Das Vermächtnis von #MeToo in Mexiko – Das Ringen für Geschlechtergerechtigkeit bleibt

Kommentar

Im Jahr 2019 traf #MeToo die sozialen Medien in Mexiko mit voller Wucht. Ziel war es, Fälle von sexueller Belästigung und Übergriffen im öffentlichen Raum unter vollständiger namentlicher Nennung der Täter publik zu machen.  Nun sind vier Jahre vergangen: doch was wurde gelernt und was sind die größten Herausforderungen für die mexikanische Gesellschaft? Welche Rolle spielte der Hashtag #MeToo dabei?

Ein feministisches Demoschild auf der Straße in Mexiko
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Bis wir alle frei sind: Demoplakat in Mexiko

Der diesjährige Internationale Frauentag ist ein guter Moment, um gemeinsam darüber nachzudenken, was wir aus der Erfahrung von #MeToo mitnehmen um die Gewalt gegen Frauen zu beenden und somit schließlich eine Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen.

Im Jahr 2017 machten die journalistischen Recherchen zweier international anerkannter Medien (The New York Times und The New Yorker) Berichte über den Machtmissbrauch durch den Produzenten Harvey Weinstein öffentlich, der gegen seine weiblichen Angestellten sexuelle Gewalt ausgeübt hatte. Die dadurch entstandene kollektive Empörung angesichts der normalisierten und gegen Frauen gerichteten sexualisierten Gewalt am Arbeitsplatz zeigte sich in dem von der US-amerikanischen Schauspielerin Alyssa Milano ins Leben gerufenen Hashtag #MeToo. Unzählige Frauen teilten in Folge ihre Erfahrungen und so das ungeheure Ausmaß des Problems. Es war unausweichlich, dass die #MeToo-Bewegung schließlich auch Mexico erreichte. In Mexiko sind die Zahlen zur Gewalt gegen Frauen und zu Feminiziden erschreckend hoch. Täglich werden mindestens 10 Frauen ermordet[1]. Laut einer landesweiten Erhebung stiegt die Gewalt innerhalb von Haushalten um vier Prozent, die sexualisierte Gewalt um 8,4 Prozent (2021).

#MeToo trat in Mexiko eine Lawine von Erfahrungsberichten los

Die Mexikanerinnen traten Ende März 2019 der #MeToo Bewegung in den sozialen Netzwerken bei. Zwischen dem 21. März und dem 4. April 2019 erreichte die Welle der öffentlichen Beschuldigungen  424.867 Tweets von insgesamt 230.578 Personen[2].
#MeToo in Mexiko verfolgte dasselbe Ziel wie der internationale Hashtag: die Veröffentlichung der Namen der Täter von sexueller Belästigung und Missbrauch. In Mexiko entschied sich eine Mehrzahl der Frauen dazu, die eigenen Erfahrungen ohne Bekanntgabe der eigenen Identität öffentlich zu machen. Denn: es herrscht viel Misstrauen gegenüber der Justiz und viele Betroffene sind in Sorge vor einer Reviktimisierung. Dennoch veröffentlichten einige ihre #MeToo-Beiträge auch von ihren persönlichen Accounts aus.
Zunächst berichteten einige prominente Mexikanerinnen in der Presse von Belästigungen und sexualisierter Gewalt, sogar von Vergewaltigung, die sie am Arbeitsplatz erfahren hatten, ohne jedoch die Namen der Täter zu nennen. Im Interview der Journalistin Carmen Aristegui mit der Schauspielerin Karla Souza berichtete diese, dass sie vergewaltigt worden sei. Nach dem Interview stellt das Medienunternehmen Televisa die Zusammenarbeit mit dem damaligen Direktor und Produzenten Gustavo Loza ein. Dies geschah, obwohl sein Name nicht genannt wurde. In der öffentlichen Stellungnahme des Unternehmens hieß es, man habe aufgrund der Aussagen der Schauspielerin und erster Nachforschungen entschieden, „die Zusammenarbeit [mit Loza] unverzüglich zu beenden“, da „Televisa ein Verhalten, wie das heute beschriebene, nicht tolerieren wird“.

Der Hashtag erobert die sozialen Medien

Die heftigste Reaktion erfolgte jedoch als der Hashtag #MeToo die sozialen Medien durch Ana G. González, Expertin für politische und feministische Kommunikation, in Mexiko eroberte. Sie machte am 21. März 2019 auf ihrem Twitter-Account öffentlich, dass der Schriftsteller Herson Barona „mehr als 10 Frauen (und das mehr als einmal) geschlagen, manipuliert, durch Gaslighting psychisch verunsichert, geschwängert und verlassen hat“. González zählte sich selbst nicht zu den betroffenen Frauen. Ihr Tweet löste eine intensive Debatte in den sozialen Medien aus und führte zur Absage einer  Buchvorstellung des Autors. Barona wies am nächsten Tag bei Twitter alle Anschuldigungen, die mit irgendeiner Form von physischer Gewalt in Zusammenhang stünden, „kategorisch“ zurück.  Der Schriftsteller bekannte sich dazu, einen „emotionalen Schaden“ verursacht zu haben. Dies sei ohne Absicht und nur aufgrund der herrschenden Macho-Kultur, die gewisse Handlungen normal erscheinen ließe, geschehen. Er sagte: „Wir sind das Ergebnis einer machistisch geprägten Gesellschaft und ich komme aus einer kaputten Familie.“ Er verstehe „das kollektive Leid aufgrund der Tatsache, dass so viele Frauen, geschlagen, vergewaltigt und umgebracht werden“ und sicherte diesen Frauen seine Solidarität zu. Doch er sprach sich gegen die „öffentliche Verhöhnung“ und den „moralischen Schaden, die Diffamierungen, Beschimpfungen oder Drohungen“ aus, die ihn ereilten: „Ich stelle auch fest, dass so heikle Angelegenheiten wie diese den Wunsch hervorrufen, unbegründete Anschuldigungen gegen einen vermeintlichen Aggressor zu wiederholen“.

#MeToo wird mexikanisch

Zwei Tage nach dem Tweet von Ana G. González wurde der erste Twitter-Account der mexikanischen #MeToo-Bewegung eingerichtet und der Hashtag #MeTooEscritoresMexicanos [dt. #MeTooMexikanischeSchriftsteller, Anm. d. Ü.] verbreitet, um verschiedenen Formen sexualisierter Gewalt im Literaturbetrieb Sichtbarkeit zu verschaffen. Dieser Account beflügelte die Einrichtung weiterer Accounts, die die Anschuldigungen von Frauen ganz unterschiedlicher Berufsgruppen sichtbar machten: aus der Musikbranche, dem Journalismus, dem Film, dem Theater, dem Tanz, der Wissenschaft usw. Dieser Aufschrei öffentlicher Anschuldigungen hatte eine Reihe von Auswirkungen auf die Gesellschaft: Die Agentur CIMAC kündigte die Durchführung einer internen Überprüfung an, um zu verhindern, dass sich sexuelle Belästigung oder andere Formen von Gewalt gegen Frauen in ihrem Umfeld wiederholen. Die Medien Chilango und Máspormás kündigten öffentlich die Zusammenarbeit mit zwei von drei öffentlich beschuldigten Mitarbeitern auf. Der Verwaltungsdirektor der Zeitung Reforma, Leonardo Valero, wurde entlassen, nachdem er mehrfach öffentlich beschuldigt worden war. Das Netzwerk Red de Periodistas de A Pie [eine Frauenorganisation für Basis-Journalismus, Anm. d. Ü.] kündigte an „einen Leitfaden bei Fällen von sexueller Belästigung und Übergriffen  entwickeln zu wollen“.

Der Fall Armando Vega Gil

Ein Ereignis, das die Bewegung erschütterte und der hohen Beteiligung ein jähes Ende setzte, war der Selbstmord des Musikers Armando Vega Gil, Mitbegründer der mexikanischen Rockgruppe Botellita de Jerez, der sich nach einer öffentlichen Anschuldigung über den Account @MeTooMusicaMx am 1. April 2019 das Leben nahm.Vega Gil brachte seine Entscheidung in Zusammenhang mit der Anschuldigung in einer Nachricht vor seinem Tod. Obwohl er sagte, dass er „aus freiem Willen, in vollem Bewusstsein, selbstbestimmt und aus persönlichen Gründen“ handele und niemandem die Schuld zu geben sei, machten dennoch viele die #MeToo-Bewegung verantwortlich. In der Folge nahm die Debatte in den sozialen Netzwerken um „anonyme Anschuldigungen“, „Escraches“ [öffentliches Anprangern in Form einer Demonstration, Anm. d. Ü.] und „gesellschaftliches Lynchen“ noch einmal an Intensität und Polarisierung zu. Die Journalistin Guiomar Rovira beurteilt diesen Einbruch der Bewegung nach Interviews mit verschiedenen Administratorinnen der Accounts: „die Aktivistinnen seien nicht in der Lage gewesen, gemeinsam auf die Nachwirkungen des Suizids von Vega Gil zu reagieren. Mit zunehmender Lautstärke der kritischen Stimmen und dem nachfolgenden Verstummen jener, die das Schweigen gebrochen hatten, verlor die Kampagne an Zulauf“.

Was bleibt von  #MeToo in Mexiko

Im März 2023 ist es vier Jahre her, seit #MeToo in Mexiko trendete. Der Begriff bleibt aktuell, ebenso wie die Forderungen Tausender Frauen, die sich damals gegen sexualisierte Gewalt in Form von Belästigung und Missbrauch zusammengeschlossen hatten. Die Mehrzahl der eingerichteten Twitter-Konten erfüllte den Zweck, die erhaltenen Anschuldigungen während dieser Tage großen Zulaufs publik zu machen. Nach dem Rückschlag durch den Suizid von Vega Gil und der wachsenden Kritik an der mexikanischen #MeToo-Bewegung stellten die meisten ihre Aktivität ein. Hauptkritikpunkte an der #MeToo Bewegung und ihrer Wirkung waren falsche Anschuldigungen, Schaden für die Reputation der beschuldigten Männer, die Anonymität, aus der heraus die meisten Frauen ihre Anschuldigungen kommunizierten und fehlende Rechtsgrundlagen für die sozialen Medien. Trotzdem werden Konten weiter aktiviert, um neu auftretende Fälle aufzuzeigen (wie die Hashtags #MeTooCancún in 2020, #MeTooAndresRoemer und #YoTambiénRicardoPonce [YoTambién steht auf Spanisch für MeToo, Anm. d. Ü.] in 2021). Es hat sich gezeigt, dass der Hashtag immer dann wieder auftaucht, wenn ein neuer Vorfall es erfordert. Einer dieser jüngeren Fälle der mexikanischen #MeToo-Bewegung ist der Fall des Autors Andrés Roemer. In 2021 tauchten Dutzenden Anschuldigungen gegen Roemer in den sozialen Netzwerken auf (der Presse-Account von Periodistas Unidas Mexicanas zählt insgesamt 61 Anschuldigungen). Nach der Einleitung eines Gerichtsverfahrens wegen Vergewaltigung setzte sich der Beschuldigten mit bald insgesamt fünf Haftbefehlen im Nacken nach Israel ab. Da Mexiko und Israel kein Auslieferungsabkommen unterzeichnet haben, besteht die Sorge, dass sich das Verfahren auf unbestimmte Zeit verzögert. Paradoxerweise hinderte dies Roemer nicht daran, Mitte 2022 Zivilklage gegen eines der fünf Opfer, eine Journalistin, einzureichen, die ihn bei der Staatsanwaltschaft wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Er fühlte sich durch die Darstellung als sexuellen Aggressor in seiner Ehre und seinen Vermögen beschädigt (so eine Tageszeitung die Zugang zu seiner Klage hatte). Roemer beruft sich auf das mexikanische „Gesetz zur zivilrechtlichen Haftung zum Schutz des Rechts auf Privatsphäre“ und behauptet, es läge ein „Missbrauch des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information“ vor.

Was #MeToo anstoßen konnte

Jenseits der strafrechtlichen Auswirkungen bedeutet #MeToo in Mexiko letztlich eine Auseinandersetzung um die Räume, in denen die Beziehungen zwischen Frauen und Männern stattfinden. Wie können legitime Handlungen bei sexuell konnotierten Zusammentreffen zwischen den Geschlechtern von Übergriffen unterschieden werden? Der #metoo Bewegung gelang es in Mexiko in relativ kurzer Zeit, deutliche Veränderungen in der mexikanischen Gesellschaft zu bewirken: weg von Verhalten, das Frauen zum Schweigen bringen und unterdrücken will, hin zu Konsequenzen für die Täter  sexueller Belästigung und des sexuellen Missbrauchs. Die Mexikanerinnen teilten ihre persönlichen Erfahrungen und erfuhren Unterstützung durch eine Gemeinschaft, die die Bedeutung des Zuhörens und der Unterstützung der Frauen unterstrich, nach Jahrhunderten, in denen ihnen kein Glauben geschenkt worden war und sie stattdessen zum Schweigen gebracht worden waren. Auf Twitter tauchten Hashtags wie #YoTeCreo [dt.: #IchGlaubeDir, Anm. d. Ü.] und #NoEstásSola [dt.: #DuBistNichtAllein, Anm. d. Ü.] auf und die Administratorinnen der Accounts berichteten von der wichtigen psychologischen Beratung für diejenigen, die ihre Erfahrungen öffentlich gemacht hatten. #MeToo lenkte in Mexiko den Fokus auf das Thema, dass diese Aufmerksamkeit dringend bedurfte und veränderte kehrte kollektive Vorstellungen, die schädliches Verhalten normalisieren um, so dass solche Handlungen nicht ungestraft bleiben. Die Debatte bleibt bislang noch auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt , aber die Mexikanerinnen werden ab 2021 weiterhin „MeToo“ sagen, solange ihnen Gewalt angetan wird. Es liegt nun in der Verantwortung der Gesellschaft, die Gewalt nicht länger als normal zu erachten. Jetzt müssen Mechanismen geschafft werden, für Sichtbarkeit, Prävention und Bestrafung. Denn es handelt sich hierbei keineswegs um ein Phänomen, das Teil der Kultur ist, sondern um schwere Menschenrechtsverletzung.

 

[1] Angaben des Verantwortlichen des mexikanischen Systems für öffentliche Sicherheit, September 2022.

[2] Angaben der Referentinnen des Foro #MeTooMX, das von der Ombudsstelle für Menschenrechte von Mexiko-Stadt CDHDF gefördert wird.