"Menschenrechte sollten der Ausgangs- und Endpunkt sein"

Interview

Emilia Reyes ist eine internationale Verfechterin der Frauenrechte und Expertin für geschlechtergerechte Policies und nachhaltige Entwicklung einschließlich Katastrophenrisikomanagement und dem Klimawandel. In diesem Interview weist sie auf die Notwendigkeit von Degrowth und auf die Probleme unseres globalen neoliberalen Systems hin.

Aquarell-Portrait von Emilia Reyes

Dieses Interview ist Teil unserer Serie zum Earth Overshoot Day 2022.

Overshoot Day ist der Tag, an dem wir als Weltgemeinschaft mehr Ressourcen verbraucht haben, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann. Dass dieser Tag jedes Jahr auf ein früheres Datum im Kalenderjahr fällt, verdeutlicht die Beschleunigung und Konvergenz mehrerer Krisen, insbesondere der Klima- und Biodiversitätskrise. Dieses Jahr ist es der 28. Juli 2022. Bitte nennen Sie uns 1-2 Themen/Prozesse/Initiativen, die Sie derzeit unterstützen und für absolut entscheidend halten, um nachhaltigere Wachstumspfade zu erreichen.

Es ist sehr traurig, dass die Menschheit das Leben auf diesem Planeten und ihr eigenes Wohlergehen gefährdet. Die Klimakrise ist entscheidend, aber sie ist nicht die einzige Bedrohung auf der Umweltagenda. Deshalb lautet die erste Botschaft, die Unversehrtheit unserer Umwelt zu wahren und systemische Lösungen zu fördern, anstatt isolierte Maßnahmen zu ergreifen. Wie uns Jason Hickel in „Less is more. How degrowth will save the earth“ warnt, laufen wir aktuell Gefahr, die meisten planetarischen Grenzen zu überschreiten. Vier davon haben wir bereits überschritten: Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Entwaldung und biogeochemische Flüsse. Auch die Versauerung der Ozeane stößt an die Grenzen dessen, was der Planet aushalten kann. Selbst wenn wir den Klimawandel morgen stoppen könnten, müssen wir einen raschen Systemwechsel herbeiführen und unsere Abhängigkeit von der extraktiven Ausbeutung von Natur, Arbeit und Zeit überwinden.

Die zweite Botschaft, die ich hervorheben möchte, ist die Notwendigkeit, unseren Ressourcen- und Energieverbrauch zu begrenzen, da massiver Abbau alle unsere Ökosysteme aushöhlt, unsere Lebensweise beeinträchtigt und die Landrechte lokaler Gemeinschaften sowie kollektive Rechte verletzt, wie etwa die indigener Völker. Alles in allem stellen die an Megaprojekten beteiligten Rohstoffindustrien in allen Sektoren das größte Risiko für die Integrität unserer Umwelt dar. Ihre Logik in Bezug auf Energieverbrauch ist, dass Treibhausgasemissionen ruhig überschritten werden können, weil sich die Temperaturgrenzen mit einem Netto-Null-Ansatz einhalten lassen. Wenn wir die verheerenden Auswirkungen des derzeitigen neoliberalen kapitalistischen Systems auf den Planeten und das Leben der Menschen ernsthaft umkehren wollen, ist eine der dringendsten Maßnahmen auf nationaler, regionaler und globaler Ebene die umfassende Begrenzung von materiellen Ressourcen und Energieverbrauch.

Welche Rolle spielen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter bei diesen Prozessen/Initiativen? Welche Rolle sollten sie spielen?

Meines Erachtens sind dies die wichtigsten Grundsätze, die unser Handeln in Zukunft leiten sollten. Jeder davon spricht eine entscheidende Dimension an, um neue Realitäten zu schaffen, das Leben der Menschen zu verbessern und die Beziehung von Mensch zu Umwelt und zu unserem Planeten zu verändern.

Menschenrechte sind ein Ausgangspunkt, um über die nötigen übergreifenden strukturellen Entscheidungen nachzudenken, die das kollektive und individuelle Wohlergehen gewährleisten. Unsere technischen Lösungsansätze müssen im Rahmen der Menschenrechte gestaltet werden. Menschenrechte bieten aber auch einen grundsätzlichen Entscheidungspfad, um den beispiellosen vielfältigen und kaskadenartigen Krisen zu begegnen, mit denen wir derzeit gemeinsam konfrontiert sind. Menschenrechte sollten der Ausgangs- und Endpunkt sein, damit wir die richtigen Entscheidungen für das Wohlergehen der Menschen und die Gesundheit des Planeten treffen können.

Feministische Ökonom*innen haben aufgezeigt, wie Frauen durch ihre unbezahlte Haus- und Care-Arbeit die Weltwirtschaft subventionieren. Die Gleichstellung der Geschlechter ist dringend erforderlich, um eine der obszönsten und gängigsten Formen von Ausbeutung zu bekämpfen, die wir im Laufe der Geschichte erlebt haben. Bei unserer Analyse und Lösungsfindung sollte geschlechterbasierte Arbeitsteilung ein Kernelement sein, denn es gibt historische und strukturelle Ungleichheiten, die nicht mehr haltbar sind.

Gleichberechtigung ist von zentraler Bedeutung, um alle Arten von Gerechtigkeit zu erreichen: Gerechtigkeit zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, weil der Süden bisher den Norden subventioniert; Gerechtigkeit für indigene Völker, die bislang das Leben auf diesem Planeten subventionieren; Gerechtigkeit, um ein gleichberechtigtes Miteinander der Generationen zu erreichen, denn bei unseren Entscheidungen müssen wir die jetzige und die nachfolgenden Generationen bedenken, damit ihrer aller Wohlergehen berücksichtigt wird.

Heutzutage kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, was nachhaltiges Handeln ist oder was der Erhaltung des Lebens auf der Erde schadet. Wir scheinen kein Wissensproblem, sondern eher ein Handlungsproblem zu haben. Wenn Sie 1-3 wichtige Reformen durchführen könnten, um in Ihrem Einflussbereich mehr für die Nachhaltigkeit zu tun: Worauf würden Sie sich konzentrieren und welche Allianzen wären wichtig, um sie zu erreichen?

Die erste und wichtige Maßnahme, die ich vorschlagen würde, ist eine umfassende Reform der bestehenden globalen Wirtschafts- und Finanzarchitektur, um die Hauptursachen der Klima- und Umweltkrise wirklich ernsthaft anzugehen. Dazu gehört natürlich auch, und sogar maßgeblich, die Umstellung unserer von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaft, geleitet von der Erkenntnis, dass wir fossile Brennstoffe im Boden belassen müssen. Außerdem können wir uns nicht weiter auf falsche technische Lösungen wie Kohlenstoffmärkte, naturbasierte Lösungen (im Gegensatz zu ökosystembasierten Lösungen) oder Geoengineering verlassen.

Die zweite Schlüsselreform bezieht sich auf einen Vorschlag, den ich bereits in meiner Antwort auf die erste Frage erwähnt habe: die Begrenzung des Ressourcen- und Energieverbrauchs.

Die dritte ist die Forderung nach Degrowth, also einen Wachstumsrückgang für die Reichen, Umverteilung und Wiedergutmachung für den Süden und alle diejenigen, die am stärksten unter den Auswirkungen der Umweltkrisen gelitten haben. Wir müssen begreifen, dass die Ursachen der gegenwärtigen Umweltkatastrophen in einem neoliberalen kapitalistischen System liegen, das ausbeuterisch und extraktiv ist und Raubbau an Natur, Arbeit und Lebenszeit betreibt, um Ungleichheiten aufrechtzuerhalten und zu reproduzieren und letztlich Leben zu zerstören.

Ohne individuelle Resilienz ist es schwierig, sich wirksam und nachhaltig für größere globale Resilienz einzusetzen. Viele Befürworter*innen von Nachhaltigkeit stellen ihren Einsatz für das Gemeinwohl über ihr eigenes Wohlergehen. Darunter ist eine unverhältnismäßig große Zahl von Frauen, die sowohl in ihrem Privat- als auch in ihrem Berufsleben immer noch die Hauptlast der Care-Arbeit tragen. Was hilft Ihnen, sich geistig und körperlich fit zu halten und wie tanken Sie Kraft?

Dies ist eine sehr wichtige Frage, die meiner Meinung nach gemeinsam angegangen werden muss. Ich habe in den letzten Monaten oft erlebt, dass Feminist*innen und Umweltaktivist*innen in Führungsrollen am Rande des Zusammenbruchs stehen, weil sie ausgebrannt sind, weil sie sich verantwortlich fühlen, weil sie den Drang verspüren, zu handeln, aber auch, weil sie an der überwältigenden Aufgabe verzweifeln, vor der sie stehen. Als Einzelpersonen können wir nicht viel ausrichten. Wir müssen unseren Platz in den verschiedenen Kollektiven, denen wir angehören, finden. Was mich antreibt, ist die Inspiration, die ich von all den wunderbaren und eindrucksvollen Aktivist*innen und sozialen Bewegungen erhalte, mit denen ich jeden Tag zusammenarbeite und die wie eine globale Familie sind.

Wenn Sie heute Erstklässler*innen sagen müssten, warum es wichtig ist, sich angesichts der enormen Herausforderungen weiterhin für eine ökologische, soziale und geschlechtergerechte Transformation einzusetzen was würden Sie sagen und welche Fähigkeiten müssten diese Kinder Ihrer Ansicht nach dafür entwickeln?

Wie die Feminist*innen aus dem Pazifik sagen: Wir werden unseren schönen Planeten niemals aufgeben. Wir haben eine historische Rolle, die auch in Tanz, Leidenschaft, Solidarität und Hoffnung wurzeln kann. Ich würde Erstklässler*innen sagen, dass sie nie aufhören sollen, zu träumen, kreativ zu sein und zu spielen. Ich würde sie auch ermutigen, mutiger und forscher zu sein.

Erzählen Sie uns von einem Buch oder einer Idee, die Sie in letzter Zeit inspiriert hat.

Ich habe immer einen Gedichtband, einen Roman, ein Buch über Feminismus, ein Buch mit kritischen Analysen über unsere großen Herausforderungen und ein Buch über französische Psychoanalyse bei mir. Kürzlich habe ich Antigonick von Anne Carson noch einmal durchgelesen, weil wir in die Geschichte zurückblicken, aber auch unsere sozialen Codes neu interpretieren müssen. Circe von Madeline Miller stellt das Leben einer weiblichen Nebenfigur in den Mittelpunkt und hinterfragt gleichzeitig die Werte der Mainstream-Gesellschaft, die Gewalt und Macht in den Vordergrund stellt. All about love. New visions von bell hooks hat mich eingeladen, über das Wesen der Liebe und die größere Rolle der Liebe in sozialen Bewegungen nachzudenken. Und wie ich eingangs erwähnte: Less is more. How degrowth will save the world von Jason Hickel ist ein guter Einstieg in die Degrowth-Theorie, die gerade in die Debatten im Globalen Norden Eingang findet und stärkere und strukturelle Maßnahmen fordert.


Dieses Interview wurde leicht gekürzt und erschien zuerst hier: us.boell.org