"Eine Erziehung, die Würde und Respekt für andere stärkt, ist unverzichtbar geworden"

Interview

Tarcila Rivera Zea von der Quechua-Chanka-Nation in Peru ist seit mehr als 40 Jahren eine wichtige indigene Aktivistin und anerkannte Verteidigerin der Rechte indigener Mädchen, Frauen, Jugendlicher und Völker. In diesem Interview gibt sie Ratschläge dazu, wie man jungen Menschen beibringt, Mutter Erde zu wertschätzen.

Lesedauer: 9 Minuten

Dieses Interview ist Teil unserer Serie zum Earth Overshoot Day 2022.

Der Overshoot Day ist der Tag, an dem wir als Weltgemeinschaft mehr Ressourcen verbraucht haben, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann. Dass dieser Tag jedes Jahr auf ein früheres Datum im Kalenderjahr fällt, verdeutlicht die Beschleunigung und Konvergenz mehrerer Krisen, insbesondere der Klima- und Biodiversitätskrise. Dieses Jahr fällt der Tag auf den 28. Juli 2022. Bitte nennen Sie uns 1-2 Themen/Prozesse/Initiativen, die Sie derzeit in Ihrem beruflichen Kontext unterstützen und für absolut entscheidend halten, um uns auf nachhaltigere Wachstumspfade zu lenken.

Als Verfechterin der kollektiven und individuellen Rechte von Frauen, jungen Menschen und indigenen Völkern besorgt mich das übermäßige Profitstreben auf Kosten unserer natürlichen Ressourcen, insbesondere der Gesundheit unserer Natur, deren enorme biologische Vielfalt an Nahrungs- und Arzneimitteln geplündert und zerstört wird.

Unsere Priorität als indigene Frauen ist, dass das Saatgut erhalten bleibt, damit wir weiterhin nahrhafte, Nahrungsmittel erzeugen können. Nach jedem Anbauzyklus wird Saatgut ausgewählt und für die nächste Anbausaison gelagert. Jedoch stellen die Auswirkungen des Klimawandels und der Raubbau an Böden und Untergrund eine große Gefahr für die Produktion dar. Die Welt muss begreifen, dass wir aussterben werden, wenn wir unser Saatgut nicht schützen und unsere Wasserressourcen nicht sichern.

Für uns Frauen und indigene Völker hat der Zugang zu territorialen Rechten Priorität, weil er unsere Lebensgrundlage wahrt, unsere Natur schützt und unser tägliches Auskommen in den entlegensten Gemeinden und in den Städten sichert. Das Recht auf Ernährungssouveränität steht in engem Zusammenhang mit unseren kollektiven und individuellen Rechten; daher müssen wir Raubbau an diesen Ressourcen verhindern und sie für künftige Generationen bewahren.

Welche Rolle spielen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter bei diesen Prozessen/Initiativen? Welche Rolle sollten sie spielen?

Die grundlegenden Menschenrechte sind das schützende Dach all unserer Rechte. Unser Land und unser Zugang zu natürlichen Ressourcen sichert unser aller Lebensunterhalt. Wenn wir nach dem übergreifenden menschlichen Konzept der gegenseitigen Rücksichtnahme handeln, können wir auf Basis von Gegenseitigkeit und Komplementarität ein gutes Leben gestalten.

Unser Ausgangspunkt ist der respektvolle Umgang der Menschen miteinander und gegenseitige Unterstützung. Dieses ganzheitliche Konzept wurde durch Kommerz und ausbeuterisches Verhalten gestört, was letztlich jede Beziehung aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Es hat zu Wettbewerb und tiefgreifenden Ungleichheiten geführt, sei es in Bezug auf Besitztümer oder auf zwischenmenschliche Beziehungen über unsere Verschiedenheiten hinweg. 

Frauen brauchen Zugang zu gleichberechtigten Möglichkeiten für geistige, körperliche, emotionale und berufliche Weiterentwicklung. Weil wir das immer wieder verzögert haben, hat sich die Diskriminierung immer weiter vertieft. Indigene Frauen haben aufgrund von strukturellem und institutionalisiertem Rassismus weniger Zugang zu Chancengleichheit im Vergleich zu anderen Bereichen, erst recht im Vergleich zu Männern.

Heutzutage kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, was nachhaltiges Handeln ist oder was der Erhaltung des Lebens auf der Erde schadet. Wir scheinen kein Wissensproblem, sondern eher ein Handlungsproblem zu haben. Wenn Sie 1-3 wichtige Reformen durchführen könnten, um in Ihrem Einflussbereich mehr für die Nachhaltigkeit zu tun: Worauf würden Sie sich konzentrieren und welche Allianzen wären wichtig, um sie zu erreichen?

Für mich sind heutzutage Bildung und der Erwerb von Fähigkeiten wichtiger als das Erlernen von Lesen, Schreiben oder Bücherlesen. Wir müssen die Grundlagen von Bildung überdenken. Dabei müssen wir die Beiträge des Kollektivs und aller Lebewesen würdigen, die für unseren Lebensunterhalt sorgen. Eine Erziehung, die Würde und Respekt für andere stärkt, ist unverzichtbar geworden. Ideal wäre es, wenn wir Achtung für das Leben anderer Menschen und ihr Recht auf Selbstbestimmung sowie Wertschätzung für interkulturelles Zusammenleben und gegenseitigen Respekt vermitteln, um so Frieden und harmonische Beziehungen zu stiften.

In den vergangenen 30 Jahren haben wir indigenen Frauen gelernt, die nicht-indigene Frauenbewegung zu verstehen und die westliche Frauenbewegung zu respektieren. Heute können wir sagen, dass wir mit unserer Denkweise und unserem kollektiven Wesen dazu beigetragen haben, die Werte von Mutter Natur zu verdeutlichen. Wir haben verstanden, dass die Rechte Einzelner und der Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter ein Teil unserer Vision sind, um wieder ausgewogene multidimensionale Beziehungen mit allen Lebewesen herzustellen.

Bei den Allianzen, die wir dazu aufbauen müssen, sollten wir gemeinsame Ziele der sozialen Gerechtigkeits- und Friedensbewegungen identifizieren. Die feministische Bewegung ist für uns wichtig, solange sie versteht, dass der Einsatz für sauberes Wasser und eine gesunde Umwelt sowie die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung das Erreichen gemeinsamer Ziele fördert.

Wenn wir durch dekoloniale, antirassistische und nichthegemoniale Bildungsinhalte und durch die Förderung von Respekt Diskriminierung abbauen, können wir nachfolgende Generationen heranziehen, die wie wir davon überzeugt sind, dass sich nachhaltiger sozialer Frieden nur durch die Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung erreichen lässt. Wir müssen Menschenrechte wieder in ihrem weitesten Sinne definieren, als Grundlage für unser Zusammenleben mit anderen Lebewesen, um ein erfülltes und nachhaltiges Leben auf unserem Planeten führen zu können.

Ohne individuelle Resilienz ist es schwierig, sich wirksam und nachhaltig für größere globale Resilienz einzusetzen. Viele Befürworter*innen von Nachhaltigkeit stellen ihren Einsatz für das Gemeinwohl über ihr eigenes Wohlergehen. Darunter ist eine unverhältnismäßig große Zahl von Frauen, die sowohl in ihrem Privat- als auch in ihrem Berufsleben immer noch die Hauptlast der Care-Arbeit tragen. Was hilft Ihnen, sich geistig und körperlich fit zu halten und wie tanken Sie Kraft?

Viele von uns indigenen Frauen, die unter Bedingungen extremer Ausgrenzung geboren wurden und mit Diskriminierungen aller Art konfrontiert sind, fragen sich, woher wir die Energie und die Kraft nehmen, uns weiterhin für die Rechte der anderen einzusetzen, denn sie belangen ja nicht nur uns. Die Antwort ist: Wir weigern uns, unsere Völker unter den gleichen Bedingungen leiden zu sehen, unter denen wir geboren wurden. Wir lassen uns unsere Rechte, Chancen und den Respekt für unseren Körper und unser Leben nicht verweigern. Gerade die Erfahrungen, die wir in inakzeptablen Situationen gemacht haben, geben uns die Kraft, eine sehr schwere Last immer weiter zu tragen.

Wenn wir Mütter uns für diesen Weg entscheiden, fühlen sich unsere Söhne und Töchter oft vernachlässigt und meinen, nicht genug Aufmerksamkeit und Fürsorge zu bekommen. Als Ehefrauen sind wir als die verschrien, die sich auf der Straße wohler fühlen als zu Hause. Und indigene Frauen, auch die jungen, die ihre Rechte wahrnehmen, werden dämonisiert, stereotypisiert oder als schlechte Beispiele gebrandmarkt. Allerdings werden unsere Beiträge und Errungenschaften, die das Ergebnis jahrelanger Bemühungen und Anstrengungen sind, auch zunehmend anerkannt.

In meinem Fall hat es etwa fünfzig Jahre gedauert, in denen ich gelernt habe, anderen zuzuhören und sie zu beobachten, zuerst in meiner Familie, in meiner Gemeinde und in meinem sozialen Umfeld, und dann auch außerhalb. Dazu musste ich zuerst ihre Sprache lernen, ihre Kultur begreifen und beobachten, wie sie miteinander umgehen. Dazu musste ich am eigenen Leib und Leben die schlimmsten, aber auch die besten Erfahrungen machen. Wenn wir Vertrauen in uns selbst gewonnen haben, erheben wir unsere Stimme und unser Haupt in Würde. Ich habe begonnen, mich zu Wort zu melden, um meine Gedanken und Gefühle in kollektives Handeln umzusetzen, was dann wiederum in Beiträge und Initiativen für Mädchen, Jungen, Jugendliche, Frauen und auch für Männer mündet. Mit anderen Worten: für das größere Kollektiv.

Wenn Sie heute Erstklässler*innen sagen müssten, warum es wichtig ist, sich angesichts all der enormen Herausforderungen weiterhin für eine ökologische, soziale und geschlechtergerechte Transformation einzusetzen ‒ was würden Sie sagen und welche Fähigkeiten müssten diese Kinder Ihrer Ansicht nach dafür entwickeln?

Jungen und Mädchen müssen eine realitätsnahe Ausbildung erhalten und dabei lernen, Möglichkeiten für sich selbst und ihre Umgebung zu entdecken. Wir müssen mit ihnen über den Lebenszyklus von Mais sprechen. Und damit meine ich nicht, ihn einfach aus einer Dose zu schütten, sondern den Kindern zu zeigen, wie Mais vom Keimling an in fruchtbarem Boden wächst, und dass Lebewesen in diesem Boden dafür sorgen, dass er keimen, sprießen und reifen kann. Dann müssen wir über seine Verwendung und Verarbeitung sprechen, und darüber, wie er uns ernährt und gesund hält.

Die gegenwärtige Krise zwingt uns dazu, einander zuzuhören und Respekt für andere zu entwickeln. Heute sind wir mit unserem indigenen Hintergrund davon überzeugt, dass unsere Philosophie der richtige Weg ist, um die Lebensgrundlage von Gesellschaften zu sichern. Komm, Junge, lernen wir uns gegenseitig kennen und lernen wir, wie der Mais wächst, den wir essen, und warum die Erde Wasser, Samen und kleine Regenwürmer braucht.

Erzählen Sie uns von einem Buch oder einer Idee, die Sie in letzter Zeit inspiriert hat.

Ich muss leider sagen, dass ich nicht viel Zeit zum Lesen habe. Da ich aus einer mündlichen Kultur komme, genieße ich es sehr, mit älteren Menschen aus anderen Kulturen zu sprechen und ihnen zuzuhören, wenn sie von ihren Idealen und ihrem Engagement erzählen, wie sie immer wieder nach neuen Wegen für ein harmonisches Leben suchen. Sie inspirieren mich wirklich. Eine kritische Einstellung gegenüber Diskriminierung, materieller Armut, jeder Form von Missbrauch ‒ das ermutigt mich und gibt mir Kraft und die Motivation, um nach Lösungen zu suchen. Wenn ich mit älteren Menschen spreche und von ihren Erfahrungen und ihrer Weisheit erfahre, kann ich mir vorstellen, wie viel besser die Voraussetzungen für die neue Generation sein könnten.

Vor fünfunddreißig Jahren traf ich ein Kind, das nur Quechua sprach und in einem internen bewaffneten Konflikt seine Eltern verloren hatte. Er war gerade aufgefunden worden und hatte von der örtlichen Kirche einen Teller Suppe bekommen. Er saß versteckt in einer Ecke, aß hastig seine Suppe und schaute niemanden an, als schämte er sich, Almosen anzunehmen. Er war meine größte Inspiration. Er spiegelte mein eigenes Bild von mir wider, und da kamen mir die kulturbejahenden Workshops in den Sinn, die uns auffordern, durch Kunst zu leben.

Nach all diesen Jahren haben wir nun lebende Beispiele für äußerst positive Führungspersönlichkeiten, die ihre kulturelle Identität behaupten und ein starkes Selbstwertgefühl haben, die positive Führungsqualitäten an den Tag legen und ein lebendes Beispiel für diese Initiative sind. Ich träume davon, dass dieser Vorschlag zu einer öffentlichen, von den Gemeinschaften gut angenommenen politischen Maßnahme wird, damit sich eine neue Generation von Jungen und Mädchen voll entfalten kann, ihr Leben frei und in vollen Zügen leben kann, ohne sich schämen zu müssen, arm, Quechua-sprachig, indigen oder geflüchtet zu sein oder einen Migrationshintergrund zu haben.


Dieses Interview wurde leicht gekürzt und erschien zuerst hier: us.boell.org