Zwischen Regierung und Opposition: Verantwortung und grüne Perspektiven in Zeiten der Pandemie

Veranstaltungsbericht

Der Umgang mit der Covid-19-Pandemie und ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen bestimmt das Jahr 2020. Angesichts dieser neuen Herausforderung für die Politik im Allgemeinen und die grüne im Besonderen diskutierte die Grüne Akademie im Rahmen ihrer Digitalen Sommerakademie am 18. September über Antworten auf die Krise.

Abbildung einer Viruszelle, in der die Erde abgebildet ist

Grüne Perspektiven: Pandemie, Programmatik und das Jahr der Bewährung

Einen Überblick, wie die grüne Partei die gegenwärtige Situation bewertet, erhielten die Akademiemitglieder im Gespräch mit Michael Kellner (Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen). Die Pandemie habe die politische Gemengelage ohne Zweifel verändert, stellte Kellner fest. In einer solchen „Stunde der Exekutive“ sei es für die Grünen als Oppositionspartei eine besondere Herausforderung gewesen, mit einem eigenen Profil medial sichtbar zu bleiben. Die Partei habe sich bewusst für die Rolle einer konstruktiven Opposition entschieden. Diese Entscheidung sei nicht zuletzt deshalb richtig gewesen, weil die Beteiligung an 11 Landesregierungen, mit drei Landesgesundheitsminister/innen, eine solche Haltung schlicht erfordere.

Nach einer ersten Zwischenbilanz der Pandemie-Zeit für die grüne Partei gefragt, stellte Kellner heraus, dass es gelungen sei, den Gestaltungswillen auch unter den veränderten Bedingungen glaubwürdig zu vertreten. Im Vergleich zum Bundestagswahlkampf 2017 ließe sich heute allerdings eine ungleich größere und anhaltendere Mobilisierung progressiver Kräfte beobachten, die von der Fridays for Future-Bewegung und der MeToo-Kampagne bis hin zu den „Unteilbar!“-Demonstrationen und den Black Lives Matter-Protesten reiche. Selbst die Pandemie habe in einigen gesellschaftlichen Bereichen wie der Gesundheitspolitik zu einem Umdenken und eine Besinnung auf Konzepte wie öffentliche Güter und Daseinsfürsorge geführt. Diese Themen hätten sich in der grünen politischen Strömung bereits in den vergangenen Jahren zunehmend durchgesetzt. Die Heinrich-Böll-Stiftung habe daran einen großen Anteil, weil sich die Stiftung seit Jahren intensiv mit diesen Fragen auseinandersetze.

Diese programmatische Erneuerung schlägt sich auch im Entwurf für ein neues grünes Grundsatzprogramm nieder, das im Herbst 2020 beschlossen werden soll. Für grüne Politik sei hier insbesondere die Zuschreibung einer Zukunftskompetenz bedeutsam, vor allem im Hinblick auf sozial-ökologische Transformation.

Das demokratische Selbst: Zum Verhältnis von staatlichen & individuellen Entscheidungen in der Krise

Die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen werfen grundsätzliche Fragen politischer und gesellschaftlicher Organisation auf. Im Gespräch mit dem Philosophen Stefan Gosepath (FU Berlin und Grüne Akademie) diskutierte Ellen Ueberschär das Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum im Schatten der Krise.

Im Anschluss an liberale Vertragstheorien erläuterte Gosepath die zentrale Bedeutung des Individuums für die Begründung demokratischer Regierungsgewalt. Ein solcher methodologischer Individualismus finde sich auch im Grundgesetz, das in Art. 1 Abs. 1 GG die gleiche Würde aller Menschen (verstanden als autonome Individuen) schütze. Wenn Freiheit und Würde allen gleichermaßen zukommen, verbietet es sich, die Gesundheit und damit auch die Freiheit bestimmter, vulnerabler Gruppen im Namen nachgeordneter, etwa ökonomischer, Interessen zu gefährden. Zugleich müssten sich aber alle einschränkenden Maßnahmen an den Freiheitsrechten des Individuums messen lassen. Abermals im Rekurs auf die Vertragstheorie erläuterte Gosepath, dass die Zwangsmaßnahmen des Infektionsschutzes so umzusetzen seien, dass jede/r ihnen prinzipiell zustimmen könne. Die Verbote und Einschränkungen seien somit als Akte mittelbarer Selbstbindung der Bürger/innen zu verstehen, die jene Selbstbindung allerdings an die Organe demokratischer Entscheidungsfindung delegieren können. Hierin läge nicht zuletzt auch eine Art der Befreiung, die es dem Individuum erlaube, die Folgen seiner Entscheidungen nicht immer vollumfänglich abwägen zu müssen. Dass dies den/die Einzelne/n dennoch keineswegs von der Pflicht zu eigenverantwortlichen Entscheidungen – etwa über den Besuch von Veranstaltungen in geschlossenen Räumen – entbinde, zeige sich in der Pandemie tagtäglich.

Aufbauend auf dieser theoretisch fundierten Einordnung ging Gosepath auf verschiedene Gründe für die Unzufriedenheit mit den Maßnahmen ein, die sich in Teilen der Bevölkerung abzeichne. Erstens gelte es anzuerkennen, dass es sich bei einer Vielzahl der Infektionsschutzmaßnahmen tatsächlich um Freiheitseinschränkungen handele, welche die Bürger/innen auch als solche empfänden. Ebenfalls nachvollziehbar sei zweitens eine gewisse Verunsicherung angesichts der regionalen, teils sogar lokalen Verschiedenheit und Ungleichzeitigkeit des Infektionsgeschehens. Beide Probleme würden drittens dadurch verschärft, dass die Politik, ja selbst die Wissenschaft in der Krise unter den Bedingungen vielfältiger Ungewissheit operiere. Der resultierenden Unzufriedenheit müsse argumentativ – beispielsweise unter Bezug auf das umrissene Konzept einer qualifizierten, liberal-individualistischen Freiheit – begegnet werden. Mit den Bürger/innen in einen solchen Dialog zu treten, sei Aufgabe politischer Entscheidungsträger/innen.

Eine klare Unterscheidung machte Gosepath an dieser Stelle jedoch hinsichtlich jener Gegner/innen der Maßnahmen, deren Widerstand sich aus Verschwörungsideologien und grundsätzlicher Ablehnung von Wissenschaft speise. Im Sinne individueller Rechte müsse natürlich auch hier zunächst gefragt werden, ob eine freiheitliche Gesellschaft derartig abwegige Meinung nicht dennoch aushalten müsse. Die Toleranz fände ihre Grenzen allerdings dort, so schloss Gosepath, wo die Gesundheit anderer oder gar die demokratische Grundordnung bedroht seien.

Digitale Arbeitsgruppen: Demokratie, Wirtschaft, Gesellschaft

Die Pandemie wirkt in einer Reihe von Bereichen als Katalysator bereits bestehender Krisentendenzen. In Ergänzung zu den Plenardebatten diskutierten die Mitglieder der Akademie gemeinsam mit jeweils zwei Impulsgeber/innen in digitalen Arbeitsgruppen über Herausforderungen in drei Politikfeldern, auf die im Zuge der Pandemie ein besonderes Schlaglicht fällt. Michael Knoll (Verein Berliner Kaufleute und Industrieller sowie Grüne Akademie) und Claudia Müller (MdB, Mittelstandsbeauftragte der Grünen Fraktion) erörterten in der ersten Arbeitsgruppe vor allem die Frage, wie der Erhalt und die zukünftige Gestaltung von Innenstädten aussehen kann, wenn mit Umsatzeinbrüchen und Insolvenzen im lokalen Einzelhandel zu rechnen ist. Michaela Kreyenfeld (Soziologin, Hertie School of Governance) und Ricarda Lang (stellvertretende Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen) diskutierten in einer zweiten Arbeitsgruppe am Beispiel der Geschlechtergerechtigkeit über die Gefahr, in Folge von Krisen wie Covid-19 hinter Erfolge progressiver Politik zurückzufallen. Ähnlich analysierten auch Marius Busemeyer (Universität Konstanz, Grüne Akademie) und Stefanie Remlinger (MdA, Bündnis 90/Die Grünen) in der dritten Arbeitsgruppe die verschärfende Wirkung eines Lockdown auf bestehende Ungleichheiten im Bildungssystem.