Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Rechtsstaatlichkeit in Mitteleuropa

Kommentar

Die derzeitige COVID-19-Pandemie hat eine außergewöhnliche Situation geschaffen. Die vergangenen Jahrzehnte haben uns vor zahlreiche Herausforderungen wie z.B. Terrorismus und Klimawandel gestellt, die globale Ausbreitung einer Krankheit aber, für die es bislang weder Behandlungsmöglichkeiten noch Impfstoff gibt ist etwas, mit dessen Bekämpfung unsere politischen Entscheidungsträger keinerlei Erfahrungen haben.

"Politische Verhandlungen von Präsident Caputova in Zeiten einer Korona-Pandemie".
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Slowakei: Politische Verhandlungen von Präsidentin Caputova in Zeiten der Corona-Krise

Die Unsicherheiten im Umgang mit COVID-19 und das Fehlen verlässlicher Daten erhöhen die Bereitschaft von Regierungen, teilweise drastische Restriktionen einzusetzen, um ihr primäres Ziel zu erreichen – nämlich die Bürger bestmöglich zu schützen und das Ausmaß pandemiebedingter Schäden auf ein Minimum zu reduzieren. Derzeit richtet sich die Aufmerksamkeit der Menschen (und Medien) fast ausschließlich darauf, die eigene sowie die Gesundheit ihrer Angehörigen zu schützen, Risiken abzuschätzen und den Ausbreitungsverlauf zu beobachten; andere Aspekte drohen dabei leicht aus dem öffentlichen Blickfeld zu verschwinden. Gleichzeitig scheint die Bevölkerung aufgrund der Dringlichkeit der Situation offen für die radikalen Schritte, mit denen ihre Regierungen der Herausforderung begegnen. In Anbetracht einer solchen Ausnahmesituation ist es durchaus legitim, gewisse, für die demokratische Funktionsweise von Ländern wichtige Mechanismen und Prozesse zeitweise außer Kraft zu setzen oder zu umgehen und so die Reibungslosigkeit und Effizienz von Entscheidungsfindungen und Krisenmanagement zu steigern. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass manche Regierenden den Ausnahmezustand und die geminderten Kontrollmöglichkeiten der Öffentlichkeit ausnutzen und für ihre eigenen politischen Interessen zu missbrauchen. Um es mit Churchill zu sagen: Never let a good crisis go to waste. Als besonders anfällig für eine derartige Entwicklung gelten innerhalb der Europäischen Union diejenigen Länder, deren politische Führungen sich bereits vor der Krise nicht konsequent an die Spielregeln gehalten haben. Einen solchen Ruf erworben haben sich den vergangenen Jahren die Visegrad-Gruppe und insbesondere einige ihrer Mitgliedsstaaten, etwa weil sie sich nicht immer innerhalb des traditionellen Konzepts der liberalen Demokratie bewegen oder durch Interessenkonflikte aufgefallen sind.

Ungarn – die erste Diktatur innerhalb der EU?

Im Falle Ungarns trifft nicht nur beides zu – sondern es ist auch dasjenige Land, dessen im Rahmen der COVID-19-Pandemie ergriffene Notfallmaßnamen die meisten Fragen aufwerfen. Mit Verweis auf die Notwendigkeit, sich bei der Bekämpfung der Krise und der Implementierung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit der ungarischen Bürger ausreichende Flexibilität zu verschaffen, hat die Fidesz-Regierung ein Gesetz verabschiedet, das es ihr ermöglicht, das Land per Dekret und im Grunde ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Am beunruhigendsten ist dabei, dass dieses Gesetz nicht auf einen spezifischen Zeitraum befristet, sondern lediglich ein Inkraftbleiben der Maßnahmen „bis zum Ende des Notstands“ vorgesehen ist. Daneben weist es aber auch noch eine Reihe weiterer problematischer Punkte auf, z.B. mit Blick auf eine noch stärkere Infragestellung der Medienfreiheit im Land. Diese Maßnahmen sind also tatsächlich bereits für sich genommen kontrovers. Korrekt bewerten lassen sie sich aber nur, wenn wird über das durch die Ausnahmesituation ja durchaus noch rechtfertigbare aktuelle Regierungshandeln hinausblicken. Denn es ist vor allem der Kontext der vorangegangenen Jahre und der in ihnen von der Regierung vorgenommenen Schritten weg von der Demokratie und hin zum Autoritarismus, der hier die Frage nach der tatsächlichen Intention und den möglichen Konsequenzen dieser Maßnahmen aufwirft.

Tschechien – keine positiven Überraschungen

Ermächtigungsversuche wie in Ungarn sind in Tschechien bislang nicht zu beobachten. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch hier zu Kontroversen gekommen wäre. Am meisten Aufmerksamkeit erregt und sogar Vergleiche mit Ungarn provoziert hat ein zu einem denkbar unpassenden Zeitpunkt eingebrachter Gesetzesvorschlag, der – eine erfolgreiche Verabschiedung vorausgesetzt – der Regierung oder sogar dem Premierminister persönlich die Möglichkeit böte, ohne parlamentarische Zustimmung den Ausnahme- oder Kriegszustand auszurufen. Zwar hat man sich rasch darum bemüht, den Vorschlag als etwas darzustellen, das bereits seit einigen Jahren diskutiert werde, aber einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt es trotz allem – insbesondere mit Blick auf das Kommunikationsverhalten des Premierministers und dessen Bereitschaft, seine Mitarbeiter auf dem Altar einer guten PR zu opfern. Darüber hinaus hat Andrej Babišs Regierung die EU unter Verweis auf den Notstand darum ersucht, die Frist zu verlängern, binnen derer sie sich zu einer Anhörung bezüglich der Interessenskonflikte rund um ihre Beziehungen zu den vom Premierminister gegründeten Unternehmen hätte positionieren sollen. Eine in letzter Minute auf die Tagesordnung eines Regierungstreffens gesetzte Änderung der Anti-Korruptions-Gesetzgebung, die sich mit Blick auf die ihm vorgeworfenen Interessenskonflikte zu Babišs Gunsten hätte auswirken können, wurde aufgrund von Kritik seitens der Opposition sowie von NGOs letztlich zurückgenommen. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass das, was wir derzeit in Tschechien beobachten – koalitionsinterne Auseinandersetzungen über die Kontrolle des Zentralen Krisenstabs inbegriffen – keineswegs unerwartet kommt, dass es aber auch keine positiven Überraschungen bereithält.

Slowakei – schwieriger Start für die neue Regierung

Die Slowakei wiederum begegnet der Situation unter völlig anderen Voraussetzungen. Das Land macht sich derzeit mit einer neuen Regierung vertraut, die erst im März – und damit bereits mitten in der Pandemie – vereidigt worden ist. Bestehend aus vier Parteien ohne klaren (gemeinsamen) ideologischen Hintergrund, stünde diese Regierung auch ohne die Pandemie vor enormen Herausforderungen. Die kritische Situation könnte zu ersten koalitionsinternen Auseinandersetzungen über die zur Eindämmung der Krankheit notwenigen Maßnahmen führen. So reichen die Vorschläge des neuen Premierministers Matovič bis hin zu einem sogenannten „blackout“ des Landes, während der Wirtschaftsminister einen solchen Schritt als ökonomische Gefährdung zurückweist. Der Umgang der Regierung mit der Pandemie-Krise könnte zu einer Art Vorblick darauf werden, inwieweit sie in der Lage sein wird, ihr wichtigstes Versprechen einzulösen – nämlich die Korruption zu bekämpfen. Es ist durchaus möglich, dass sie gestärkt aus der Krise hervorgeht und sich des Wählervertrauens als würdig erweist – oder aber, dass sie zerbricht noch ehe sie die Gelegenheit bekommt, ihre Wahlversprechen einzulösen.

Alles wie gehabt

Die Situation in den drei Ländern ist also durchaus verschieden – genau wie bereits vor dem Beginn der Pandemie. Für sich genommen ist die Pandemie keine Gefahr für die Demokratie – aber sie bietet gewissen politischen Entscheidungsträgern die Gelegenheit, sie für ihre politischen Ziele auszunutzen. Was wir derzeit beobachten können ist nicht, dass die Krise bereits bestehende Entwicklungen verändert, sondern dass sie diese vielmehr beschleunigt. Nicht nur die Öffentlichkeit sollte diese Entwicklungen im Auge behalten, sondern auch die Europäische Union. Denn auch wenn die derzeitige Krise in Charakter und Ausmaß beispiellos ist, dürfen die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht aus dem Blickfeld geraten – wenn die Pandemie vorüber ist, werden wir ihrer mehr denn je bedürfen.