Nigerias Präsidentschaftswahlen: Trotz Wahlniederlage etabliert sich die dritte Kraft

Analyse

Schneller als gedacht steht fest, wer die bevölkerungsreichste Demokratie Afrikas in Zukunft regieren wird. Unser Büroleiter in Abuja, Jochen Luckenscheiter, gibt einen Überblick über das Ergebnis, die Probleme während der Abstimmung, die Stimmung im Land und die Herausforderungen für die neue Regierung.

Ein Mann gibt seinen Stimmzettel ab

Drei Tage nach einem turbulenten Wahltag, in den frühen Morgenstunden vom 1. März 2023, wurde Bola Tinubu, Kandidat des regierenden All Progressive Congress (APC), von der unabhängigen Wahlkommission mit knapp 38 Prozent der Stimmen zum Sieger der Präsidentschaftswahlen Nigerias erklärt. Der Wahl-Ausgang war mit großer Spannung erwartet worden. Mit dem Eintritt des gerade bei jungen Nigerianer/innen beliebten früheren Gouverneurs Peter Obi, der sich als starke dritte Kraft im Wettlauf um die Nachfolge von Präsident Muhammadu Buhari etablieren konnte, war die Wahl so heiß umkämpft wie kaum eine andere zuvor. Es war der siebte Urnengang in Folge seit der Rückkehr des Landes zu Demokratie im Jahr 1999 und kennzeichnet damit die längste Periode demokratischer Regierungsführung. Grund für Zuversicht also und doch zeigte die Wahl vor allem auch, welchen fundamentalen Herausforderungen die Demokratie des Landes nach wie vor gegenübersteht.

Hohe Erwartungen vor der Wahl

Vieles sollte besser werden bei dieser Wahl. Präsident Buhari erhob sogar die Abhaltung glaubwürdiger Wahlen zu seinem persönlichen Legacy-Projekt nach acht Jahren Amtszeit. Im vergangenen Jahr noch unterzeichnete er ein neues Wahlgesetz, das unter anderem aufgrund von Neuerungen wie der Einführung der elektronischen Übermittlung der Wahlergebnisse von Wahllokalen an ein im Internet öffentlich zugängliches Ergebnisanzeigeportal, viel Zustimmung in der Bevölkerung erhielt, da in der Vergangenheit wiederholt der Vorwurf des Wahlbetruges im Raum stand. Darüber hinaus wurde die Unabhängige Wahlkommission Nigerias mit der Rekordsumme von 305 Milliarden Naira für die reibungslose Umsetzung der Abstimmung ausgestattet; rund 60 Prozent mehr als für die letzten. Die Kommission registrierte im Vorfeld die Rekordzahl von mehr als 93 Millionen Wähler/innen: rund 10 Millionen mehr als bei der vorherigen Wahl und mit reger Beteiligung junger Nigerianer/innen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren. Nach Angaben der Kommission hielten knapp 90 Millionen Nigerianer/innen vor der Wahl ihre Wahlausweise in der Hand. Ein weiterer Rekord.

Enttäuschung am Wahltag

Am Wahltag selbst wurden die Erwartungen vieler Wähler/innen jedoch enttäuscht. Landesweit öffneten zahlreiche Wahllokale mit teils mehreren Stunden Verspätung. Wahlmaterialien fehlten und Wahltinte war ausgetrocknet. Hinzu kam eine Anzahl an gewaltsamen Angriffen auf weitestgehend ungeschützte Wahllokale durch politische gesponserte Schlägertrupps, insbesondere in der Wirtschaftsmetropole Lagos und in anderen Teilen des Südwestens des Landes. Entscheidend für die Frustration der meisten Nigerianer/innen, die oftmals mit viel Geduld den ganzen Tag bei hohen Temperaturen ausharrten oder gar den Angriffen durch Schlägertrupps trotzten, waren jedoch nicht diese und zahlreiche andere Unregelmäßigkeiten. Es war die Tatsache, dass es am Ende dieser Tortur landesweit zahlreichen Wahllokalen unmöglich war, wie vorgesehen, nach Auszählung der abgegebenen Stimmen die abfotografierten Ergebnisprotokolle an das eigens eingerichtete Ergebnisanzeigeportal der Wahlkommission zu übermitteln, um so Transparenz zu schaffen und Manipulationen einen Riegel vorzuschieben. Mehr als 24 Stunden nach Ende der Abstimmungen hatten weniger als 40.000 der mehr als 170.000 Wahllokale ihre Ergebnisse erfolgreich übermittelt – wobei einige der hochgeladenen Abbildungen unleserlich waren. Während der Datenverkehr auf dem Portal der Wahlkommission beschaulich blieb, begannen in den sozialen Medien Anschuldigungen über manipulierte Ergebnisprotokolle zu zirkulieren, die nun an die Wahlzentrale in Abuja übermittelt worden seien. Trotz des Unmuts der Öffentlichkeit und der großen Oppositionsparteien, die sich schließlich aus dem Auszählungsprozess zurückzogen, hielt der Vorsitzende der Wahlkommission an der Auszählung der Stimmen auch ohne deren elektronische Übermittlung an das hierfür vorgesehene Portal fest.

Geringe Beteiligung

Ernüchternd ist allerdings nicht nur der Verlauf des Wahltages selbst. Entgegen der beigemessenen Bedeutung und trotz der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit im Vorfeld beziffert sich die Wahlbeteiligung auf rund 27 Prozent. Die niedrigste Beteiligung in der Geschichte Nigerias, die selbst die 35 Prozent bei dem letzten Urnengang nochmals deutlich untertrifft. Mit rund 8,8 Millionen abgegebenen Stimmen für Bola Tinubu haben sich weniger als 10 Prozent aller registrierten Wähler/innen aktiv für den hervorgegangenen Sieger entschieden. Außer Frage steht, dass am Wahltag unzählige Wähler/innen durch unter anderem logistische Mängel und Gewalt ihres Wahlrechts beraubt wurden. Doch so sehr die Zahl Ausdruck dessen ist, wie das politische System Nigerias versucht Bürger/innen aktiv auszuschließen, so zeigt sie auch, wie wenig Vertrauen und Interesse die breite Bevölkerung in die Politik noch hat.      

Die politische Landschaft verändert

Nach Verkündung der Ergebnisse durch die Wahlkommission, laut derer Tinubus Hauptkontrahenten Atiku Abubakar (PDP) und Peter Obi (Labour Party)  je nur knapp 7 Millionen bzw. 6,1 Millionen Stimmen erhielten, kündigten beide großen Oppositionsparteien an, das Ergebnis anfechten zu wollen. Peter Obi, der von seinen Gegnern gerne als nicht mehr als ein von der Jugend im Süden des Landes aufgeheiztes Internetphänomen dargestellt wurde, erzielte mit 25 Prozent der Stimmen mehr als einen Achtungserfolg. Er beansprucht nun sogar die Wahl eigentlich für sich entschieden zu haben.

Erwartungsgemäß schnitt Obi besonders stark in seiner Heimatregion im Südosten des Landes ab. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte, dass er auch die wirtschaftsstarke Millionenmetropole Lagos für sich entscheiden konnte. Ein Stadtstaat, der als Machtbasis Bola Tinubus galt, seit er dort in den frühen Nullerjahren als Gouverneur regierte. Gleichzeitig Schnitt Obi allerdings in den meisten Staaten des Nordostens und Nordwestens sehr schwach ab. Hier erhielt er teils weniger als einen Prozentpunkt der Stimmen. Ein klares Indiz dafür, dass auch er nur recht begrenzt die bekannten politischen Bruchlinien entlang religiöser, ethnischer und regionaler Zugehörigkeit überwinden konnte. Profitieren konnte Obi vor allem von seinem Ruf als ein Mann mit Integrität und den damit verbundenen Sympathien, die ihm von der jugendlichen #EndSARS-Bewegung entgegengebracht wurde, deren Proteste gegen Polizeigewalt und für bessere Regierungsführung im Jahr 2020 weltweit für Schlagzeilen sorgte.

Unabhängig davon wie sich der Rechtsstreit, den Peter Obi und seine Partei gegen das verkündete Wahlergebnis nun anstrengen wollen, entwickelt: Es steht schon jetzt fest, dass seine Kandidatur die politische Landschaft Nigerias deutlich verändert hat. Der bisher etablierte politische Zweikampf zwischen den dominierenden Parteien, APC und PDP, wurde aufgebrochen und die Fähigkeit dieser Parteien, große Mehrheiten für sich beanspruchen zu können, vorerst beendet. Damit erhöht sich der längst notwendig gewordene politische Druck als gewählte Regierungspartei die eigenen Wahlversprechen auch umzusetzen. Inwiefern Obi und die Labour Partei fähig sind, das in kürzester Zeit gewonnene politische Kapital, in nachhaltigen und dauerhaften politischen Einfluss umzusetzen, bleibt abzuwarten. Dies wird unter anderem davon abhängen, inwieweit sie die teils tiefsitzende Enttäuschung über den Ausgang der Wahl gerade unter jungen Menschen in der eigenen Wählerschaft überwinden und Bürger/innen mobilisieren kann, die die Motivation, sich am politischen Prozess zu beteiligen, verloren haben.   

Unliebsame Entscheidungen stehen bevor

Die Schwäche seiner Mehrheiten scheint auch dem Sieger Bola Tinubu und seiner Regierungspartei zumindest ein Stück weit bewusst zu sein. In seiner Rede nach der Verkündung des Wahlsiegs wandte Tinubu sich direkt an die Jugend des Landes und reichte den beiden Oppositionsparteien den Olivenzweig. Tinubus Regierung stehen fundamentale Herausforderungen und schwierige Entscheidungen bevor, für die sie jedes noch so kleine Quäntchen Wohlwollen in der Bevölkerung brauchen kann. Das Land befindet sich in einem schlimmen Zustand: 95 der 200 Millionen Nigerianer/innen leben in Armut, die Arbeitslosenrate liegt bei über 33 Prozent und jedes Jahr fallen Tausende Nigerianer/innen gewalttätigen Konflikten und Entführungen zum Opfer, die sich schon lange nicht mehr auf einzelne Regionen des Landes begrenzen. Die Staatskasse ist leer. Auf Bundesebene gab der Staat zwischen Januar und November 2022 80 Prozent seines Haushalts für den Schuldendienst aus. Dadurch, dass die Regierung weiter an hohen Subventionen für Benzin (das importiert werden muss) festhält und seine Förderkapazitäten für den Export nicht signifikant steigern kann, steht der afrikanische Erdölgigant paradoxerweise als Verlierer der durch den Ukrainekrieg ausgelösten hohen Energiepreise da. Obendrein wurde die Bevölkerung in den letzten Wochen von der völlig überstürzten und chaotischen Einführung neuer Banknoten durch die Zentralbank gebeutelt, die eine Bargeldknappheit auslöste, und es vielen Nigerianer/innen zusätzlich verkomplizierte ihren ohnehin schon beschwerlichen Alltag zu meistern.

Notwendige Entscheidungen, wie etwa die Benzinsubventionen abzuschaffen, wären vor den Wahlen einem politischen Selbstmord der Regierungspartei gleichgekommen. Auch nach der Wahl wird hierzu und an anderer Stelle mit signifikanten Widerständen in der Bevölkerung zu rechnen sein. Wie die neue Regierung mit diesen umgeht, und wie sich die politische Bewegung um Peter Obi hier einbringen kann, werden die nächsten Tests für die demokratische Verfasstheit Nigerias sein.