Wahlen in Brasilien: Alles steht auf dem Spiel

Analyse

Am 2. Oktober 2022 hat Brasilien gewählt. Dabei konnte sich die extreme Rechte im Kongress konsolidieren und geht weiter gestärkt aus den Wahlen hervor. Der Kampf um die Präsidentschaft zwischen Ex-Präisdent Luis Inácio Lula da Silva und Amtsinhaber Jaír Bolsonaro geht in die zweite Runde und wird erst in der Stichwahl am 30. Oktober entschieden. Das Land steht vor einer äußerst komplexen Gemengelage.

Demonstant/innen mit Transparent in São Paulo
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Demonstration für die Demokratie in São Paulo.

Der Wahltag in Brasilien, verlief überraschend friedlich. Während die Anhänger*innen von Expräsident Luis Inácio Lula da Silva sich im extrem angespannten Wahlkampf weniger zu erkennen gegeben hatten – Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen war zum ersten Mal seit der Diktatur spürbar in diesem Wahlkampf-, so waren jetzt in den Schlangen vor den Wahllokalen etliche Hemden und Aufkleber in der roten Parteifarbe zu sehen. Das brasilianische gelb-grün, das Präsident Bolsonaro für seine Kampagne gekapert hat, tauchte weniger auf. Das entsprach den Meinungsumfragen, die Lula mit großem Abstand vor Bolsonaro sahen. Die Frage des Tages lautete: Wird es gleich im ersten Wahlgang klappen oder doch erst im zweiten?

Doch kurz nach Schließung der Wahllokale war der Schock groß: Bolsonaro lag bei 48 Prozent und damit 7 Prozent vor Lula (41 Prozent) und es dauerte quälende zwei Stunden bis sich das Verhältnis bei 70 Prozent der ausgezählten Stimmen drehte. Das Endergebnis landete dann 48,5 Prozent der Stimmen für Lula und 43,2 Prozent für Bolsonaro. Lula hat damit zwar klar gewonnen, doch reichte sein Sieg nicht für die im ersten Wahlgang erforderliche absolute Mehrheit. Am 30. Oktober kommt es zur Stichwahl zwischen Lula und Bolsonaro.

Auch wenn Lula mit einem Vorsprung von über 5 Millionen Stimmen nur 1,5 Prozent von der absoluten Mehrheit trennen, sitzt der erste Schock noch tief. Denn nach den Umfragen, die Bolsonaro beständig bei ca. 35 Prozent sahen, hatte – unter den Bolsonaro-Gegner*innen - kaum jemand erwartet, dass er an den Urnen so gut abschneiden würde. Die Diskreditierung des Wahlprozesses und Nicht-Anerkennung des Ergebnisses, bis hin zum Putsch, hatte man von Bolsonaro erwartet, aber nicht diesen Erfolg an den Urnen. Das Rennen zwischen den beiden Kandidaten ist nun wieder vollkommen offen. Ein schmutziger und von Gewalt geprägter vierwöchiger Wahlkampf droht nun bis zur Stichwahl.

Womit nun Wahlkampf gemacht wird

Inzwischen hat die zweite Runde des Wahlkampfes begonnen. Die beiden Kandidat*innen, die bei den Wahlen auf dem 3. und 4. Platz landeten, Simone Tebet (PSDB) mit 4,2 Prozent und Ciro Gomes (PDT) mit 3 Prozent der Stimmen, haben inzwischen ihre Unterstützung für Lula bekannt gegeben. Rein rechnerisch sollte damit Lulas Sieg in trockenen Tüchern sein, doch das ist er noch längst nicht.

Bolsonaro nutzt den Staatsapparat weiterhin hemmungslos aus. Die eilig aufgelegten Sozialprogramme werden nun vorgezogen ausgezahlt, sodass das Geld zum Wahltag bei den Empfänger*innen ankommt. Armen und Frauen bei denen Bolsonaro eher schlecht abgeschnitten hat, werden weitere finanzielle Hilfen versprochen. Die Fake news-Maschinerie gegen die Arbeiterpartei, PT, in den sozialen Medien läuft weiter auf Hochtouren und schürt Hass. In der Zeitschrift Piauí ist zu lesen, dass Bolsonaro-nahe Unternehmer ihren Angestellten Lohnkürzungen androhen, sollte Lula gewinnen.

Sowohl Lula als auch Bolsonaro gehen jetzt noch einmal verstärkt auf die Religiösen zu, vor allem die Evangelikalen, bei denen Bolsonaro klar vorne liegt. Alle diese Bündnisse haben ihren Preis. So äußert sich Lula nicht mehr zur Abtreibung. Frauenorganisationen befürchten auch unter Lula einen Stillstand in der Frauenpolitik.

Hunger, Arbeitslosigkeit, Bildung und Gesundheit spielen im Wahlkampf eine deutlich größere Rolle als die Umweltpolitik, aber sie ist präsenter als bei vorherigen Wahlen. Der Raubbau an Amazonien, die kontinuierlichen Angriffe auf Indigene haben viele Menschen in Brasilien erschüttert und die Auswirkungen des Klimawandels sind durch neue Extremwetterlagen immer deutlicher zu spüren. Bei Lula steht die Umwelt- und Klimapolitik zwar auch nicht ganz oben auf der Agenda, aber man geht davon aus, dass sich Brasilien unter Lula wieder stärker in die internationalen Klimaverhandlungen einbringen wird. Ein Wahlsieg Bolsonaros dagegen hätte katastrophale Folgen für den Regenwald und seine Bewohner*innen.

Bereits jetzt: Rechte Mehrheit im Parlament und Senat

Bei den Wahlen am 2. Oktober wurden auf Bundesebene auch das Parlament und ein Drittel des Senats neu gewählt, auf Landesebene die Landesparlamente und die Gouverneure. Überall konnte die extreme Rechte ihre Macht deutlich ausbauen und ist häufig zur stärksten Kraft geworden. Alle progressiven Abgeordneten zusammen haben weniger als ein Drittel der Stimmen im Parlament und 20 Prozent im Senat.

Wenn Lula am 30. Oktober gewinnen sollte wird er enorme Zugeständnisse machen müssen, um zu regieren. Von den 513 Abgeordneten im Parlament unterstützen Lula gerade mal 129, 180 gehören zur extremen Rechten. Der Rest gehört dem Centrão an, das rechts, aber nicht geschlossen rechtsextrem ist. Es setzt sich zusammen aus einer Vielzahl von eher rechten, meist kleineren Parteien, die ihr Fähnchen traditionell in den Wind der Macht halten, wenn es für sie von Vorteil ist.

Lula braucht mindestens 172 Abgeordnete hinter sich, um gegnerische Zweidrittelmehrheiten zu vermeiden, die z.B. zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen ihn führen könnten. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, aber es wird seinen politischen Preis haben.

Positive Nachrichten sind, dass das Parlament in seiner Zusammensetzung seit 2018 diverser geworden ist. Der Anteil von Frauen ist von 76 auf 91 gestiegen (fast 18 Prozent). Zum ersten Mal sind zwei Transfrauen (eine von der linken PSOL, die andere von der gemäßigt sozialdemokratischen PDT) im Bundesparlament und die Zahl der nicht-weißen Abgeordneten liegt 2022 bei knapp 27 Prozent (2018 bei knapp 25 Prozent). Vier indigene Frauen haben es ins Parlament geschafft, zwei gehören der PSOL an, eine der PT und die vierte der Partei Bolsonaros, PL.

Auch im Senat hat sich die extreme Rechte als stärkste Fraktion konsolidiert. Der Senat war in der noch laufenden Legislaturperiode zwar keine echte Opposition zu Bolsonaro, positionierte sich aber bei diversen Gelegenheiten doch gegen ihn und blockierte so einige Vorhaben des Präsidenten. Besonders hat sich das bei der Parlamentarischen Untersuchungskommission zur COVID-Politik der Regierung gezeigt. Vom künftigen Senat ist weniger Opposition gegen Bolsonaro zu erwarten. Zumal die Partei Bolsonaros als stärkste Fraktion vermutlich den/die Senatspräsident*in stellen wird. Für diesen Posten wird bereits die neu in den Senat gewählte ehemalige Landwirtschaftsministerin Bolsonaros, Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, gehandelt, die durch ihre permissive Pestizidpolitik den Beinamen „Muse des Giftes“ bekommen hat. Dem/der Senatspräsidenten*in obliegt es Themen, Gesetze, etc. auf die Agenda zu setzen oder in der Schublade verschwinden zu lassen und somit auf später zu verschieben. Wenn Lula die Wahl gewinnt, wird er also auch im Senat mit viel Gegenwind rechnen müssen.

Demokratie unter Druck: Extremist*innen und Polemiker*innen durch Wahlerfolge bestätigt

Neben Tereza Cristina wurden auch andere umstrittene Persönlichkeiten der laufenden Amtszeit Bolsonaros mit hohen Stimmzahlen wiedergewählt. Ricardo Salles, ehemaliger Umweltminister und erklärter Feind des Regenwaldes, erhielt als Bundesabgeordneter die fünftmeisten Stimmen (mehr als 640.000). Er ist verantwortlich für radikale Haushaltskürzungen bei der Umweltschutzbehörde und wird mit illegalem Holzhandel in Amazonien in Verbindung gebracht. Die polemische evangelikale Pastorin und Familienministerin Damares Alves, auch zuständig für Menschenrechte, die sich u.a. persönlich dafür eingesetzt hat, dass die Abtreibung nach Vergewaltigung bei einer 11jährigen verhindert wurde, sitzt jetzt für Brasília im Senat. Und Eduardo Pazuelo, Gesundheitsminister während der Pandemie, der Impfstoffe viel zu spät besorgt und ein katastrophales Pandemiemanagement zu verantworten hat, wurde Abgeordneter für Rio mit den zweitmeisten Stimmen (mehr als 205.000).

Sollte Bolsonaro die Wahlen gewinnen, könnte er auf satte Mehrheiten in beiden Kammern setzen, weitgehend sogar auf 2/3-Mehrheiten. Damit stünde ihm der Weg für Verfassungsänderungen, aber auch für Absetzungsverfahren gegen Richter*innen des Obersten Gerichtshofes offen. Der Oberste Gerichtshof, der institutionell in der laufenden Legislaturperiode klare Opposition zu Bolsonaro bezogen und etliche seiner Vorhaben als nicht verfassungskonform abgelehnt hat, ist sein erklärtes Hassobjekt. Mit Sicherheit würde Bolsonaro im Falle seines Sieges die Struktur des Gerichtshofs verändern. Damit wäre es mit der Gewaltenteilung – und letztlich mit der Demokratie in Brasilien – vorbei.

Aber Lula liegt vorn und hat die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang nur knapp verpasst. Namhafte Politiker*innen, Künstler*innen, Unternehmer*innen, die die Demokratie verteidigen, haben sich – auch wenn sie nicht unbedingt Linke sind – klar hinter Lula gestellt. Und Lula hat eine große Basis hinter sich, vor allem im armen Nordosten Brasiliens. Das ist gut so, denn bei dieser Wahl kommt es auf jede Stimme an.