Lokalwahlen Ukraine: Herbe Niederlage für Selenskyj

Analyse

Am 25. Oktober fanden in der Ukraine Kommunalwahlen statt. Trotz Missbrauchs seines Amtes für die Wahlkampagne seiner Partei erlitt die Regierungspartei des Präsidenten Selenskyj eine verheerende Niederlage.

Volksbefragung
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Mobile "Volksbefragung" des Präsidenten vor den Kommunalwahllokalen in der Ukraine am 25. Oktober 2020

Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte aus den Kommunalwahlen am 25. Oktober mehr machen als nur den Höhepunkt der Dezentralisierungsreformen in der Ukraine. Es wurden die Bürgermeister*innen und die Mitglieder der Stadt- und Dorfräte gewählt, die nun über größere Budgets und gewachsene Kompetenzen entscheiden können. Selenskyj wollte ein Votum zur Bestätigung seines Kurses und zur erneuerten Legitimation der Regierungspartei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) herbeiführen. Ein Jahr nach seinem erdrutschartigen 73%-Sieg sowohl bei der Präsident*innenschaftswahl als auch bei den Parlamentswahlen fielen die Popularitätswerte des ehemaligen Fernsehkomikers zum ersten Mal unter 30%. Keines seiner Versprechen konnte er erfüllen: vom Frieden im Osten kann keine Rede sein, vom Wirtschaftswachstum noch weniger. Also brauchte der ukrainische Präsident einen Erfolg. Das Ergebnis ist jedoch eine herbe Niederlage für den Fernsehpräsidenten.

Zunächst ist die rekordverdächtig niedrige Wahlbeteiligung anzumerken. Nur 37% der Wähler*innen kamen zu Wahlurnen – so wenig wie nie in der Geschichte der Ukraine. Erstaunlicherweise war nicht die Covid19-Pandemie der Grund für die niedrige Beteiligung. Nichtwähler*innen erklärten ihr Fernbleiben in den Umfragen nur zu 10% mit der Pandemie. Wichtigere Gründe waren Apathie und Mistrauen gegen die „da oben“. Noch vor einem Jahr war es Selenskyj gelungen, gerade die Nichtwähler*innen zu mobilisieren.

Noch enttäuschender haben die Kandidat*innen seiner Regierungspartei abgeschnitten. Nur in der Heimatstadt Selenskyjs – dem industriell-depressiven Krywyj Rih – hat seine Partei über 30% der Stimmen bekommen. Aber selbst dort hat sein Kandidat die direkten Bürgermeister*innenwahlen gegen den pro-russischen Magnaten Jurij Wilkul klar verloren. Dieser gehörte zum engeren Kreis um den 2014 auf vom Maidan abgesetzten korrupten Präsidenten Janukowitsch und hat nun fast 50% der Stimmen bekommen. In anderen Regionen war das Ergebnis der Regierungspartei deutlich schlechter. In der Hauptstadt Kiew hat „Sluha Narodu“ (nach vorläufigen Ergebnissen) nur lächerliche 10% bekommen, fast drei Viertel weniger als vor einem Jahr bei den Parlamentswahlen. In der westlichen und schon zuvor relativ Selenskyj-skeptischen Metropole Lwiw war die Niederlage noch drastischer: hier soll die Präsidentenpartei die 5%-Hürde für den Einzug in den Stadtrat ganz verpasst haben. In anderen Großstädten bekam die Sluha Narodu zwischen 5% und 18%. In keiner Großstadt haben sich ihre Bürgermeister-Kandidat*innen für die Stichwahlrunde qualifiziert.

Parallele Volksbefragung: Wähler*innenmanipulation nach Putins Vorbild?

Dabei versuchte Wolodymyr Selenskyj mit allen Mitteln, sich bei der Wählerschaft ins Gespräch zu bringen. Nur 14 Tage vor dem Wahltag kündigte er in seiner Videobotschaft überraschend an, eine Art Referendum, eine „Volksbefragung“ am Tag der Wahlen zu organisieren. Duzend wendete er sich an die „einfachen Ukrainer“ und sagte, „käufliche und egoistische Politiker“ wollten den „einfachen Leuten“ ihren Mund verbieten. Daher wolle Selenskyj die versprochene „direkte Demokratie“ nun durchsetzen und seine fünf Fragen direkt an das Volk stellen. So schien es, er wolle nun sein altes Versprechen der Einführung direkter Demokratie plötzlich umsetzen. Dabei wollte er die Fragen nicht sofort nennen – aus der Verkündung der Fragen sollte eine weitere Show gemacht werden, jeden Tag sollte der Präsident die neue Frage in einer neuen Videobotschaft enthüllen. Am Ende standen fünf Themen zur Abstimmung: Lebenslange Haft für Korruptionäre, die Reduzierung der Anzahl der nationalen Parlamentarier*innen von 450 auf 300 Abgeordnete, eine Sonderwirtschaftszone für den Donbas, die Legalisierung von medizinischem Cannabis sowie ein möglicher Ausstieg der Ukraine aus dem Budapester Memorandum – vor fast 30 Jahren versprach die Ukraine, ihren Atomstatus gegen Sicherheitsgarantien seitens der USA, Russlands und Großbritanniens abzugeben.

Nicht nur die Kurzfristigkeit der Volksbefragung hat Fragen über die Rechtsmäßigkeit dieser Initiative aufgeworfen. Auch aus rechtlicher Sicht ist eine solche „Befragung“ mindestens fragwürdig, wenn nicht illegal. Der Ukraine fehlt eine Gesetzgebung zu Referenden gänzlich. Dazu verbietet die ukrainische Verfassung explizit, per Referendum Steuerfragen zu entscheiden (das betrifft die Frage über eine Sonderwirtschaftszone). Auch deswegen hat Selenskyj seine Initiative nicht „Referendum“, sondern „Volksbefragung“ genannt. Seine Partei hat betont, dass die „Befragung“ keine rechtlich bindenden Folgen haben wird. Dabei verschwieg die Partei völlig, aus welchen Quellen die Befragung finanziert werden soll (offensichtlich aus privaten) und wie die Stimmen gezählt würden – da die Initiative nicht unter Kompetenzen der Wahlkommissionen fiel. Dazu sahen die „Befragungspunkte“ vor den Wahllokalen wie eine klare Werbung für die Selenskyj-Partei aus – eine weitere Verletzung ukrainischer Wahlgesetze.

Aus Sicht vieler Kritiker*innen sah diese „Befragung“ sehr nach der jüngsten „Befragung“ in Russland aus, als Wladimir Putin sich im Amt für weitere 12 Jahre bestätigen ließ. Auch in der Ukraine war nun die Rede von Sondervollmachten für den Präsidenten, um unter dem Mantel der Korruptionsbekämpfung politische Gegner*innen verfolgen zu können. Inzwischen laufen allein gegen seinen Rivalen und Ex-Präsidenten Petro Poroschenko über ein Dutzend Strafverfahren, während die Freund*innen von Selenskyj trotz ernster Anschuldigungen von jeglicher strafrechtlicher Verfolgung bislang verschont bleiben. Während also die Justiz massiv politisch instrumentalisiert wird, lässt Selenskyj über lebenslängliche Strafen für  Korruption abstimmen. Dabei haben sich über 80% der Befragten für eine solche lebenslange Strafe ausgesprochen. Damit geht die Ukraine einen großen Schritt in Richtung politisch motivierter Repressionen.

Die prorussischen und radikalen Parteien im Aufwind

Ein weiteres Ergebnis der Kommunalwahlen war der klare Erfolg destruktiver Parteien jeglicher Ausrichtung. In den östlichen und südlichen Regionen bauten vor allem die prorussischen Parteien ihre Präsenz massiv aus. Die noch vor wenigen Jahren als unseriöse Kitsch-Gruppe wahrgenommene radikale und gewaltbereite prorussische Partei des Videobloggers Anatolij Scharij ist in viele Stadträte eingezogen. In der östlichen Metropole Charkiw hat die Scharij-Partei über 7% der Stimmen bekommen – vor allem unter jugendlichen Wähler*innen war sie besonders populär. Und das trotz klar anti-ukrainischer Ausrichtung der Partei – so hat Scharij in einer seiner Hassbotschaften auf Youtube die Ukrainer*innen als „geborene Sklaven“ bezeichnet und gegen die ukrainische Sprache gehetzt. In der Frontstadt Mariupol, wo vor 5 Jahren ein russischer Raketenangriff auf ein Wohnviertel 29 Zivilist*innen getötet und 92 verletzt hat, bekamen die Scharij-Partei und die Partei des ex-KGB-Anwalts und Putin-Verwandten Medwedtschuk zusammen fast 40%. In der südlichen Metropole Odesa haben vor allem die jungen Wähler*innen für den unter Korruptionsverdacht stehenden Bürgermeister und russischen Staatsbürger Gennadij Truchanow gestimmt – dieser erhielt 36% Zustimmung und sieht sich als Favorit in der kommenden Stichwahlrunde.

Doch das kurioseste Wahlergebnis hat die Stadt Charkiw geliefert. Hier soll der – ebenso der Korruption beschuldigte - Bürgermeister Gennadij Kernes über 57% der Stimmen in der ersten Wahlrunde bekommen haben, was ihn zum klaren Sieger macht. Allerdings ist Kernes, der mit seinem Missmanagement die Stadt zum Covid19-Hotspot gemacht hatte, vor einigen Wochen nach Berlin ausgeflogen, wo er aufgrund des schweren Verlaufs seiner Covid19-Erkrankung behandelt werden sollte. Seitdem ist nichts über seinen Zustand bekannt geworden, es gibt von Kernes seitdem kein Lebenszeichen.

Während im Osten und Süden die mutmaßlich korrupten und/ oder offensichtlich pro-russischen Kräfte ihren Sieg feiern können, können in einigen westlichen Regionen die Rechtsradikalen die Korken knallen lassen. In drei wichtigen Zentren im Westen, in Ternopil, Iwano-Frankiwsk und Chmelnytzky – bekamen die Kandidat*innen der rechtsradikalen Partei „Swoboda“ (die Freiheit) zwischen 71% und 84% der Stimmen. Bei Wahlen in die Stadträte bekam die „Swoboda“-Partei jeweils rund 60% der Stimmen, was eine Alleinherrschaft der Rechten zur Folge hat. Schon vor einigen Monaten sagte der Ternopiler Bürgermeister in einem Interview, „ein Homosexuleller kann kein Patriot sein“. Ein Stadtrat versuchte, Ternopil zur „LGBT-freien Zone“ zu erklären. Diese Politik könnte nun eine neue Dynamik entwickeln.

Lwiw und Winnytsja – die Insel der Reformseligen

Doch nicht überall im Lande sind die Ergebnisse so enttäuschend. In Lwiw steht der reformwillige und prowestliche Bürgermeister Andrij Sadowij kurz vor seiner wahrscheinlichen Wiederwahl in der Stichrunde. In Winnytsja – der Heimatstadt des reformorientierten technokratischen Ex-Premierministers Wolodymyr Groisman aus der alten Regierung von Petro Poroschenko - hat sich die Groisman-Partei die klare Mehrheit im Stadtrat und das Amt des Bürgermeisters gesichert. Auch in Kiew wurde der zwar oft kritisierte, aber immer noch gemäßigte und europäisch orientierte Bürgermeister Witalij Klytschko im Amt bestätigt.

Ein weiteres Hoffnungszeichen dieser Wahlen ist das Abschneiden liberaler demokratischer Parteien wie „Holos“ (die Stimme) und vor allem die basisdemokratische „Syla Ljudej“ (Kraft der Menschen). Sie zogen in viele Stadträte ein, oft vor allem aufgrund der aktiven Kampagnen örtlicher Aktivist*innen. Im Gegensatz dazu haben viele der aus dem Nichts geschaffenen „Projektparteien“ ukrainischer Oligarchen schwere Niederlagen erlitten. So hat die „Sa Maibutne“-Partei (Für die Zukunft), die vom berüchtigten Ihor Kolomoisky kontrolliert wird, fast nirgendwo in der Ukraine eine nennenswerte Unterstützung bekommen – trotz scheinbar unendlichen Budgets für die Werbung. 

Dies – wie auch die Tatsache, dass die Wahlen demokratisch und frei abgelaufen sind – zeigt, dass die Ukraine trotz aller Probleme und Herausforderungen ihrer Tradition der freien und demokratischen Wahlen treu geblieben ist. Sogar während der Pandemie haben die Leute ihre Stimmen sicher und frei abgeben können. Die jüngsten Wahlen waren kein erdrutschartiger Sieg der Basisdemokratie. Trotzdem festigten sich im Lande viele Inseln guter Verwaltung und starker Zivilgesellschaft. In den nächsten Jahren müssen diese Inseln Erfolge nachweisen – nur so können sie ausstrahlen und der Demokratie zum Erfolg verhelfen.