Autoritarismus auf Abruf - Mexiko vor den Wahlen vom 6. Juni 2021

Interview

Die Hoffnung auf Veränderung war 2018 nach dem Erdrutschsieg des Präsidenten Lopéz Obrador groß. Viele Wahlversprechen wurden jedoch gebrochen. Warum für AMLOS Partei Morena bei den anstehenden Wahlen dennoch nur leichte Verluste zu erwarten sind und vor welchen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen Mexiko steht, analysiert Dawid Bartelt, Leiter unseres Büros in Mexiko-Stadt.

Weiße Fahnen mit der Aufschrift "morena"

Klaus Ehringfeld: Herr Bartelt, Mexiko steht vor wichtigen Wahlen. Am 6. Juni werden das Bundesparlament und 15 Gouverneur/innen und Landesparlamente neu gewählt sowie Tausende von Ämtern auf Gemeindeebene neu besetzt. Der Präsident Andrés Manuel López Obrador will seine Machtbasis stärken. Wird ihm das gelingen?

Dawid Bartelt: Nach Umfragen könnte die Regierungspartei Morena leichte Verluste erleiden, aber ihre dominierende Stellung im Parlament behalten. Das ändert aber nichts an dem strukturellen Missverhältnis, wonach die Regierung kaum in Erscheinung tritt und der Staatschef im Alleingang Regierungskonzeption und Regierungshandeln bestimmt.

Wir haben in Lateinamerika vielfach präsidentielle Systeme, die leicht Überväter entstehen lassen, denen was Autoritäres anhaftet. López Obrador überhöht das noch. Er tritt als Staats- und Regierungschef, aber ebenso als Prediger, oberster Moralhüter und politischer Boxkämpfer auf. Morena tritt dagegen als politische Akteurin kaum in Erscheinung. Auch die Regierung wird neben dem Präsidenten gar nicht wahrgenommen. Die Ministerinnen und Minister sind darauf reduziert, die Anweisungen des Präsidenten umzusetzen. Das ist schade, denn sie sind alle eigentlich angetreten, um eine ganz neue Politik zu machen. Stattdessen erleben wir eine Präsidentenpolitik im Modus des permanenten Wahlkampfs. Und die Opposition tut ihm den Gefallen, dies zu bedienen.

Also muss man die ersten zweieinhalb Jahre der Linksregierung kritisch sehen?

Dieser Präsident gibt viel Anlass zu Kritik, und zwar wachsend. Aber man darf nicht vergessen, warum López Obrador gewählt wurde. Es ist immer die Frage, was gewesen wäre, wenn einer seiner Mitbewerber aus dem alten System regieren würde. Die alten Parteien haben sich weder politisch noch moralisch erneuert. Was Mexiko jetzt hat, ist nicht gut, aber sicher besser für das Land als die Vorgängerregierungen.

Es wächst aber zunehmend Kritik an López Obradors Vorgehen gegen zivilgesellschaftliche und verfassungskonforme Institutionen….

Ja, er geht offensiv gegen ihm unliebsame Politiker/innen und Journalist/innen, unabhängige staatliche Institutionen etwa der Justiz, aber auch gegen die Zivilgesellschaft vor. Auch Partnerorganisationen von uns hat er schon als „vom Ausland finanzierte Opposition“ beschimpft. Das führt zu Selbstzensur und vorauseilendem Gehorsam. Aber jenseits der verbalen Bedrohung ist keiner Institution bisher etwas passiert. Es ist eine Art Autoritarismus auf Abruf. Der Präsident selbst unterstreicht, dass er Demokrat sei. Er ist zu intelligent, um offen autoritär zu werden. Seine schlimmsten Feinde sind zudem nicht die Zivilgesellschaft oder die Institutionen, sondern die verheerende Sicherheitslage und die Wirtschaftskrise. Die Armut nimmt deutlich zu.

Da wären wir bei den Wahlversprechen. Wie weit hat der Präsident diese erfüllt?

Insgesamt ist seine Bilanz bescheiden. Er war ja gewählt worden, um die Gewalt zu reduzieren und die Armut zu bekämpfen. 2019 und 2020, seine ersten vollen Regierungsjahre, waren die mit der höchsten Mordrate überhaupt. Rund einhundert Morde pro Tag werden hier begangen. Auch in diesem Wahlkampf werden nahezu täglich Kandidat/innen sowie Politiker/innen ermordet. Das zeigt, dass das Organisierte Verbrechen ungebrochen die für seine Vertriebswege relevanten Teile des Staates kontrolliert. Angesichts von 36.000 Mordopfern pro Jahr müsste von einem linken Präsidenten aber mehr kommen als die Militarisierung der Sicherheitspolitik. Das Militär hat übrigens unter AMLO insgesamt enorm an politischer und wirtschaftlicher Macht zugelegt, besitzt jetzt zivile Flughäfen, kontrolliert den maritimen Warenkehr, ist sogar für Coronaimpfungen zuständig, im Grunde ist die Politik „militarisiert“.

Der andere Punkt ist die Armutsreduzierung. Für die Pandemie kann der Präsident nichts. Die großen Sozialprogramme erreichen jedoch nur einen kleinen Teil der mehr als 60 Millionen Mexikaner/innen, die in Armut leben – Tendenz stark steigend. Anders verhält es sich mit der kräftigen Erhöhung des Mindestlohnes. Das macht wirklich den Unterschied, weil es die Kaufkraft der Armen stärkt. Aber das versprochene Wirtschaftswachstum und die Schaffung von zwei Millionen Arbeitsplätzen jährlich sind ausgeblieben – schon vor der Pandemie. Zum Teil liegt das auch an den widersprüchlichen Signalen Richtung Wirtschaft. Zum Beispiel, als er den bereits fortgeschrittenen Neubau des internationalen Flughafens von Mexiko-Stadt absagte.

Der argumentative Anker seines Wahlkampfs war die Korruptionsbekämpfung. Nach verschiedenen Studien lässt sich ein leichter Rückgang der Bestechlichkeit feststellen. Aber der Automatismus, dass es dem Land bei erfolgreicher Korruptionsbekämpfung besser geht und sich alle Probleme lösen, stellt sich nicht ein. Das ist auch analytisch unterkomplex.

Ein großes Versprechen der Regierung war, der Migrationspolitik ein menschlicheres Antlitz zu geben.

Die Migrationspolitik ist vermutlich das am klarsten gebrochene Versprechen. Sie ist repressiv und abwehrend, und Mexiko ist praktisch ausführender Agent der US-Politik, einschließlich einer Drittstaatenregelung. Versprochen war eine Politik, welche die Menschenrechte der mittelamerikanischen Brüder und Schwestern respektiert und ihnen auch die Möglichkeit gibt, Arbeit zu finden und humanitäre Visa zu erhalten. Stattdessen erleben wir eine heftige Militarisierung der mexikanischen Südgrenze durch die neu geschaffene pseudomilitärische Nationalgarde. Und all das, um das wichtige Verhältnis zu den USA nicht zu gefährden.

Das Primat der Wirtschaft also…

López Obrador war es wichtiger, den neuen Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada nicht zu gefährden. Der damalige US-Präsident Donald Trump hatte das Abkommen an Zugeständnisse in der Migrationspolitik geknüpft. Da hat sich López Obrador klar entschieden und war dabei ja auch erfolgreich: Im vergangenen Quartal hat Mexiko einen Rekordhandelsbilanzüberschuss erwirtschaftet, die Heimüberweisungen der Migrant/innen sind gestiegen. Und die Exporte ziehen auch an. Unterdessen werden neun von zehn Migrant/innen auch unter Biden zurückgeschoben werden. Biden und Obrador haben sich allerdings darauf verständigt, die Staaten Mittelamerikas zu unterstützen – Fluchtursachen bekämpfen. Und die Lage der Migrant/innen, die bereits in den USA sind, wird sich gegenüber Trump wohl spürbar verbessern.

Es gibt auch sehr viel Kritik an der Umweltpolitik der Regierung…

Ja klar, das zweite große Versagen ist die rückwärtsgewandte Umweltpolitik. Mit einem Entwicklungsmodell aus dem vergangenen Jahrhundert treibt der Präsident die Rückkehr zu einer fossilen Wirtschaftspolitik voran, die gegen alles geht, was aus klimapolitischer Sicht notwendig und aus modernerer Wirtschaftspolitik möglich wäre.

Dabei hat Mexiko Potential für Energie aus Sonne, Wind und Biomasse, und hier war das Land auch auf einem guten Weg. Aber der Präsident hat die Erneuerbaren zum Stillstand gebracht, weil diese in der Hand ausländischer und privater Unternehmen sind. Die Energiereform von 2013/2014, die den Sektor für privates Kapital öffnete, wurde praktisch zurückgenommen. Stattdessen pumpt er Millionen in den überschuldeten Staatskonzern Pemex, baut mit massiven staatlichen Subventionen die fossilen Energien aus, deren Nutzbarmachung immer komplizierter und teurer wird. Diese Politik ist ökonomisch wenig sinnvoll und klimapolitisch verheerend.

Mexikos Frauen kritisieren ihren Präsidenten für seine fehlende Sensibilität beim Gender-Thema…

Auch hier fehlt López Obrador ein politisches Konzept, wie man die unglaubliche Bedrohung und Gefährdung von Frauen und Mädchen konzeptionell angehen kann. Aber der Druck seitens der Frauen ist enorm gestiegen. In ganz Lateinamerika und Mexiko haben sich die Frauen und die Frauenbewegung als die wohl sichtbarste und aktivste zivilgesellschaftliche Kraft überhaupt etabliert. Sie werden sich immer, und unüberhörbar, zu Wort melden. Wir sahen das am Internationalen Frauentag am 8. März. Es war die einzige Straßen-Demonstration mitten im Lockdown. Das zeigt die Stärke und Kraft der Bewegung.

Aber der Präsident hat sich des Themas nicht wirklich angenommen….

López Obrador widerspricht den Anliegen der Frauen nicht offen, aber er unterstützt sie auch nicht öffentlich, er setzt sein politisches Gewicht nicht ein. Zum Reizthema Schwangerschaftsabbruch schweigt er sich aus. Dabei sind die Forderungen der Frauen an Dringlichkeit kaum zu überbieten.

Bekommt der Präsident also am 6. Juni die Quittung für fehlende Erfolge und Empathie?

Er hat noch immer gut 60 Prozent Zustimmung. Nicht einmal gegen seine fragwürdige Rolle in der Coronapolitik hat es größere Proteste gegeben, obwohl hier bereits offiziell 222.000 und tatsächlich wohl mehr als eine halbe Million Menschen an Corona gestorben sind. Die armen Menschen, für die er spricht, glauben noch an ihn. Und seine Politik hat auch für Millionen von Menschen bis zur Pandemie spürbare Verbesserungen gebracht. Aber es wird wohl keine Fortsetzung des Erdrutschsieges von 2018 geben, wie viele erwartet hatten. Die PRI, die ewige Regierungspartei von früher, Symbol für das alte korrupte System, hat sich in den Umfragen gegenüber dem Ergebnis von 2018 verdoppelt, auf 18-19 Prozent, und könnte zweitstärkste Partei im Bundesparlament werden. Zusammen mit der konservativen PAN und der seinerzeit mal von AMLO mitgegründeten PRD werden sie zumindest die verfassungsändernde Mehrheit der Regierungskoalition brechen können. Morena wird wohl seine absolute Mehrheit verlieren und ist dann auf die Partner angewiesen. Darunter ist die so genannte Grün-Ökologische Partei Mexikos; sie stand Jahrzehnte treu an der Seite der PRI und ist Inbegriff des Opportunismus, für den das alte Parteienwesen steht, und dem sich auch Morena nun nicht mehr verschließt.