Es ist Zeit, geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden

Kommentar

Geschlechtsspezifische Gewalt wird meist als Gewalt gegen eine Person aufgrund ihres tatsächlichen oder vermeintlichen Geschlechts definiert. Diskriminierende gesellschaftliche Normen, Einstellungen und Praktiken fördern Vorstellungen von männlichem Privileg, Dominanz und Gewalt und führen zu einer weit verbreiteten Akzeptanz von GBV, aber auch zu ihrer Unsichtbarkeit. Die weltweite Tendenz zur Opferbeschuldigung verkennt die Machtdynamik und vermittelt eine patriarchalische Sicht auf die Geschlechterbeziehungen, was nicht nur der Istanbuler Konvention widerspricht.

Treffen mit globalen Flaggen World International UN

Weltweit wird Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge jede dritte Frau irgendwann in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt.[1] Der größte Teil dieser Gewalt wird von einem Intimpartner verübt.[2] Gewalt gegen Frauen und Kinder ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, von der Frauen und Mädchen sowohl in Ländern mit hohem als auch in Ländern mit niedrigem Einkommen betroffen sind.

Da Frauen und Mädchen unverhältnismäßig häufig von dieser Gewalt betroffen sind, wird die Wendung „Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ häufig synonym verwendet mit dem Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt“ (gender-based violence, GBV) – Gewalt, die einer Person aufgrund ihrer tatsächlichen oder angenommenen Geschlechtszugehörigkeit zugefügt wird. Aber auch der LGBTQI+-Gemeinschaft zugehörige Menschen sind aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität Gewalt ausgesetzt. Und auch Jungen und Männer können – wenn auch statistisch weniger signifikant – von GBV betroffen sein: beispielsweise von sexueller Gewalt gegen Männer und Jungen in Konflikt-, Vertreibungs- oder Inhaftierungssituationen.[3]

Der Hauptgrund für GBV ist die weit verbreitete Ungleichheit der Geschlechter und das ungleiche Machtverhältnis zwischen ihnen. Gesellschaftliche Normen, Einstellungen und Gewohnheiten, die Frauen, Mädchen und Menschen der LGBTIQ+-Gemeinschaft diskriminieren und Vorstellungen von männlichen Privilegien sowie männlicher Überlegenheit und Gewalt fördern, führen nicht nur dazu, dass GBV weithin akzeptiert wird, sondern auch unsichtbar bleibt. Ein Großteil der GBV wird nach wie vor nicht gemeldet.

GBV kommt in allen sozioökonomischen Gruppen vor, aber nicht alle sind gleichermaßen vor dieser Gewalt geschützt. Durch sich überlappende Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung sind beispielsweise Menschen mit Behinderung, mit Flüchtlings- oder Migrantenstatus, Intersex- oder Transfrauen oder Menschen ohne festen Wohnsitz einem viel höheren Gewaltrisiko ausgesetzt und haben weniger Zugang zu Schutz und Unterstützung. In Deutschland lassen Berichte darauf schließen, dass bei Frauen mit Behinderungen, vor allem bei den in Betreuungseinrichtungen lebenden, die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden, zwei bis dreimal so hoch ist wie bei anderen Frauen.[4]

Geschlechtsspezifische Gewalt kommt in vielen Formen vor: von körperlichem, sexuellem oder psychischen Missbrauch über die Vorenthaltung sozialer oder wirtschaftlicher Möglichkeiten innerhalb der Familie oder durch einen Intimpartner bis hin zu sexueller Belästigung, Ausbeutung oder Missbrauch am Arbeitsplatz oder anderen Formen von Gewalt in der Öffentlichkeit oder im Internet. Die Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt reichen von emotionalem Schaden und Leid über gesellschaftliche Stigmatisierung und Abgrenzung bis hin zu lebensgefährlichen Verletzungen und Tod. GBV betrifft zwar in erster Linie Frauen und Mädchen, aber diese Form der Gewalt hat eine zerstörerische Wirkung für Familien und Gemeinschaften als Ganzes.

Auch wenn Frauen und Mädchen sowohl in Ländern mit hohem als auch in Ländern mit niedrigem Einkommen von Gewalt betroffen sind, so gibt es doch erhebliche Unterschiede zwischen Regionen und Ländern. Frauen in der pazifischen Region (mit Ausnahme von Australien und Neuseeland), in Südasien und im Afrika südlich der Sahara sind am stärksten dem Risiko von Gewalt ausgesetzt, während dieses Risiko für Frauen in Europa vergleichsweise geringer ist.[5] Ein Blick auf Länder mit vergleichbaren Daten zeigt, dass der Anteil von Frauen und Mädchen, die in einem Zeitraum von zwölf Monaten körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen Intimpartner erlitten, von 3,5 Prozent in Armenien (2015-2015) bis zu 46,1 Prozent in Afghanistan reichte.[6]

In vielen Ländern gilt Gewalt in der Partnerschaft in der Gesetzgebung und bei Justizbehörden immer noch als Privatangelegenheit, weshalb GBV immer noch größtenteils straffrei bleibt. In nur 27 Prozent der Länder gibt es Gesetze über Vergewaltigung in der Ehe.[7] Zum Tragen kommen die unterschwelligen patriarchischen Ansichten in der Gesetzgebung und Rechtsprechung auch in den Gerichtsurteilen zu Femiziden, der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts. Beispielsweise werden Femizide im Kontext von Trennungen von der deutschen Justiz häufig als Totschlag, also eine Tat ohne niedere Beweggründe wie im Fall von Mord, erachtet und deshalb mit einem niedrigeren Strafmaß geahndet.[8]

Internationale Rechtsinstrumente sind von zentraler Bedeutung, um Standards festzulegen und Staaten für ihre Maßnahmen bzw. ihre Untätigkeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, gilt allgemein als das weitreichendste Rechtsinstrument, um Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen. Die Staaten, die dieses Übereinkommen ratifizierten, müssen umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen ergreifen. Dazu gehören auch präventive Maßnahmen, Hilfe und Schutz für die Gewaltüberlebenden sowie die Sorge dafür, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten der Konvention, Taten wie häusliche Gewalt, Stalking, sexuelle Belästigung und psychische Gewalt unter Strafe zu stellen und strafrechtlich zu verfolgen. Die Umsetzung der Konvention wird von einem unabhängigen Fachgremium (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence, GREVIO) überwacht.[9] Die Istanbul-Konvention wurde von 40 europäischen Staaten unterzeichnet und von 34 ratifiziert. Die Türkei hatte die Konvention zunächst ratifiziert, ist aber 2021 wieder aus ihr ausgetreten, was in Zeiten zunehmender Gewalt gegen Frauen in dem Land ein verheerendes Signal aussandte.[10]

Über die regionale Ebene hinaus ist das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women, CEDAW) eines der wichtigsten internationalen Verträge zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Diskriminierung und zum Schutz der Frauenrechte. Das 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Übereinkommen wurde von 189 Staaten ratifiziert. Das CEDAW-Komitee hat GBV als eine Form der Diskriminierung ausgelegt und daher von den Staaten verlangt, spezifische Maßnahmen zu ergreifen und Berichte darüber zu erstellen.[11] Und auch Erklärungen wie die UN-Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (1993), die Pekinger Erklärung und Aktionsplattform (1995) sowie die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030 (Ziel 5) sind zwar rechtlich nicht bindend, aber doch sehr wichtig für die Bekräftigung, Stärkung und Überwachung der Verpflichtungen der internationalen Gemeinschaft zur Gleichstellung der Geschlechter und Beendigung von GBV.[12]

GBV nimmt in Konflikt- und Katastrophensituationen zu, wenn Risiko- und Stressfaktoren größer sind, wenn die Strafverfolgung sowie Schutznormen und -mechanismen zusammenbrechen, wenn Straffreiheit, Verletzlichkeit und Abhängigkeit zunimmt etc. Sexuelle Gewalt wird von Konfliktparteien auch als Kriegswaffe benutzt. In mehreren Resolutionen des UN-Sicherheitsrats – darunter auch der richtungsweisenden Resolution 1325 – wurde das Risiko von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt in Konflikten und deren Auswirkung auf Frauen und Mädchen anerkannt und ein höherer Schutz sowie größere Beteiligung, Inklusion und Befähigung von Frauen in allen Bemühungen um Frieden und Sicherheit gefordert.[13] In der Resolution 1325 wird auch die zentrale Rolle von Frauen bei der Friedenskonsolidierung anerkannt – Frieden und Sicherheit sind dauerhafter, wenn Frauen an der Verhütung und Beilegung von Konflikten gleichberechtigt mitwirken.

In den letzten Jahren wurden Fortschritte gemacht: Im Jahr 2020 meldeten über 80 Prozent der Länder, dass in den vorhergehenden fünf bis sieben Jahren Maßnahmen ergriffen wurden, um Gesetze gegen Gewalt an Frauen einzuführen und in Kraft zu setzen, und 87 Prozent der Länder berichteten, dass Dienste für Gewaltüberlebende eingeführt oder verstärkt wurden.[14] Dennoch ist das Ausmaß an GBV nach wie vor erschreckend hoch. Die Corona-Pandemie hat viele der Risikofaktoren erhöht und dazu beigetragen, dass die ungleichen Machtstrukturen erhalten bleiben. Wie am Beispiel von Deutschland zu sehen ist, sind die tief verwurzelten Triebkräfte des Missbrauchs nach wie vor nicht beseitigt und die Präventivmaßnahmen unzureichend. Dennoch: Viele Frauen und Mädchen brechen das Schweigen und es gibt viele Bewegungen, die ein Ende der Straffreiheit und eine Rechenschaftsplicht in allen Regionen fordern.[15] Schließen wir uns diesen Bewegungen an und beenden die geschlechtsspezifische Gewalt!

 

[1] Siehe WHO, Violence against Women, Key facts (https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-women)

[2] Ebd.

[4] Siehe Committee on the Elimination of Discrimination against Women (Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau), Concluding observations on the combined seventh and eight periodic reports of Germany, 2017 (abschließende Bemerkungen über den zusammengefassten 7. und 8. periodischen Bericht Deutschlands 2017) (https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=CEDAW/C/DEU/7-8&Lang=en)

[5]Siehe UN Statistics on Violence against Women and the Girl Child 2020 (https://worlds-women-2020-data-undesa.hub.arcgis.com/apps/50dd1b2d6167437693178836261522e6/explore)

[6] Siehe UN Statistics on Violence against Women and the Girl Child 2020 (https://worlds-women-2020-data-undesa.hub.arcgis.com/apps/50dd1b2d6167437693178836261522e6/explore)

[7] Siehe UN Statistics on Violence against Women and the Girl Child 2020 (https://worlds-women-2020-data-undesa.hub.arcgis.com/pages/violence-against-women-and-the-girl-child)

[9] Siehe Europarat zur Istanbul-Konvention, Fragen und Antworten (https://rm.coe.int/istanbul-convention-questions-and-answers-german/1680986a6d), auch zu weiteren Informationen.

[11] Allgemeine Empfehlungen vom Ausschuss über die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen, Nr. 19, (https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared%20Documents/1_Global/INT_CEDAW_GEC_3731_E.pdf)

[12] Weitere Informationen über weltweite Normen und Standards zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen finden sich bei UN Women: https://www.unwomen.org/en/what-we-do/ending-violence-against-women/global-norms-and-standards

[13] Weitere Informationen über weltweite Normen und Standards im Zusammenhang mit Frieden und Sicherheit finden sich bei UN Women: https://www.unwomen.org/en/what-we-do/peace-and-security/global-norms-and-standards

[14] Siehe UN Women zu weltweiten Normen und Standards zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen https://www.unwomen.org/en/what-we-do/ending-violence-against-women/global-norms-and-standards

[15] Siehe UN Women, Gender equality: Women´s rights in review 25 years after Beijing, (https://www.unwomen.org/en/digital-library/publications/2020/03/womens-rights-in-review)