Systemische Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn: „Meine größte Angst ist, dass die EU klein beigibt.“

Interview

Interview mit Benedek Jávor über die Erpressungsversuche von Viktor Orbán und Mateusz Morawiecki, die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Verantwortung der Bundesregierung.

Teaser Bild Untertitel
Hungarian Prime Minister Viktor Orbán and German Chancellor Angela Merkel, at the EPP Summit in Brussels, March 2017.

Benedek, der ungarische und polnische Ministerpräsident haben damit gedroht, ihr Veto gegen den EU-Haushalt und den Europäischen Wiederaufbaufonds „Next Generation EU” einzulegen, weil sie nicht mit dem Kompromiss einverstanden sind, der im November hinsichtlich der Rechtsstaatskonditionalität im Trilog ausgehandelt wurde. Für diejenigen, die seit vielen Jahren Viktor Orbáns autoritären Führungsstil beobachten, analysieren und kritisieren, kommt dies alles andere als überraschend. Dennoch ist die Tatsache, dass Orbán es schafft, die gesamte EU während einer Pandemie in Geiselhaft zu nehmen, unfassbar und zugleich frustrierend. Fachleute heben hervor, dass es an der Zeit sei, Ungarns und Polens Bluff zu durchschauen. Wie kann es sein, dass Orbán – nach einem Jahrzehnt des Abbaus von Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, nach einem Jahrzehnt von Desinformations- und Hasskampagnen gegen die demokratische Opposition, zivilgesellschaftliche Akteur/innen, George Soros und die EU-Institutionen –  sein zynisches Machtspiel in der EU spielen kann? Warum ist die EU ihm gegenüber so unfähig und hilflos?

Benedek Jávor: Ich wünschte, ich hätte eine einfache Antwort auf diese Frage; die Situation ist jedoch leider ziemlich komplex. Natürlich spielen hier die institutionellen und rechtlichen Unzulänglichkeiten der EU mit hinein. Kurz gesagt, gibt es keine angemessenen, effektiven Maßnahmen, Verfahren oder Kompetenzen der EU-Institutionen, um vor einer Abkehr von der Demokratie und vor systemischen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit rechtzeitig zu warnen und diese verfahrensrechtlich zu bewältigen und zu ahnden. Das existierende Artikel-7-Verfahren hat sich als vollkommen unzureichend erwiesen. Das wurde schon 2013 im Tavares-Bericht klar benannt: Dieser schlug die Idee eines neuen „Kopenhagen-Mechanismus” vor, um – ähnlich wie bei den Beitrittskandidaten – die demokratische Leistungsfähigkeit eines Mitgliedstaates überprüfen und kontrollieren zu können.    

Hier kommt aber die nächste Schwierigkeit ins Spiel: Der Rechtsstaatsdiskurs ist schon immer Opfer politischer Machtspiele gewesen. Die Europäische Volkspartei (EVP), deren Mitglied Orbáns Partei (Fidesz) ist, hat aufgrund taktischer Überlegungen hinsichtlich ihres politischen Gewichts im Europäischen Parlament (EP) und dem Rat alle sinnvollen Maßnahmen gegen die antidemokratischen Aktivitäten der ungarischen Regierung erfolgreich blockiert. Parteipolitische Kämpfe gegen die progressiven, grün-links-liberalen Fraktionen im EP schienen der EVP wichtiger zu sein, als eine prinzipienfeste Antwort auf die klaren und systemischen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Die EVP hat einen Schutzschild bereitgestellt und die ungarische Regierung hat in dieser Deckung erfolgreich die Demokratie im Land demontiert. 

Das dritte Problem ist die allgemeine Unterschätzung der Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit. Theoretisch ist diese das eigentliche Fundament der Architektur der europäischen Integration. In Wirklichkeit halten viele Entscheidungsträger/innen und Politiker/innen die Rechtsstaatlichkeit jedoch ausschließlich für ein hübsches Konzept. Ihrer Ansicht nach geht es in der Politik in Wahrheit um Geld, Geschäfte, Macht und konkrete Politiken.

Wir müssen aus den jüngsten Entwicklungen lernen, dass man sich, wenn man Mitgliedstaaten in ihrer Abkehr von diesem wunderbaren Traum gewähren lässt, selbst sehr schnell in einer Situation wiederfindet, in der es unmöglich ist, die grundlegenden Funktionen der EU auszuüben. Es ist ein billiger, aber überaus gefährlicher Irrglaube, dass man die Integration der EU vorantreiben kann, indem man sich auf die Wirtschaft, die Marktbedürfnisse und die politischen Interessen konzentriert. Natürlich gibt es eine lange Tradition des Handels und Geschäftemachens mit bösen, autokratischen Ländern – ob es uns gefällt oder nicht. Aber wenn wir erst einmal die Plage der Autokratie in die EU hereinlassen, wird sie schon bald die wesentlichen Organe ihrer Organisation auffressen.

Aber was wir von Deutschland in diesen Monaten erleben durften, liegt weit unter dem, was wir uns hätten vorstellen können.

Zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft betonte Angela Merkel die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit in der EU. Wie schätzt Du die Rolle der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in dieser Hinsicht ein?

Sie ist eine riesige Enttäuschung. Natürlich hat niemand zu viel von der amtierenden Bundesregierung erwartet, die in den letzten zehn Jahren ja eine wesentliche Rolle in der verheerenden und verfehlten Beschwichtigungspolitik gegenüber Viktor Orbán gespielt hat. Aber was wir von Deutschland in diesen Monaten erleben durften, liegt weit unter dem, was wir uns hätten vorstellen können. Der Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft für einen Rechtsstaatsmechanismus im September war eine Katastrophe, und letztlich hat das Parlament den Mechanismus davor bewahrt, zu einem bloßen Feigenblatt zu verkommen, das die Handlungsunfähigkeit der EU kaschiert. 

Im Artikel-7-Verfahren gab es eine einzige Anhörung im September, die jedoch zu keinen Schlussfolgerungen oder Maßnahmen führte. Und soweit wir informiert sind, ist die nächste Anhörungsrunde von der Tagesordnung des Treffens im Dezember gestrichen worden. In der Zwischenzeit wurde in Ungarn das große unabhängige Online-News-Portal Index besetzt, setzt die ungarische Regierung ihre Angriffe auf die akademische Freiheit fort, wurde das Grundgesetz geändert, um die staatlichen Ausgaben komplett intransparent zu machen und die Rechte von LGBTQI-Personen weiter zu beschneiden. Zudem droht die ungarische Regierung damit, aufgrund der Verabschiedung des Rechtsstaatsmechanismus ihr Veto gegen den EU-Haushalt und den Wiederaufbaufonds einzulegen.

Diejenigen, die die lahme Ente EU dabei beobachten, wie sie nicht in der Lage ist, etwas gegen die klare Abkehr von unseren demokratischen Systemen zu unternehmen, sind bereits zunehmend desillusioniert.

Es gibt Bedenken, dass die Artikel-7-Verfahren gegen die polnische und ungarische Regierung, die 2017 bzw. 2018 eingeleitet wurden, eingestellt werden könnten, um einen Deal mit Orbán und Morawiecki zu erreichen. Was würde das für die demokratischen Kräfte in Ungarn und die Zukunft der EU bedeuten?

Die Annullierung der Anhörungen im Dezember deutet stark darauf hin, dass diese Option tatsächlich in Erwägung gezogen wird. Das wäre allerdings, trotz der Unzulänglichkeiten des Artikel-7 Verfahrens, ein riesiger Fehler. Nicht so sehr, weil wir uns von dem Verfahren starke Ergebnisse erhoffen, sondern vielmehr wegen der Botschaft, die eine solche Entscheidung aussenden würde. Es würde nämlich bedeuten, dass Orbán und Morawiecki es geschafft hätten, die EU zu erpressen und dass sie wieder einmal gegen die „unzweckmäßige Union“ gewonnen hätten. Das würde ihnen und auch allen anderen Anführern in der EU, die mit ähnlichen politischen Ideen liebäugeln – und davon gibt es eine ganze Reihe – starken Auftrieb geben, ihre Anstrengungen zu intensivieren. „Ach kommt Leute, es kann Euch nichts passieren!“, wäre die Botschaft.

Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die demokratischen, pro-europäischen Kräfte in unseren Ländern. Diejenigen, die die lahme Ente EU dabei beobachten, wie sie nicht in der Lage ist, etwas gegen die klare Abkehr von unseren demokratischen Systemen zu unternehmen, sind bereits zunehmend desillusioniert. Die demoralisierenden Konsequenzen des Fallenlassens der Verfahren können kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die Schlussfolgerung wäre, dass die EU neben der ungarischen Regierung Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist.

Ich weiß, wie die EU funktioniert; es muss am Ende einen Kompromiss geben, der sich von allen als Sieg verkaufen lässt

Viele Expertenstimmen argumentieren richtigerweise, dass man, um Druck gegen Orbán und Morawiecki aufzubauen, einen glaubwürdigen Plan B benötigt. Sie nennen folgende Möglichkeiten: Verstärkte Zusammenarbeit, ein variables Euro-/Nicht-Euro-Setting und eine intergouvernementale Lösung. Was hältst Du davon? Wie sollte ein glaubwürdiger Plan B aussehen – auch vor dem Hintergrund, dass so wenig Zeit bleibt? Welche Optionen gibt es und welche nächsten Schritte sollte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in dieser Hinsicht auf den Weg bringen?

Es gibt zahlreiche, öffentlich zugängliche, potenzielle Lösungsansätze. Viele von ihnen wurden von mir hoch geschätzten Expert/innen entwickelt. Keiner dieser Lösungsansätze scheint jedoch ein gemütlicher Ritt zu sein. Von signifikanten Verzögerungen beim Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“ und beim nächsten MFR (Mehrjähriger Finanzrahmen) gehen alle Lösungsvorschläge aus und manche sind technisch hoch komplex und präzedenzlos. Wir brauchen aber derartige Plan-B-Ansätze hinter unserem Plan-A-Ansatz, der lautet: Verabschiedung des EU-Haushalts und des Rechtsstaatsmechanismus.

Ich glaube, dass Orbán und Morawiecki ein gefährliches Spiel spielen. Denn Ungarn und Polen sind dringend auf die EU-Mittel aus dem Wiederaufbaufonds und dem Sieben-Jahres-Haushalt angewiesen. Ihre Volkswirtschaften liegen am Boden, die Pandemie wütet weiter, ihre Defizite sind bereits hoch, und das Niveau der Staatsverschuldung ist um ungefähr vier Prozent angestiegen. Die Zeit spielt gegen Ungarn und Polen. Es geht hier letztlich um Nervenstärke. Ich weiß, wie die EU funktioniert; es muss am Ende einen Kompromiss geben, der sich von allen als Sieg verkaufen lässt, aber ich glaube nach wie vor, dass die ganze Geschichte ein großer Bluff ist und der Preis in Form von Zugeständnissen an die beiden antiliberalen Regierungen darf nicht hoch sein. 

Was ist Deine größte Angst, wenn Du an die kommenden Wochen denkst, was ist Deine größte Hoffnung?

Meine größte Angst ist, dass die EU klein beigibt und beiden Ländern große Zugeständnisse macht. Das würde das Problem nicht lösen; im Gegenteil, es würde das Problem weiter verschärfen. Mit einem solchen Sieg in der Tasche – was kann Orbán dann noch aufhalten, das gleiche Spiel immer und immer wieder zu spielen?  Immer, wenn es in der EU eine Entscheidung zu fällen gibt, die ihm nicht gefällt? Das könnte sich zu einem unvorstellbar destruktiven Präzedenzfall für die EU entwickeln, der ihre Funktionsfähigkeit und Stabilität massiv unterlaufen würde. Auch die Vertagung der Entscheidung zum Rechtsstaatsmechanismus wäre ein Fehler. Das ist genau das, was Orbán will: Im Januar beginnt die portugiesische Ratspräsidentschaft und hinter verschlossenen Türen ist Portugal sehr empfänglich für Orbáns Rechtsstaatlichkeitskritik.

Das Beste, was sie tun können, ist felsenfest hinter dem Rechtsstaatsmechanismus zu stehen.

Für den Fall, dass eine endgültige Entscheidung in die zweite Jahreshälfte verschoben wird, fände dies unter der slowenischen Ratspräsidentschaft statt und von Janez Janša hätte Orbán so gut wie keinen Widerstand zu erwarten. Die letzte Hoffnung ist das Europäische Parlament. Es scheint sich sehr viel mehr für das Bestehen auf dem im November ausgehandelten Rechtsstaatsmechanismus einzusetzen. Noch einmal: Das EP verteidigt die prinzipientreue europäische Politik gegen den Opportunismus des Rates. 

Wie können die EU-Mitgliedstaaten und EU-Institutionen die demokratischen Kräfte innerhalb und außerhalb des ungarischen Parlaments unterstützen? Was benötigen regierungskritische Politiker/innen, Journalist/innen und zivilgesellschaftliche Organisationen?

Das Beste, was sie tun können, ist felsenfest hinter dem Rechtsstaatsmechanismus zu stehen. Außerdem sollten sie das Artikel-7 Verfahren vorantreiben, fortdauernde Rechtsverletzungen ernst nehmen, die Ermittlungen im Zusammenhang mit den beiden vor zwei bzw. fünf Jahren von mir als Mitglied des Europäischen Parlaments eingereichten Beschwerden bezüglich der Medienfreiheit in Ungarn zum Abschluss bringen und die Zweckentfremdung von EU-Mitteln im Land besser kontrollieren und sanktionieren. Darüber hinaus sollten sie Finanzierungssysteme schaffen, die Kommunen, NGOs und KMUs im Rahmen von MFR und NGEU direkt zugutekommen und sicherstellen, dass die Endempfänger/innen weiterhin Gelder von der EU bekommen für den Fall, dass die EU-Finanzierung aufgrund von Rechtsstaatlichkeitsmängeln ausgesetzt wird.

Ungarn erlebt eine Abkehr von der Demokratie aufgrund der amtierenden Regierung.

Budapest und viele Städte in ländlichen Gegenden werden von der Opposition regiert. Wir versuchen auch trotz des extrem hohen Drucks von Seiten der Regierung zu überleben. Unsere Schwierigkeiten mit Covid-19 werden durch die aggressiven Maßnahmen der Regierung, die den Städten die Gelder und uns die Ressourcen kürzt, noch verschärft. Die EU-Institutionen müssen strategische Partnerschaften mit den ungarischen und polnischen Städten aufbauen, in denen die öffentliche Meinung und politische Führung sehr viel pro-europäischer und progressiver sind als in den nationalen Regierungen. Die meisten Ziele der EU, einschließlich des Post-Covid-Wiederaufbauplans und den Klimazielen, lassen sich vor allem mit den Städten erreichen; dafür brauchen sie aber Unterstützung und Zusammenarbeit.   

Welche Verantwortung und Rolle hat Deiner Meinung nach die Bundesregierung in Bezug auf die Herausforderung, den antidemokratischen Entwicklungen in Ungarn etwas entgegenzusetzen?

Kein Zweifel: Ungarn erlebt eine Abkehr von der Demokratie aufgrund der amtierenden Regierung. Das heißt, letztlich trägt Ungarn dafür die Hauptverantwortung. Deutschland und insbesondere die CDU/CSU haben in diesem Prozess jedoch eine katastrophale Rolle gespielt: Die Europäische Volkspartei und Manfred Weber persönlich blockieren seit Jahren jedwede sinnvolle Maßnahme der EU gegen die ungarische Regierung.

Wenn es nicht um uns alle und die EU insgesamt gehen würde, würde ich sagen: ‚Herr Weber, Sie haben dieses politische Krisengericht gekocht und ich werde Ihnen nun dabei zusehen, wie Sie es auslöffeln‘. Für die Bundesregierung insgesamt und auch für Angela Merkel waren jedoch ein günstiges Rechts- und Besteuerungsumfeld, hunderte Millionen Euro an Direktsubventionen an deutsche Unternehmen durch die ungarische Regierung sowie milliardenschwere Rüstungsaufträge stets deutlich wichtiger als Grundrechte und Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Zur Verschlimmerung der Situation in Ungarn beizutragen, indem man schweigt und über die ungarische Regierung einen Schutzschirm hält, gehört nicht zu den glorreichsten Kapiteln der deutschen Geschichte.

Benedek, wir danken Dir für das Gespräch.


Benedek Jávor ist Leiter der Vertretung der Stadt Budapest bei der EU und ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments (Grüne/EFA).

 

Das Interview führte Eva van de Rakt, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel. Die englische Originalversion, veröffentlicht am 04. Dezember 2020, finden Sie hier.