Update Aserbaidschan: COVID-19 und der neue Krieg in Bergkarabach

Analyse

Die Entwicklungen, die sich in Aserbaidschan zwischen März und November 2020 vollzogen, sind für die moderne Geschichte des Landes und den gesamten Südkaukasus von Bedeutung. Vom Beginn der COVID-19-Pandemie bis zum jüngsten Krieg in Bergkarabach erlebte das Land eine Reihe von Ereignissen, die Einfluss auf seine Zukunft haben werden. Das autoritäre Regime hat sich durch den Karabach-Krieg  breite Zustimmung gesichert, selbst durch die Opposition.

Vor Kriegsausbruch hartes Vorgehen gegen Opposition

Der COVID-19-Ausbruch im März/April ging zunächst mit einem erneuten harten Vorgehen gegen die „alte“ Opposition einher. Gegen mehr als 20 Oppositionelle, hauptsächlich Mitglieder der Volksfront Aserbaidschans (PFPA), wurde während dieser Zeit Haft angeordnet.

Am 3. September wurde der prominente Oppositionelle Tofiq Yaqublu zu vier Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Aus Protest gegen die Entscheidung des Gerichts trat er in den Hungerstreik. Trotz aller Differenzen zwischen der „alten“ Opposition und den Gruppen junger Aktivist*innen stellte sich unerwartete Einigkeit ein: Tofiq Yaqublu erhielt massive Unterstützung von Feminist*innen und linksgerichteten Aktivist*innen, die im Zentrum von Baku einen kleinen Protest organisierten. Nach 17-tägigem Hungerstreik entließ das Gericht Yaqublu aus dem Gefängnis und stellte ihn stattdessen unter Hausarrest.

Veränderungen, die sich nachhaltiger auf die Geschichte der gesamten Region auswirken dürften, ergaben sich im Juli und September. Bei Zusammenstößen an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien kam im Juli Generalmajor Polad Haschimow ums Leben. Nach Bekanntwerden seines Todes fand in der Nacht vom 14. Juli eine spontane Demonstration statt. Eine kleine Gruppe von Demonstrant*innen drang dabei ins Parlament ein.

Die Ereignisse im Juli zeigten deutlich, welche Bedeutung der Konflikt mit Armenien für die Bevölkerung Aserbaidschans hat, insbesondere für die Teile der Gesellschaft, die sich keiner politischen Partei zugehörig fühlen. In der Folge der Proteste kam es jedoch zu einer Welle zunehmend schwerwiegender Repressionen gegen die Volksfront: Präsident Alijew warf der Partei ausdrücklich vor, sie versuche, die Situation auszunutzen und die Macht an sich zu reißen.

Breite Unterstützung für Alijew - Der Kriegsausbruch kam quasi-totalitärer Wende gleich

Der Ausbruch des Kriegs zwischen Aserbaidschan und Armenien um die nicht anerkannte Republik Bergkarabach Ende September veränderte die gesamte soziopolitische Lage im Land. In der Folge war nicht nur zu beobachten, dass die Bevölkerung enger zusammenrückte und die Regierung auf nationaler Ebene stärkere Unterstützung erfuhr, sondern möglicherweise führte der Konflikt zudem eine quasi-totalitäre Wende herbei.

Die politisch passive Mehrheit verharrte nicht länger in ihrer passiven Hinnahme der autoritären Hegemonie, sondern gewährte der Regierung und insbesondere Präsident Alijew während des Kriegs ihre volle Unterstützung. Durch diese quasi-totalitäre Wende entstand eine Situation, in der das „People-as-One versus the external Other“ stand (Lefort, 1988) und politische Opposition unmöglich wurde.

Nach 44 Tagen Krieg einigten sich beide Seiten am 9. November auf die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens, zu dem auch eine russische Friedensmission in Bergkarabach gehört. „Die Rückkehr Russlands“ wurde von der einheimischen Opposition in Aserbaidschan vielfach kritisiert. Doch trotz des postkolonialen Charakters der russischen Präsenz fungieren die Friedenstruppen immerhin als Garant für den Waffenstillstand.

Auf internationaler Ebene beeinträchtigten die Zusammenstöße vom Juli die Beziehungen Aserbaidschans zu Russland, Serbien und – überraschenderweise – Jordanien. Berichten regierungsfreundlicher Medien zufolge setzte Armenien bei den Gefechten serbische und jordanische Waffen ein (Haqqin.az, 21. Juli 2020). Aserbaidschan erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an, und dass Armenien Waffen aus Serbien einsetzte, verschlechterte die Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

Bei einem Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kritisierte Präsident Alijew offen die russischen Waffenverkäufe an Armenien, was in offiziellen Äußerungen in Aserbaidschan sonst nicht üblich ist (Kucera, 2020b). Armenien, ein Mitglied der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, erhielt während der Kämpfe im Juli keine Unterstützung von dieser Organisation.

Viele Beobachter hatten geglaubt, Russland sei ein enger Verbündeter Armeniens und die Türkei unterstütze Aserbaidschan. Tatsächlich ist die Position Russlands aber komplizierter. Russland gehört zwar der Minsk-Gruppe der OSZE an, verkauft aber Waffen an beide Seiten. Gleichzeitig liegt ein bewaffneter Konflikt in der Region nicht im Interesse Moskaus.

Außerdem führten die zuletzt EU-freundliche Politik Armeniens unter Premierminister Nikol Paschinjan und die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan, der enge Beziehungen zu Präsident Putin unterhält, zu Irritationen in der russischen Regierung. Der offene Protest Alijews gegen die russischen Waffenlieferungen zeugt von Selbstvertrauen, das durch die Unterstützung der Türkei möglich wurde.

Der neue Krieg und die Zukunft Bergkarabachs

Ende September begann ein ausgewachsener bewaffneter Konflikt zwischen Aserbaidschan und der nicht anerkannten Republik Bergkarabach. Während der gesamten Auseinandersetzungen erhielt Aserbaidschan die volle Unterstützung der Türkei, wohingegen die EU und die Vereinigten Staaten weitgehend passive Zuschauer blieben. Trotz der kriegerischen Verlautbarungen Aserbaidschans blieben die Länder der Minsk-Gruppe der OSZE (die USA, Frankreich und Russland) während der Gefechte im Juli bei ihrer passiven Haltung.

Als der Konflikt im Juli eskalierte, wurde klar, dass die vielfach erhobene Forderung nach einer „Rückeroberung der besetzten Gebiete“ einen Höhepunkt erreicht hatte. Auch wurden manche Äußerungen des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan, wie etwa seine Forderung nach der Vereinigung von Armenien und Bergkarabach im August 2019, von der aserbaidschanischen Bevölkerung und ihrer Führung als höchst provokativ empfunden (OC-Media, 7. August 2019).

Die Friedensverhandlungen zwischen den beiden Ländern waren in eine Sackgasse geraten, und auch die persönlichen Beziehungen zwischen Alijew und Paschinjan wirkten eher feindselig. Bereits bei der Debatte zwischen den beiden Männern im Februar 2020 in München zeigte sich, dass die Verhandlungen ins Stocken geraten waren.

Die ideologische Feindschaft zeigt sich auch in der von Präsident Alijew gegen die armenische Regierung erhobenen Beschuldigung, den Interessen des Investors und Philanthropen George Soros zu dienen. Während der Eskalation im Oktober wurde dieser Vorwurf wiederholt. Es wurde postuliert, dass die Samtene Revolution in Armenien 2018 von George Soros organisiert und finanziell unterstützt worden sei. Mit der Verbreitung dieses Narrativs unterstreicht Präsident Alijew die ideologischen Unterschiede zwischen der liberalen Regierung Armeniens und seiner autoritären Herrschaft.

In einem Interview mit türkischen Medien erklärte Alijew: „Soros kam heute in Armenien an die Macht, scheiterte aber.“ (Report, 16. Oktober 2020). Durch das wiederholte Vorbringen dieses Arguments betont Alijew nicht nur den Unterschied zwischen sich selbst und Paschinjan, sondern signalisiert gegenüber Moskau auch die Unvereinbarkeit zwischen der modernen russischen etatistisch-antiliberalen Ideologie und der Haltung der postrevolutionären armenischen Regierung.

Entmenschlichende Metaphern in Alijews Rhetorik

In seinen Reden zu dem Konflikt bediente sich Präsident Alijew gegenüber der armenischen Seite einer aggressiven Rhetorik. In zahlreichen Ansprachen an die Nation findet sich die entmenschlichende Metapher: „Wir jagen sie wie Hunde.“ (BBC, 4. Oktober 2020). Diese Formulierung ist in Aserbaidschan mittlerweile sehr beliebt und zeigt, welche Ausmaße die Feindseligkeit und die Hasstiraden in der aserbaidschanischen Gesellschaft angenommen haben.

In seiner Rede vom 9. Oktober erklärte Alijew, Aserbaidschan werde nur die vollständige Rückgabe Bergkarabachs akzeptieren (Daily Sabah, 9. Oktober 2020). In einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur RIA fügte er kürzlich hinzu, dass der ethnisch armenischen Enklave in Bergkarabach lediglich „kulturelle Autonomie“ gewährt werden könne (Al Jazeera, 22. Oktober 2020).

Nach Angaben der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte sind jedoch Stand Anfang November 90.000 Personen, der Großteil der ethnisch armenischen Bevölkerung Bergkarabachs, aus ihrer Heimat geflohen und haben sich auf armenischem Territorium niedergelassen (UNHCR, 2020). Dass die Bevölkerungsgruppen überhaupt nicht miteinander sprechen, die bestehenden Traumata und der jüngste Krieg machen ein Zusammenleben innerhalb der Grenzen Aserbaidschans unmöglich.

Zwischen dem 10. und dem 25. Oktober unterzeichneten Aserbaidschan und Armenien drei Waffenstillstandsabkommen, die allesamt schon kurz nach ihrer Verkündung gebrochen wurden.

Die Popularität Alijews erreichte während des Kriegs ihren Höhepunkt

Die Oppositionsführer stellten ihre Kritik ein, und Alijews Vorgehen wurde als gerechter und siegreicher Krieg wahrgenommen. Die aktive Unterstützung durch die Türkei während des Konflikts führte unweigerlich zu einer Neuartikulierung und dynamischen Wahrnehmung der Türkei als „großer Bruder“.

Bei den armenischen Raketenangriffen auf die Stadt Ganja und den Bezirk Barda wurden Zivilisten getötet, was die Feindseligkeit in der aserbaidschanischen Gesellschaft noch verstärkte.

Die Eskalation des Konflikts förderte tief verwurzelte ideologische Probleme in der Zivilgesellschaft und der Opposition Aserbaidschans zutage. Viele prominente Mitglieder der Zivilgesellschaft und Oppositionspolitiker unterstützten den Krieg und lobten Präsident Alijew ausdrücklich. Ilgar Mammadow von der Republikanischen Alternative und Tural Abbasli von der pro-türkischen rechtsgerichteten Partei AĞ wurden eingeladen, Fernsehsendungen auszustrahlen, was für Aserbaidschan ziemlich ungewöhnlich ist. Beide Parteiführer brachten ihre Unterstützung für Präsident Alijew und die aserbaidschanische Armee zum Ausdruck. Dagegen unterstützten Volksfront und Musavat zwar das Militär, vermieden es aber, Alijew ausdrücklich ihre Unterstützung anzubieten.

Am 8. November wurde die Einnahme von Schuscha bekannt gegeben. Dies war ein Ereignis von großer historischer Tragweite für Aserbaidschan (und Armenien) und wurde landesweit gefeiert.

Marginale Antikriegspositionen

Nur einige wenige Aktivist*innen, zumeist Feminist*innen und linke Progressive, schlossen sich der #NoWar-Kampagne an. In der Folge wurden viele von ihnen im Internet belästigt und öffentlich verurteilt. Trotz der virtuellen öffentlichen Anfeindungen gerieten diese Aktivist*innen aber nicht ernsthaft ins Visier der staatlichen Sicherheitsdienste.

Nach 44 Tagen Krieg einigten sich beide Seiten auf die Unterzeichnung eines Friedensabkommens, das unter anderem die Stationierung russischer Friedenstruppen in Bergkarabach vorsieht. Das Ende des Krieges wurde in Aserbaidschan weithin gefeiert und als Sieg empfunden. Die Stadt Schuscha verblieb unter der Kontrolle Aserbaidschans, wohingegen aus Stepanakert geflohene Armenier*innen in ihre Heimat zurückkehren können.

Alle übrigen Gebiete außerhalb Bergkarabachs werden wieder Aserbaidschan zugeschlagen, und die russischen Friedenstruppen werden die beiden Seiten mindestens für die nächsten fünf Jahre voneinander fernhalten und Gewalt verhindern. Es gibt nach wie vor offene Fragen. Aber eines ist sicher: Mit dem Friedensabkommen wächst der Einfluss Russlands in der Region erheblich.

Fazit: Das Leben nach dem Krieg

Am Ende seiner Rede über das Friedensabkommen sagte Präsident Alijew, dass die Opposition während des gesamten Krieges „die Interessen des Staates unterstützt“ habe (President.az, 10. November 2020).

Während der ersten Pandemiewelle, als die Opposition ein Ziel staatlicher Repressionen war, zeigte der Fall YaqubluTofiq, dass die alten Parteien ein Publikum haben und Rückhalt in der Bevölkerung genießen. Die nationale Idee, die auf dem Verlust Bergkarabachs aufgebaut wurde, verhinderte allerdings die Entstehung von ideologisch vielfältigen oppositionellen Gruppen mit einem Schwerpunkt auf nicht-nationalistischen Narrativen. Zu Beginn des Konflikts zeigte sich, dass die Opposition das aktuelle Regime als „Verteidigerin nationaler Interessen“ unterstützt, sei es aus echter Überzeugung oder weil sie keine andere Wahl hat.

Somit ist es wahrscheinlich, dass die Legitimität Ilham Alijews durch den Konflikt gestärkt wird. Während sich vor dem Krieg die hegemoniale Machtausübung des Regimes auf die passive Akzeptanz der entpolitisierten Mehrheit stützte, identifiziert sich heute das einfache Volk begeistert mit Präsident Alijew.

Alle drei großen Oppositionsparteien (Musavat, ReAl, PFPA) äußerten ihren Unmut angesichts der Stationierung russischer Truppen in der Region. Dieser Unmut hängt mit antirussischen Einstellungen zusammen, die in der aserbaidschanischen Opposition weit verbreitet sind. So sieht ReAl in dem Abkommen keine „vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans“, und nach Ansicht der Volksfront kann die russische Präsenz potenziell zu politischer Einmischung führen, während die Türkei eine ausgleichende Rolle zugunsten Aserbaidschans spielen wird (Həzi, 2020).

Insgesamt kann ein anti-hegemonialer Diskurs, der auf dem Gedanken der europäischen Integration beruht, im Nachkriegs-Aserbaidschan nicht als vielversprechende Strategie der Mobilisierung betrachtet werden. Aufgrund der passiven Haltung der westlichen Akteure ist die EU in der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Lage in Aserbaidschan ein Außenseiter. Das Sieges-Narrativ wird gleichzeitig erheblichen Einfluss auf die nationale Identität haben und sich entpolitisierend auswirken, indem es die Regierung Alijew mit dem Volk gleichsetzt.

Als Folge des Sieges wird es möglicherweise zu einer „nationalen Aussöhnung“ und zur Legitimierung einiger Oppositionsparteien kommen. In seiner jüngsten Rede machte Alijew jedoch erneut die Volksfrontregierung der Jahre 1992–93 für den Verlust Bergkarabachs verantwortlich (APA, 22. November 2020), wodurch eine Legitimierung der alten Opposition in der neuen soziopolitischen Realität unwahrscheinlicher wird. Allerdings weisen die etatistische Einheit und das Narrativ des „Einheitsvolks“ totalitäre Züge auf, die jede Hoffnung auf eine liberal-demokratische Wende in naher Zukunft unrealistisch erscheinen lassen.


Gekürzte deutsche Fassung. Für den Inhalt dieses Artikels ist allein der Verfasser verantwortlich. Es ist in keiner Weise eine Meinungsäußerung der Heinrich Böll Stiftung, Büro Tbilissi – Region Südkaukasus.


Quellen:

Al Jazeera (22. Oktober 2020). „Azeri president says Armenians can have ‚cultural autonomy‘“

APA (25. November 2020). „President: ‚The occupation of Kalbajar district is the direct responsibility of the then ruling Popular Front of Azerbaijan‘“

BBC (4. Oktober 2020). „Nagorno-Karabakh conflict: Major cities hit as heavy fighting continues“

Daily Sabah (9. Oktober 2020). „Aliyev says ready for talks over Nagorno-Karabakh, accepts only full restoration of territory“

Eurasianet (15. Juli 2020). „Pro-war Azerbaijani protesters break into parliament“

Haqqin.Az (21. Juni 2020). „Сербия признала поставки оружия в Армению“,

Həzi, Seymur (2020). „Savaş bitdi: nə oldu, nə olacaq?“ 

Kucera, Joshua (2020a). „After huge Baku rally, Azerbaijan rounds up usual suspects“

Kucera, Joshua (2020b). „Aliyev airs grievances to Putin over arms shipments to Armenia“

Lefort, C. (1988). Democracy and political theory. Cambridge: Polity Press.

OC Media (7. August 2019). „Pashinyan calls for ‚unification‘ between Nagorno-Karabakh and Armenia“

OHCHR (2020). „Nagorno-Karabakh conflict: Bachelet warns of possible war crimes as attacks continue in populated areas“

President.Az (10. November 2020). „İlham Əliyev xalqa müraciət edib“

Report (16. Oktober 2020). „İlham Əliyev: ‚Soros Ermənistanda hakimiyyətə gəldi, amma iflasa uğradı‘“