Vom Feld auf den Teller: Die Risiken digitaler Technologien in der brasilianischen Landwirtschaft

Analyse

Für die einen sind digitale Technologien die Zukunft der lateinamerikanischen Landwirtschaft. Für die anderen ist diese Entwicklung eine Form des Datenkolonialismus. 

Illustration Landwirtschaft

Der Vormarsch der digitalen Technologien ist seit Jahrzehnten unaufhaltsam. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung noch beschleunigt. Digitale Technologien sind sowohl im Privaten als auch im Beruf fester Bestandteil täglicher Routinen und Aktivitäten geworden. Dies trifft auch auf Bereiche zu, in denen sie bisher noch keinen oder keinen so starken Einsatz gefunden hatten, wie beispielsweise in der Schule, bei Arztterminen, Gerichtssitzungen oder Meetings.

Auch wenn digitale Technologien derzeit vor allem in den Städten Anwendung finden, geht der Bericht «Digital Technologies in Agriculture and Rural Areas»[1] davon aus, dass die digitale Revolution auf dem Land am stärksten und bahnbrechendsten ausfallen wird. Sie hat das Potenzial, nicht nur die Form des Anbaus, sondern alle Glieder der Agrar- und Lebensmittelkette zu verändern. Die Autoren schätzen, dass die Digitalisierung und intelligente Automatisierung im Jahr 2030 mit 14 Prozent zum globalen BIP beitragen und damit einen Wert von heute etwa 15 Billionen US-Dollar ausmachen wird.

Diese Zahlen erklären, warum Länder und Technologieunternehmen, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen und Geschwindigkeiten, in den Fortschritt von digitalen Systemen und Plattformen investieren, die auf den ländlichen Raum und das Agrobusiness ausgerichtet sind. Laut der von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) erstellten «Agtech Innovation Map in Latin America and the Caribbean»[2] ist die Anzahl der in diesem Bereich tätigen Start-ups in Lateinamerika zwischen 2017 und 2019 von 157 auf 457 gestiegen und hat sich fast verdreifacht. Davon konzentrieren sich 51 Prozent in Brasilien, gefolgt von 23 Prozent in Argentinien. Von diesen Start-ups sind 67 Prozent in der digitalen Innovation tätig und teilen sich wiederum auf die folgenden Bereiche auf: 41 Prozent Fern­erkundung, 36 Prozent Georeferenzierung, 30 Prozent Mobiltechnologien, 17 Prozent Internet der Dinge[3], 14 Prozent Big Data, 14 Prozent Künstliche Intelligenz, ein Prozent Blockchain und ein Prozent Robotik.

Die digitalen Technologien werden für die Agrar- und Ernährungswirtschaft, wie auch für viele andere Branchen, als unumgänglich dargestellt. Die Agrar- und Ernährungswirtschaft allein macht 7,8 Billionen US-Dollar Umsatz und stellt weltweit 40 Prozent der Arbeitsplätze[4]. Als Grund wird angeführt, dass der Sektor ohne den Einsatz digitaler Technologien den Bedarf der wachsenden Weltbevölkerung nicht decken kann, die von 7,6 Milliarden im Jahr 2018 auf mehr als 9,8 Milliarden im Jahr 2050 ansteigen wird.

Gefördert wird die Flut an Innovationen laut IDB von der weltweiten Konvergenz der Technologien sowie von grundlegenden Faktoren wie Umweltfragen, Verbraucheranforderungen, öffentlichen Politiken und der Dynamik der landwirtschaftlichen Produzenten. Brasilien steht im Ranking der Start-ups in dieser Branche in Lateinamerika an erster Position. Die «Agtech Innovation Map» führt dies auf den großen heimischen Markt sowie auf das Vorherrschen unternehmerischer Ökosysteme zurück, die Neuankömmlinge in der Branche begünstigen.

Brasilien und Agro 4.0

Brasilien versucht um jeden Preis im Bereich des hypervernetzten, hochgradig optimierten, individualisierten, intelligenten und datengesteuerten Agrobusiness eine Vorreiterrolle einzunehmen. Dafür setzt es vollständig um, was das Mapping der IDB beschreibt: öffentliche Politiken und die Stärkung der Wirtschaft. So wurde im Rahmen des «Nationalplans für das Internet der Dinge» die Kammer Agro 4.0 geschaffen. Außerdem lancierte die Regierung die erste Version des Programms 4.0[5], in dem 14 Pilotprojekte für die Einführung und Verbreitung von digitalen Technologien im Agrobusiness finanziert werden sollen.[6]

In der Ausschreibung der Pilotprojekte wird als eines der wichtigsten Zuschlagskriterien genannt, die jeweilige Produktionskette vollständig nachverfolgen und überwachen zu können. Die Unternehmen sollen in ihrem jeweiligen Bereich Daten sammeln und verarbeiten und diese den an dem Programm beteiligten Ministerien für 20 Monate zur Verfügung stellen, insbesondere der Brasilianischen Agentur für Industrieentwicklung (ABDI).

Trotz der geforderten umfangreichen Datenerhebung wird in der Ausschreibung nicht näher darauf eingegangen, wie die Daten gesammelt, wie und wo sie gespeichert, für welche Akteure sie zugänglich gemacht und wie sie zwischen diesen Akteuren ausgetauscht werden sollen. Auch die Frage, welche Datenschutzvorkehrungen in welcher Etappe getroffen werden müssen, bleibt unerwähnt. Außerdem findet das Allgemeine Gesetz zum Datenschutz, das seit dem 18. September 2020 in Brasilien als grundlegende Leitlinie für jegliche Verfahren gilt, in denen sensible persönliche Daten gesammelt und verarbeitet werden, in der Ausschreibung keinerlei Erwähnung.

Datenkolonialismus und das Agrobusiness 

Wer über detaillierte Daten zu den Produktions- und Wertschöpfungsketten eines Marktes verfügt, der 2019 für einen Anteil von 21,4 Prozent des brasilianischen BIP[7] verantwortlich war, der hat, gelinde gesagt, einen extremen Wettbewerbsvorteil.

In diesem Sinne zeigt das Mapping der IDB, dass Lateinamerika aufgrund seiner Größe und Wettbewerbsfähigkeit besonders attraktiv ist. Alle auf lokaler Ebene entwickelten Technologien werden in sehr naher Zukunft mit den technischen Lösungen aus anderen Regionen koexistieren. Dies gilt beispielsweise für die Technologien der nordamerikanischen Firmen Ascus Biosciences, Farmers Edge und Produce Pay, der europäischen Firmen Agroptima, e-farm, EC2C, Gamaya und Metos sowie dem israelischen Unternehmen Taranis, die bereits in Partnerschaften mit lateinamerikanischen Unternehmen arbeiten.

«Agro ist Tech, Agro ist Pop, Agro ist alles» – so ein derzeit verbreiteter Slogan. Es überrascht nicht, dass digitale Technologien als die beste Alternative für das Agrobusiness präsentiert werden, um zu wachsen und seinen Wettbewerbsvorteil auf globaler Ebene zu erhalten[8]. Hierfür muss jedoch die Quantität, Qualität und Vielfalt der Daten deutlich gesteigert werden, unabhängig davon, von wem sie wann und wie gesammelt und verarbeitet werden.

Für Nick Couldry und Ulises Mejias[9] stellt die aktuelle Entwicklung eine Form des Datenkolonialismus dar, der die ausbeuterischen Praktiken aus der Kolonialgeschichte mit ab-strakten Quantifizierungsmethoden aus der Informatik kombiniert, in denen Menschenleben durch Daten in Einkommen und Profit umgewandelt werden. Digitale Technologien, wie u.a. Verwaltungssysteme, Messenger-Apps, Boden- und Bewässerungssensoren, Drohnen oder Robotertraktoren erheben bei ihrem Einsatz in der Landwirtschaft ununterbrochen Daten. Diese füttern riesige Datenbanken, mithilfe derer die sogenannten Big Data verarbeitet und Milliarden Profile erstellt werden. Diese Profile sind der Rohstoff für die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen sowie immer präziserer Online-Marketingstrategien.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft wird als Lösung für die täglichen Herausforderungen dieses Sektors gehandelt. Doch die Art und Weise, wie die Technologien entwickelt und eingesetzt werden, führt zu neuen Formen von Ausbeutung und Aneignung, die wiederum neue Dynamiken für Diskriminierung und Ungleichheit im Datenkolonialismus hervorbringen werden. Eine direkte Auswirkung im ländlichen Raum wäre z. B. eine steigende Arbeitslosigkeit, da automatisierte Prozesse Arbeitskräfte ersetzen. Indirekt entsteht ein Wettbewerbsvorteil für die Großproduzenten, wie bei der Erhebung und Verarbeitung der Daten entlang der gesamten Wertschöpfungskette, sowie auch die Möglichkeit, abhängig von den jeweils eingesetzten Technologien die Aktivität kleinerer Produzentinnen und Produzenten umfassend nachzuverfolgen und zu überwachen.

Digitale Technologien und ihre Auswirkungen auf die Lebensmittelkette

Schon Eduardo Galeano stellte fest, dass «Souveränität mit dem Essen beginnt». Die Auswirkungen der digitalen Technologien auf die Produktionsketten in der Landwirtschaft werden größtenteils geräuschlos verlaufen: ohne Kenntnis und Zustimmung der betroffenen Menschen. Ferner von der durch Galeano heraufbeschworenen Souveränität könnte dies nicht sein.

Die Vorteile der Digitalisierung bei Entscheidungen hinsichtlich Pflanzung, Bewässerung, Ernte und Vermarktung sind offensichtlich. Das Problem liegt darin, dass die Digitalisierung die Macht in den Händen einiger weniger Akteure konzentriert, die in der Lage sind, diese Daten zu sammeln, zu verarbeiten und zu klassifizieren. Die vielfach hohen Kosten dieser Technologien werden dazu führen, dass immer mehr Produzenten aus dem Markt ausgeschlossen werden, was sich auf die lokalen Praktiken der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen auswirken könnte.

Aufgrund der wenigen systematischen offiziellen Daten zu diesem Thema wird sowohl für Brasilien als auch für den Rest von Lateinamerika deutlich, dass ein Mapping über den aktuellen Stand der Digitalisierung in der Landwirtschaft notwendig wäre, das die Hauptakteure und ihr jeweiliges Segment aufzeigt (z.B. Investitionen, Technologie, Datenverarbeitung und -schutz, Trainings) sowie die Auswirkungen, die die jeweiligen digitalen Technologien auf jede einzelne Phase der Produktions- und Wertschöpfungsketten haben werden.

Sobald überschaubar ist, welche Phasen es auf dem Weg «vom Feld auf den Teller» gibt und welche Rolle die unterschiedlichen digitalen Technologien darin einnehmen, ist es auch möglich, Engpässe auszumachen und technische Möglichkeiten auszuloten, die für Inklusion, Fortschritt und Transparenz in der Landwirtschaft sorgen.  


[1] rendov, Nikola M.; Varas, Samuel; Zeng, Meng: «Digital Technologies in Agriculture and Rural Areas Status Report». Food and Agriculture Organization of the United Nations, Rom, 2019. Verfügbar unter: http://www.fao.org/3/ca4985en/CA4985EN.pdf (Zugriff am 01.12.2020).

[2] Viton, Roberto; Leska, Ana C.; Teixeira, Tomas L.:«Agtech Innovation Map in Latin America and the Caribbean», Inter-American Development Bank, USA, 2019. Verfügbar unter: https://publications.iadb.org/en/agtech-agtech-innovation-map-latin-ame… (Zugriff am 10.03.2021).

[3] Begriff für Objekte, die über ein System verfügen, mit dem sie über ein Netzwerk mit anderen Geräten kommunizieren können. Ein Beispiel aus der Landwirtschaft wäre der strategische Einsatz von Bodensensoren, die feststellen, wann bewässert werden muss und dies direkt an eine automatische Bewässerungsanlage kommunizieren, die sofort Wasser freigibt.

[4] Trendov, Nikola M.; Varas, Samuel; Zeng, Meng: «Digital Technologies in Agriculture and Rural Areas Status Report», Food and Agriculture Organization of the United Nations, Rom, 2019. Verfügbar unter: http://www.fao.org/3/ca4985en/CA4985EN.pdf (Zugriff am 01.12.2020)

[5] MAPA, ME E MCTI: «Agro 4.0: Adoção e Difusão de Tecnologias no Agronegócio», Brasilien, 2020. Verfügbar unter: https://agro40.abdi.com.br/ (Zugriff am 10.12.2020).

[6] Die der Ausschreibung zugeteilten Summen sind schwindelerregend und liegen bei fast 236,3 Milliarden brasilianischen Real, die die Zentralregierung durch das Programm Plano Safra 2020/21 in das Agrobusiness investiert hat. Auffällig ist, dass die Entwicklung digitaler Technologien für die Landwirtschaft in Übereinstimmung mit dem öffentlichen und dem privaten Sektor stattfindet.

[7] CNA: «Panorama do Agro», Brasilien,  2020. Verfügbar unter: https://www.cnabrasil.org.br/cna/panorama-do-agro#:~:text=O%20agroneg%C… (Zugriff am 10.12.2020).

[8] Slogan der Marketingkampagne «Agro: a Indústria-Riqueza do Brasil» (Deutsch: «Agro: der Industrie- reichtum Brasiliens») des größten Fernsehsenders Brasiliens Rede Globo, um das Agrobusiness zu fördern.

[9] Couldry, Nick; Mejias, Ulises A.: «The Costs of Connection: How Data Is Colonizing Human Life and Appropriating It for Capitalism», Stanford University Press, 2019.


Übersetzung aus dem Brasilianischen: Kirsten Grunert

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Cybergesetze, Bitcoins und Empowerment: Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika