Die extreme Rechte in Brasilien und die Macht, Politik neu zu erfinden

Analyse

Nach dem Wahlsieg Bolsonaros bei den Präsidentschaftswahlen 2018 in Brasilien hat sich die extreme Rechte fest in der Politik verankert. Seitdem ist es zur Normalität geworden, Institutionen und demokratische Werte anzugreifen. Kontinuierlich wird ein medialer Krieg gegen die Linke und jene geführt, die sich gegen Hassreden zur Wehr setzen. Diese Strategie ist ein weltweites Phänomen: Über soziale Netzwerke werden Fake News, die die Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft vorantreiben, massiv verbreitet.

Menschen protestieren und halten die brasilianische Flagge
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Die Bolsonaro-Anhänger/innen geben sich auf den Demonstrationen in den brasilianischen Nationalfarben gelb-grün zu erkennen.

Der extremen Rechten ist es gelungen, die Unzufriedenheit der breiten Bevölkerung besser einzufangen und ins Zentrum ihres Machtprojekts zu rücken. Dafür schürt sie Ängste und versucht die unter den Mitte-Links-Regierungen erzielten Fortschritte (wie z.B. dass 30 Millionen Menschen die extreme Armutsgrenze verließen und viele Inklusionsprogramme für Afrobrasilianer/innen aufgesetzt wurden) zu neutralisieren. Dabei richtet sie sich insbesondere gegen die Rechte von Frauen, Schwarzen, traditionellen Bevölkerungsgruppen und der Umwelt.

Die Bilanz rechtsextremer Politik in Brasilien

Die Auswirkungen der unter der Bolsonaro-Regierung umgesetzten Politik sind verheerend. Das Leugnen der Pandemie hat maßgeblich zu rund 685.000 Todesfällen im Zusammenhang mit COVID beigetragen. Auch hat die Abholzung im Amazonasgebiet um 75 % zugenommen und rund 1.560 Pestizide (mit hohem Gesundheitsrisiko und gravierenden Folgen für die Umwelt wurden zugelassen. Zudem wurden Vorhaben zur Lockerung des Waffenrechts und somit zur Vereinfachung des Waffenbesitzes verabschiedet. Eine unmittelbare Folge dessen ist, dass sich das organisierte Verbrechen nun auf legalem Wege Waffen beschaffen kann. Auch die Gewalt gegen Personen, die für Wahlen kandidieren, Politiker/innen und Aktivist/innen, haben zwischen 2019 und 2022 zugenommen: So wurden 1.108 Fälle von Einschüchterungen, Bedrohungen und Tötungen registriert. Die Presse wurde zur Zielscheibe von Diffamierungskampagnen und Journalist/innen wurden mit Drohungen und Gerichtsprozessen überzogen. So verklagte Bolsonaro z.B. die Journalistin Patrícia Campos Mello, die ein illegales Wahlfinanzierungssystem aufgedeckt hatte. Nach Veröffentlichung ihrer Analyse erhielt sie massive Drohungen von Bolsonaro-Anhänger/innen und von Bolsonaro selbst, der am Ende den Rechtsstreit verlor.

Bolsonaro stellt wiederholt das brasilianische Wahlsystem in Frage und folgt dabei der Strategie des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. So könnte die Wahl 2022 in Brasilien in einem Ansturm der Anhänger/innen Bolsonaros auf das „tropische Kapitol“ enden. Das oberste Wahlgericht hat sich diesbezüglich bereits klar positioniert und das brasilianische Wahlsystem, insbesondere die Funktionsweise der elektronischen Urnen, verteidigt.

Wie Daten der Nichtregierungsorganisation Anti-Defamation League (ADL) belegen, nimmt im weltweiten Vergleich in Brasilien die Zahl der rechtsextremen Gruppen am stärksten zu. So propagieren mittlerweile rund 530 Gruppen über Blogs, Websites und Chat-Foren sowie persönliche Treffen weitgehend ungehindert und öffentlich Nazismus, Faschismus, weiße Vorherrschaft und Ultrakonservatismus. Sie verbreiten Embleme, Abzeichen oder Propaganda mit nationalsozialistischem Gedankengut und beziehen sich auf den Ku-Klux-Klan. In einer Gesellschaft, die 300 Jahre Sklaverei erlebte fällt das auf fruchtbaren Boden. Nicht zu vergessen, dass 55% der brasilianischen Bevölkerung afrobrasilianisch ist.

Widersprüche der Linken und Bolsonaro-Regierung

An dieser Unzufriedenheit in der Bevölkerung hat auch die Linke in Lateinamerika und insbesondere in Brasilien einen nicht unerheblichen Anteil. Die traditionelle Art und Weise, Politik zu machen hatte sich erschöpft, es gab keine nennenswerten Führungswechsel bei den Parteien, neue Akteure wurden nicht wirklich in die Machtzirkel integriert und die Linke schaffte es nicht, aus ihren Blasen auszubrechen und die Menschen mit ihren täglichen Sorgen und Nöten zu erreichen. So stellt sich die Frage: Wer ist im schwierigen und gewalttätigen Alltag der brasilianischen Peripherien und Favelas da, heißt die Menschen willkommen und gibt ihnen Halt und Zuversicht? Die Kirchen. Der Diskurs der Linken über die Rolle der Demokratie macht keinen Sinn, wenn es um das Überleben geht. Wie man die Menschen adressiert und ihnen zuhört sind zentrale Herausforderungen.

Während der Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff verzeichneten fundamentalistische religiöse Gruppen den größten Zuwachs, der Militärhaushalt stieg so stark an wie seit der Diktatur nicht mehr und das Agrobusiness konsolidierte sich als wirtschaftlicher Arm Brasiliens. Strukturelle Maßnahmen, die die Machtverhältnisse im Land verändert hätten, wurden nur mit Zurückhaltung angegangen. Die große Frage ist nun, wie die linken Kräfte den Akteuren begegnen sollen, die sich nicht an die Spielregeln der traditionellen Politik halten. Denn sie greifen die Demokratie von innen an, nicht durch einen Militärputsch wie in den 1960er Jahren, sondern aus den Institutionen heraus. Und das, obwohl die Institutionen eigentlich die Demokratie schützen sollen. Doch in Wahrheit werden sie kooptiert und dazu benutzt, rückschrittliche Politiken durchzusetzen und Rechte abzubauen.

Religiöse Fundamentalisten, Militär und Agrarindustrie - diese drei Gruppen und Verbündete der Regierung Bolsonaros - scheinen auf den ersten Blick dieselben zu sein wie in den vergangenen Jahrzehnten, doch sie haben ihre Strategie die Macht zu erhalten geändert. Es ist dem Militär und den Religiösen gelungen auf eine soziale Basis zu setzen. In den Kirchen verstärken sie ihren fundamentalistischen Diskurs, der alte soziale Ängste (wie z.B. die Panik der Männer ihre mächtige Position innerhalb der Gesellschaft und der Familie zu verlieren) schürt.  Ebenfalls schmiedeten sie eine strategische Allianz zwischen religiösen Konservativen verschiedener Konfessionen, die sogar in den Vereinigten Staaten und Lateinamerika Unterstützung findet. Diese transnationalen Konzerne des Glaubens bewegen Milliarden in der ganzen Welt und breiten ihre Tentakel unter Beteiligung von Geschäftsleuten, Jurist/innen und Politiker/innen aus. In Brasilien ist eine Gruppe neopentekostaler Jurist/innen für die Ausarbeitung von Dekreten und Stellungnahmen verantwortlich. Diese leiten beispielsweise Gesetzesentwürfe zur Einschränkung der Rechte von Frauen und der LGBTQI+-Bevölkerung an Parlamentarier/innen weiter. Zusammen mit den öffentlichen Sicherheitskräften fördern sie den Krieg gegen die Drogen und die alltägliche Gewalt, indem sie der Polizei Autonomie gewähren und ihr repressives und rassistisches Vorgehen verteidigen (Daten vom brasilianischen Sicherheitsforum zeigen, dass von 6.416 Brasilianer/innen, die im Jahr 2020 durch Polizeieinsätze getötet wurden, 78.9% Afrobrasilianer/innen waren). Ein Teil des Militärs unterstützt weiterhin die Regierung Bolsonaros.

Wie entwaffnet man die extreme Rechte?

Steve Bannon, ehemaliger Berater von Donald Trump, erzählte in einem Interview mit der New York Times aus dem Jahr 2018, dass er Marine Le Pen in Lille auf dem Kongress der Partei Rassemblement National (Nationale Umwälzung) getroffen hat. Bei dieser Gelegenheit fragte er sie, was er dem Publikum sagen solle. „Sagen Sie, dass wir nicht allein sind“,[1] gab sie als Antwort. Und das stimmt, denn sie sind wahrlich nicht allein. Le Pen und Bannon stehen für den Aufbau einer globalen politischen und finanziellen Infrastruktur von Akteuren, die heute mit Instituten und Thinktanks ein Netzwerk bilden.

Aber all die Zahnräder, die die extreme Rechte heute in Bewegung setzen, hätten nicht in Gang gesetzt werden können ohne den Beitrag und den Segen einer reaktionären und autoritären Weltelite. Während der Pandemie besuchte Beatrix von Storch, Vorsitzende der Partei Alternative für Deutschland (AfD) den Präsidenten und seine Minister/innen in Brasilien.  Zu ihrem Besuch erklärte sie in ihren Netzwerken, dass „die Konservativen, um der Linken erfolgreich entgegentreten zu können, sich auch international besser vernetzen müssen“.

Aber noch ist nicht alles verloren.  Die Aufgabe besteht nun darin, zu verstehen, wie die extreme Rechte die Öffentlichkeit nutzt, um die Gesellschaft zu spalten und  ihre Hasswerkzeuge, insbesondere Fake News, einsetzt. Man muss verstehen, dass ihre internationalen finanziellen und politischen Netzwerke, ganz nach der Formel follow the money funktionieren. Um ihre Absprachen und mitunter illegalen Machenschaften aufzudecken, ist es unabdingbar den investigativen Journalismus zu stärken. Insbesondere in Lateinamerika haben die Autonomie der Polizei und die neuen Zugänge des Militärs in die Regierungen dazu geführt, dass sie ihre Macht ausbauen konnten. Daher ist es unabdingbar, von den progressiven Regierungen Lateinamerikas (Kolumbien, Bolivien, Chile und Argentinien) eine antimilitaristische Agenda zu fordern.  Nur gemeinsam können die Akteure, die sich für den Erhalt der Demokratie einsetzen die immensen Probleme, vor denen die lateinamerikanischen Gesellschaften stehen, bewältigen.  Und sie müssen sich mit der politischen Basis zusammenschließen: Frauen, Schwarze, die LGBTQI+-Bevölkerung, indigene Völker, Migrant/innen. Sie sind es, die jeden Tag ihre Rechte einfordern und dafür kämpfen, gehört zu werden. Die extreme Rechte wird nichts unternehmen, um die Umweltkrise zu bekämpfen, die die gesamte Menschheit bedroht.


[1] DA EMPOLI, Giuliano. Os engenheiros do caos. São Paulo: Vestígio, S. 31, 2022 (Espírito do tempo).