„Es ist die richtige Zeit für ein Europäisches Vereinsrecht“

Interview

Als Berichterstatter im Europäischen Parlament hat Sergey Lagodinsky eine Initiative für ein europäisches Vereinsrecht in Gang gebracht. Im Gespräch mit Christine Pütz erzählt er, welche Ziele er damit verfolgt und worauf es ankommt, damit der Vorstoß dieses Mal erfolgreich sein wird.

Dr. Sergey Lagodinsky
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Dr. Sergey Lagodinsky

Dr. Christine Pütz im Gespräch mit Dr. Sergey Lagodinsky

Als du 2019 als Mitglied in das Europäische Parlament eingezogen bist, hast du dich sofort für eine parlamentarische Initiative für ein Europäisches Vereinsrecht eingesetzt und diese als Berichterstatter im Rechtsausschuss ausgehandelt – mit Erfolg! Das Europäische Parlament hat im Februar 2022 mit breiter fraktionsübergreifender Mehrheit den "Bericht für ein Statut für länderübergreifende Europäische Vereine und Organisationen ohne Erwerbszweck" verabschiedet und die Europäische Kommission aufgefordert legislativ tätig zu werden. Die Kommission hat bereits angekündigt, eine entsprechende Gesetzesinitiative zu erarbeiten, und eine öffentliche Konsultation gestartet. Nach gescheiterten Vorstößen in der Vergangenheit nimmt die EU damit einen neuen Anlauf für ein europäisches Vereinsrecht. Das Thema ist dir eine Herzensangelegenheit.

Worum geht es dabei genau und welche Ziele verfolgst du mit dieser Initiative?

Wir stehen – wieder einmal – an einem Scheidepunkt in der Geschichte der Europäischen Integration. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in der EU sind bedroht und müssen weiterentwickelt werden. Es ist sehr deutlich geworden, dass die europäische Demokratie mehr ist als nur ihre Institutionen. Häufig wird darüber geredet, dass die EU-Institutionen reformiert werden müssen, dass dem Europäischen Parlament ein Initiativrecht gegeben werden soll, die Europäische Kommission verschlankt werden muss, und so weiter.  Aber Demokratie – und das haben wir auch in den letzten Jahren noch mal vorgeführt bekommen – besteht nicht nur aus Regeln und staatlichen Institutionen, sondern auch aus der Zivilgesellschaft. Beides ergänzt sich gegenseitig. Ohne europäische Zivilgesellschaft und ohne europäische Öffentlichkeit gibt es keine lebendige europäische Demokratie. Wir können Demokratie nicht nur als Prozess und Gesetze denken. Demokratie ist Deliberation, ist aktive Bürgerschaft. Mit unserer Initiative wollen wir diesen Aspekt im EU-Recht ergänzen.

Konkret bedeutet dies, dass wir die Zivilgesellschaft in der EU dabei unterstützen, sich selbst grenzüberschreitend zu denken und zu organisieren. Aber auch, dass wir ihr Schutz bieten, damit es nicht darauf ankommt, welche Partei oder welche Vorstellung von Demokratie bei der politischen Führung eines Landes gerade vorherrscht. Die Zivilgesellschaft – das sind NGOs, Vereine, gemeinnützige Stiftungen soll mit bestimmten Mindeststandards rechnen können. Das sind die zwei Ziele: Erleichterung für grenzüberschreitende Herausbildung von Zivilgesellschaft und rechtlicher Schutz der Zivilgesellschaft.

Wie soll die Unterstützung für grenzüberreitende, transeuropäische Vereine und der legale Schutz zivilgesellschaftlicher Organisationen konkret aussehen?

Dafür hat das Europäische Parlament in seinem Bericht zwei Instrumente vorgeschlagen. Das eine Instrument ist eine Verordnung, also ein europäisches Gesetz, das ein Statut einführt, mit dem es möglich ist, einen europäischen Verein zu gründen. Damit würden diese Vereine nach europäischem Recht gestaltet und verwaltet. Vorschriften etwa zur Vermeidung von Korruption und aus dem Strafrecht der Mitgliedsstaaten bleiben natürlich unberührt. Aber Europäische Vereine gründen sich auf EU-Ebene und haben somit einen europäischen Rechtsstatus. Sie würden in Brüssel in einem öffentlichen Register geführt. Als Grundvoraussetzung gilt nur, dass die Gründungsmitglieder aus mindestens zwei EU-Ländern sind, somit sind es grenzüberschreitend tätige Vereine.

Dann geht es auch um den rechtlichen Schutz. Im zweiten Instrument, einer Richtlinie, werden bestimmte Regeln aufgeführt. Zum Beispiel dürfen Vereine nicht aufgrund ihrer Ziele, Tätigkeiten oder der Herkunft ihrer Finanzierung diskriminiert werden. Mitglieder dürfen nicht aufgrund ihrer Vereinstätigkeit unter Druck gesetzt werden. Es gibt auch Vorgaben für den Aufbau und die Struktur der Vereine und zur Gleichbehandlung und zum Abbau von Bürokratie in den Mitgliedsstaaten. Außerdem schlagen wir eine gemeinsame europäische Definition der Gemeinnützigkeit vor. Das ist eine zentrale Frage: wie können wir Gemeinnützigkeit europäisch definieren? Somit bringen wir die Vereine auf die europäische Ebene. Wir fördern und schützen die europäische Zivilgesellschaft.

Diese Regelung wäre dann wohl vergleichbar mit einem europäischen Rechtsstatus, den etwa Europäische Interessenverbände, Europäische Aktiengesellschaften oder Europäische Genossenschaften, schon länger genießen. Warum gibt es so etwas nicht schön längst auch für europäische Vereine?

Meine Interpretation ist, dass dies an der falsch verstandenen Gründungsidee der Europäischen Integration liegt. Die Idee, dass Frieden in Europa durch einen gemeinsamen Binnenmarkt zu erreichen ist und durch Handel allein ausreichend Gemeinsamkeiten entstehen. Sie sollen das Friedensprojekt in Europa quasi automatisch aufrechterhalten. Dies erklärt, warum wir Europäische Aktiengesellschaften, Interessenverbände und Genossenschaften haben, also wirtschaftliche Akteure, die dem Wesen der EU nach damaliger Vorstellung entsprechen – aber keine europäischen Vereine. Hinzu kommt, dass die Mitgliedsstaaten eifersüchtig sind auf das, was sie als ureigene Zuständigkeit verstehen. Sie wollen nicht, dass sich hier eine europäische Regulierung einmischt. So gab es in Deutschland Widerstände, weil das deutsche Vereinsrecht so eine lange Tradition hat. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die Einführung einer europäischen Rechtsform ein Zusatz, kein Ersatz für nationale Vereinsformen wäre. Mit diesem Widerstand sind das Europäische Parlament und die Europäische Kommission seit Jahrzehnten konfrontiert. Ihre Initiativen in diese Richtung scheiterten entsprechend.

Es gab in der Tat bereits zwei Initiativen durch das Europäische Parlament. Die Europäische Kommission hatte in den 1990er Jahren sogar schon einmal eine Gesetzesinitiative erarbeitet, die aber am Ende an den Regierungen gescheitert ist. Warum bist du zuversichtlich, dass es dieses Mal gelingen kann? Was ist heute anders als damals?

Die öffentliche Wahrnehmung hat sich sehr stark weiterentwickelt und ist europäischer denn je. In den letzten Jahren sehen wir auch, dass eine gemeinsame Wertebasis in der EU leider nicht selbstverständlich ist. Wir mussten zu dem Schluss kommen, dass wir eine proaktive rechtliche Gestaltung der europäischen Demokratie brauchen, um die gemeinsame Wertebasis zu erhalten. Dessen sind wir uns aber heute erst bewusst. Wir realisieren, dass nicht nur der Markt, sondern auch Demokratie und Werte etwas sind, das uns in Europa zusammenhält. Und daran müssen wir mit allen verfügbaren Mitteln hart arbeiten. Auch die Einsicht ist heute da, dass Demokratie nicht nur auf dem Papier und in Institutionen gegossen ist, sondern dass wir eine freie, lebendige Zivilgesellschaft brauchen, die sich paneuropäisch versteht. Heute merkt auch die Europäische Kommission, dass es nicht ausreicht, Regierungen vor Gerichte zu zerren, die unsere Werte verletzt, oder bei Rechtsstaatsverletzungen gar wegzuschauen – sondern dass wir unsere Demokratie auch gestalten müssen. Dies ist eine Chance für ein neues Demokratieverständnis, in dem es in der Zuständigkeit der EU liegt, europäische Vereine und Zivilgesellschaft zu schützen und ihr einen europäischen Status zu verleihen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Früher war das Verständnis von Vereinen als Akteur*innen auf dem Markt nicht vorhanden. Selbstverständlich sind Vereine, auch wenn sie gemeinnützig sind, Teil des Marktes. Sie sind Konsument*innen und können teilweise auch wirtschaftlich tätig werden – gemeinnützige Vereine natürlich unter der Voraussetzung, dass sie Gewinne wieder in ihre Tätigkeit reinvestieren. Es gibt also neue Einsichten und ich sehe an der Reaktion der Europäischen Kommission, dass wir nicht ganz falsch liegen.

Wenn es um den rechtlichen Schutz der Zivilgesellschaft geht, die unter Druck steht, denkt man schnell an Länder wie Ungarn oder auch Polen. Welches Interesse könnten diese Regierungen haben, einem europäischen Vereinsstatut zuzustimmen? Wie kann es gelingen, alle Regierungen mit ins Boot zu holen?

Es kommt auf zweierlei an. Erstens auf den Druck, der nun von Seiten der Zivilgesellschaft ausgeübt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass sich so viele Stakeholder wie möglich an der öffentlichen Konsultation der Europäischen Kommission beteiligen, die noch bis Oktober läuft. Es ist ja nicht so, dass die Staaten, die einem solchen Vorschlag potentiell skeptisch gegenüberstehen, nicht auch etwas in der EU wollen. Es ist also eine Frage der Prioritäten und Angebote, die die Kommission bzw. der Rat bei Verhandlungen anbieten. Mich freut es jedenfalls, dass es uns gelungen ist, die Unterstützung der jetzigen Bundesregierung im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu verankern. Das ist ein Novum und spricht Bände darüber, wo wir auch in Deutschland stehen.

Zweitens kommt es auf kreative Lösungen an. Ich weiß, dass die Kommission nach realistischen Wegen sucht. Eine Möglichkeit wäre, die nicht die Form einer Verordnung zu suchen, sondern eine Richtlinie vorzuschlagen, die nicht per Einstimmigkeit, sondern mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden kann. Eine andere Möglichkeit wäre die verstärkte Zusammenarbeit, bei der bestimmte Staaten als Pioniere vorangehen und hoffen, dass sie eine Magnetwirkung für alle anderen entfalten. Die Tatsache, dass es Vetorisiken gibt, darf uns nicht davon abhalten, alles was nötig ist, weiter voranzutreiben. Und das werden wir!

Besten Dank für das Gespräch!