüdischen und anti-liberalen Staat" verwandeln.

Nach den Wahlen im März 2020 war Netanjahus oberstes Ziel demnach, seine Macht zu sichern. Dazu dient ihm auch der Kampf gegen die Corona-Epidemie. So ordnete sein Justizminister an, dass die Gerichte sich auf „dringende Angelegenheiten“ beschränken sollten. Dazu zählt gerade nicht der Prozess gegen den Ministerpräsidenten, der wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue angeklagt ist – er wurde (vorerst) auf den 25. Mai verschoben.

Zugleich verweigerte die Regierung Netanjahu trotz fehlender Mehrheit einen Regierungswechsel und griff damit die institutionellen Grundlagen der Demokratie an. So verweigerte der Knessetsprecher Juli Edelstein die Einberufung der Knesset, die Einrichtung von Ausschüssen und eine Abstimmung über seine Nachfolge. Er suspendierte aus Machtkalkül damit faktisch die Arbeit des israelischen Parlaments.

Die Opposition hatte mit ihrer Mehrheit geplant, einen eigenen Kandidaten zum Knessetsprecher zu wählen. Dies hätte der Opposition nicht nur Kontrolle über die weitere Besetzung von Knessetausschüssen und die Agenda des Parlaments gegeben. Zudem war ein Gesetz im Gespräch, das verhindert hätte, dass eine unter Anklage stehende Person zum Ministerpräsident gewählt werden kann – ein Vorhaben, das sich explizit gegen Netanjahu gerichtet hätte.

Der Oberste Gerichtshof verlangte schließlich Ende vergangener Woche von Edelstein, innerhalb von zwei Tagen eine Abstimmung abzuhalten. Der israelische Justizminister Amir Ohana empfahl seinem Parteikollegen jedoch, sich dieser Forderung des Gerichtes zu verweigern. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit hatte Ohana kundgetan, nicht jede Entscheidung des OGH müsse befolgt werden.

Diese schwere Verletzung des Rechtsstaats und der Demokratie führte umgehend zu Protest. Viele Israelis hängten schwarze Fahnen aus ihren Fenstern. Der israelische Autor Yuval Noah Harari sprach von einem versuchten Coup und auch der israelische Präsident Ruven Rivlin warnte Edelstein und den Likud mit deutlichen Worten: "Die Coronakrise darf nicht erlauben, dass wir unsere demokratische Infrastruktur so stark beschädigen." Edelstein kam schließlich durch seinen Rücktritt einer Befolgung des Gerichtes zuvor.

Die Opposition zerbricht an der Notsituation

Genau in diesem Moment der Krise der israelischen Demokratie gab Netanjahus Herausforderer Benny Gantz klein bei. Zwar waren die Aussichten auf eine eigene Mehrheit in der Tat gering, da eine Koalition oder eine tolerierte Minderheitsregierung mit der arabischen Gemeinsamen Liste für einige Abgebordnete der Opposition nicht in Frage kam.

Dennoch überraschte Benny Gantz mit der Ankündigung, sich selbst als Knessetsprecher wählen zu lassen, um eine Koalition mit Netanyahu zu ermöglichen. Damit jedoch verriet er das zentrale Wahlziel des Oppositionsbündnis Blau-Weiss, nämlich die Ablösung Netanjahus.

Zwar begründete Gantz seine Entscheidung durch Verweis auf die Notlage, dies erschien jedoch nicht allen Partnern überzeugend, so dass Blau Weiss unmittelbar zerbrach. Prominente Oppositionspolitiker wie Yair Lapid und Moshe Yaalon lehnten eine Regierungsbeteiligung strikt ab und sahen darin eine Legitimierung der Politik Netanyahus. Wie auch immer die Verhandlungen ausgehen, Netanyahu ist der große Sieger dieser Entwicklung.

Die Opposition ist gespalten, stattdessen ergeben sich für Netanjahus rechtsreligiösen Block neue Mehrheitsoptionen. Dass nun auch die Arbeitspartei einer Regierung Netanyahu beitreten möchte, hat in Israel nicht einmal mehr Fassungslosigkeit ausgelöst und wird das Ende der ehemaligen Regierungspartei beschleunigen. 

Durch die Krise werden Ungleichheiten in der israelischen Bevölkerung verstärkt sichtbar

Die beschlossenen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Forderung nach sozialer Distanzierung stellen eine große Herausforderung für die israelische Gesellschaft dar. Die Familie hat eine enorm hohe Bedeutung, gemeinsame Shabbat-Essen mit Eltern und Geschwistern gehören zum Alltag und müssen nun erst einmal aufgeschoben werden.

In gut einer Woche steht das Pessachfest vor der Tür und damit verbunden große Familienfeiern. Nicht nur religiöse Israelis fragen sich, ob sie auch während des Festes zu Hause bleiben müssen. Auf eine entsprechende Frage antwortete der israelische Gesundheitsminister Litzman, der der orthodoxen Partei Vereinigtes Thora Judentum angehört: „Wir beten und hoffen, dass der Messias vor Pessach kommen wird, und damit die Zeit unserer Erlösung. Bald werden wir in Freiheit ausziehen. Der Messias wird kommen und uns von allen Problemen dieser Welt erlösen.“ Eine Antwort, die das Vertrauen in den Gesundheitsminister in säkularen Kreisen jedenfalls nicht gestärkt hat.

Am 23. April beginnt zudem Ramadan, ebenso eine große Herausforderung. Hinzu kommt, dass viele israelische Familien insbesondere in den Ballungszentren in kleinen Wohnungen leben. Angesichts geschlossener Schulen, Parks und Strände stellt dies viele Familien vor einen enormen Kraftakt. Zugleich jedoch sind es die Israelis gewohnt, sich an Notfallbestimmungen zu halten, zumal ernsthafte Sorge um die Kapazitäten des Gesundheitssystems besteht.

Doch es sind nicht alle Sektoren gleichermaßen betroffen. Insbesondere die rapide steigenden Fallzahlen innerhalb ultraorthodoxer Gemeinden und Stadtviertel bereiten Sorgen. Rund ein Viertel der Infektionen gehen auf Synagogen und religiöse Versammlungsorte zurück. Die Gründe für diese Ausbreitung des Corona-Virus innerhalb der Orthodoxie sind vielfältig.

Die staatlichen Vorgaben bei der Bekämpfung der Pandemie wurden mitunter lange ignoriert, religiöse Schulen und Jeschiwot blieben geöffnet, Hochzeiten und Beerdigungen fanden regulär statt. Zwar rief das israelische Oberrabbinat dazu auf, alle Vorgaben des Gesundheitsministeriums einzuhalten, nicht alle Rabbiner haben sich dieser Empfehlung jedoch angeschlossen.

Insbesondere jene Strömungen, die den Staat Israel und seine Autorität ablehnen, protestierten offen. So berichtet der Journalist Pfeffer von Plakaten an Synagogentüren, die auf Hebräisch die offizielle Schließung verkünden, auf Jiddisch jedoch zum Gebet in die Räume einladen. Durch die steigenden Fallzahlen und nicht zuletzt auch durch viele Todesfälle in den Gemeinden in New York hat jedoch ein Prozess des Umdenkens eingesetzt und viele Rabbiner haben ihre Haltung revidiert.

Zum anderen gehört die ultra-orthodoxe Bevölkerung zur ärmsten Gruppe in Israel, die auf sehr beengtem Raum in großer Zahl lebt und deren Städte eine schlechte Infrastruktur auch im Gesundheitswesen aufweisen.

Die arabisch-palästinensische Bevölkerung steht ebenso vor ganz eigenen Herausforderungen. So hat das israelische Gesundheitsministerium die Informationen zu COVID19 lange Zeit nur auf Hebräisch und Englisch, nicht jedoch auf Arabisch veröffentlicht, obwohl 21 Prozent der israelischen Bevölkerung Arabisch sprechen.

Erst auf Druck der Gemeinsamen Liste, von Bürgermeister/innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickelte das Ministerium Materialien auf Arabisch. Ebenso verhielt es sich mit den Drive-in-Teststationen. Erst nach Intervention wurde die erste Einrichtung in einer arabischen Ortschaft eröffnet. Noch schlechter sieht die Versorgung freilich für Beduinen aus, die in nicht vom Staat anerkannten Orten siedeln.

Auch für Flüchtlinge und palästinensische Arbeiter/innen aus den besetzten Gebieten ist der Zugang zu medizinischer Versorgung nicht gesichert. Obwohl viele arabische Ärzte und Pflegerinnen und Pfleger in israelischen Krankenhäusern arbeiten und ihr Beitrag in der Öffentlichkeit durchaus anerkannt wird, spiegelt sich dies auf politischer Ebene nicht wieder.

Die Forderung nach Einrichtung einer wirklichen Einheitsregierung – also auch unter Beteiligung der arabischen Gemeinsamen Liste – wurde von Netanjahu abgelehnt.