"Israel zu unterstützen bedeutet, sich der feindlichen Übernahme Israels zu widersetzen"

Interview

Israels rechts-religiöse Regierung verfolgt das Ziel, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden, die Menschenrechte einzuschränken und demokratische Verfahren abzubauen. Hiergegen hat sich eine breite Protestbewegung formiert, die seit Monaten auf die Straße geht. Mit Frances Raday haben wir über die jüngsten Entwicklungen in Israel gesprochen. Sie ist Juraprofessorin, Menschenrechtsexpertin und eine entschiedene Kritikerin der aktuellen israelischen Regierung.

Israelis protesters hold Israeli flags and chant for democracy at a demonstration against Prime Minister Benjamin Netanyahu s judicial overhaul, outside the Supreme Court in Jerusalem, on Tuesday, July 11, 2023.
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Israelis protesters hold Israeli flags and chant for democracy at a demonstration against Prime Minister Benjamin Netanyahu s judicial overhaul, outside the Supreme Court in Jerusalem, on Tuesday, July 11, 2023.

Das Interview führte Bauke Baumann, Referent der Heinrich-Böll-Stiftung für den Nahen Osten, mit Frances Raday, Professorin für Recht und Präsidentin des Concord Research Center for Integration of International Law in Israel an der Haim Striks School of Law.


Bauke Baumann: Sie haben Ihr berufliches Leben drei großen Anliegen gewidmet – den Menschenrechten, der Rechtswissenschaft und Israel. Sind diese Anliegen nun in Gefahr angesichts der aktuellen Regierungspolitik?
Frances Raday:
All diese Anliegen stehen im Moment auf dem Spiel. Die derzeitige Regierung legt es darauf an, Demokratie und Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Es ist jedoch wichtig zu begreifen, dass Demokratie und Menschrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Ohne grundlegende Menschenrechte, wie das Recht auf Gleichheit, das Recht auf Gedanken- und Gewissensfreiheit, das Recht auf Glaubensfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und natürlich das Recht auf freie und gerechte Wahlen, kann es keine Demokratie geben. All diese Dinge nimmt die aktuelle Regierung unter Beschuss.

Netanjahus Regierungskoalition hält Demokratie für eine reine Frage parlamentarischer Mehrheit. Bei den letzten Wahlen hat die Koalition 64 von 120 Mandaten erhalten, was auf das kurzsichtige und taktisch verhängnisvolle Verhalten der Mitte- und Mitte-Links-Parteien zurückzuführen ist; aber natürlich auch auf die populistischen Lügen und das populistische Schüren von ethnisch motiviertem Hass, den Netanjahu seit Jahren verbreitet, indem er das Rechtssystem als diktatorischen Feind der religiösen und sephardischen Jüdinnen und Juden darstellt. Er schürte Ressentiments gegen die aschkenasischen Juden, die aus Europa gekommen sind, da sie privilegierter seien als andere jüdische Gruppen in Israel (was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, ist er doch selbst Aschkenase). Es herrscht also ein Misstrauen gegenüber dem Rechtssystem und ein Drang nach Vergeltung den so genannten Eliten gegenüber, der durch die parlamentarische Mehrheit gerechtfertigt wird.

Trotz massiver Proteste kippte die Knesset mit der Regierungsmehrheit von Netanjahus Koalition die „Angemessenheitsklausel“, die es dem Obersten Gerichtshof Israels ermöglicht hat, Regierungsbeschlüsse aufzuheben. Was bedeutet das für Israel?
Gemäß der Gesetzesänderung kann das Oberste Gericht Regierungs- und Ministerbeschlüsse nun nicht mehr auf der Grundlage ihrer Angemessenheit beurteilen. Davor konnte es einen Beschluss der Regierung, des Premierministers oder der Minister*innen außer Kraft setzen, wenn es diesen als äußerst unangemessen einstufte.

Diese Macht des Obersten Gerichtshofs kam vor allem bei sozialen Angelegenheiten und Personalentscheidungen der Regierung zum Tragen. Als zum Beispiel beschlossen wurde, Schulen in der Nähe des Gazastreifens so umzubauen, dass sie Schulkindern auch tagsüber ausreichend Schutz bieten, beschloss die Regierung, diese Maßnahme nur teilweise umzusetzen. Da zogen die Einwohner*innen von Sderot (einer kleinen Stadt in der Nähe von Gaza) vor Gericht und sagten, was soll das heißen, teilweise? Das bringt unsere Kinder in Gefahr. Und der Gerichtshof entschied daraufhin, dass es unangemessen sei. Er verpflichtete die Regierung, das vernünftig zu regeln und allen Kindern in dem Gebiet vollen Schutz zu bieten. Das war eine soziale Maßnahme. Einer der Hauptgründe für die Gesetzesänderung ist jedoch die Macht des Obersten Gerichtshof bei der Überprüfung der Angemessenheit von Regierungsbeschlüssen, wenn es um potenziell unangemessene Ernennungen geht. Das Paradebeispiel dafür ist die Bestellung von Aryeh Deri von der Schas-Partei als Minister in Netanjahus neuer Regierung. Deri wurde einige Jahre davor wegen Betrugs und Korruption verurteilt, und erst kürzlich der Steuerhinterziehung als Minister in einer der Vorgängerregierungen für schuldig befunden. Aus diesem Grund hielt das Gericht es nicht für angemessen, ihn – eine Person, der tatsächlich der Diebstahl öffentlicher Mittel zur Last gelegt wurde – als Minister zu bestellen.

Diese Beispiele zeigen, wie wichtig die Angemessenheitsklausel ist. Und wir müssen uns immer vor Augen halten, dass es kein anderes Organ gibt, das Regierungsbeschlüsse überprüfen und außer Kraft setzen kann. Es gibt keine Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Parlament in Israel. Das Parlament kann also nicht kommen und sagen: Es ist nicht angemessen, dass der Premierminister eine Person bestellt hat, die überhaupt nicht qualifiziert ist, weil in Israel die Koalition sowohl in der Regierung als auch in der Knesset das Sagen hat.

Die Regierung Netanjahu hat jedoch noch viel weitreichendere Pläne zur Umstrukturierung der Justiz und zur Beschneidung der Unabhängigkeit und der Zuständigkeiten des Obersten Gerichtshofes. Was hat die Regierung im Bereich der Gesetzgebung noch vor?
Die Regierung arbeitet an 250 neuen Gesetzgebungsvorschlägen. Ich verbringe jeden Tag Stunden damit, diese Dinge zu verfolgen. Es ist für uns alle schwierig, da auf dem Laufenden zu bleiben, und zu verfolgen, wo genau im Gesetzgebungsverfahren sich die verschiedenen Vorschläge gerade befinden.

Ich würde hier gerne auf drei Legislativvorhaben hinweisen, die das Rechtssystem und die Rechtsstaatlichkeit betreffen und die ich für besonders gefährlich halte.

Zunächst einmal will die Koalition eine Überstimmungsklausel durchsetzen. Sie schlägt vor, dass 61 von 120 Mitgliedern der Knesset jeden Beschluss des Obersten Gerichtshofs außer Kraft setzen können. Das würde dem Obersten Gerichtshof jegliche Bedeutung als Bewahrer von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Israel nehmen.

Dann will die Koalition auch die Vorgehensweise bei der Bestellung von Richter*innen ändern. Der Ausschuss für richterliche Ernennungen, der Richter*innen bestellt, weist momentan ein Gleichgewicht zwischen der Regierung, den Richter*innen selbst und der Anwaltskammer auf. Es ist ihm sehr erfolgreich gelungen, das Gericht relativ frei von direkten politischen Interventionen bei der Bestellung von Richter*innen zu halten. Die Koalition versuchte ein Gesetz zu verabschieden, demzufolge dem Ernennungsausschuss nur mehr Politiker*innen angehören sollen. Die darauffolgenden Demonstrationen ließen sie in diesem Vorhaben anscheinend zögern, also haben sie einen anderen Weg eingeschlagen. Sie stellten einen eigenen Kandidaten als Vorsitzenden der Anwaltskammer auf, die zwei Vertreter*innen des Ernennungsausschusses stellt. Allerdings erfolglos. Die Anwält*innen haben mit 80 % gegen den von der Koalitionsregierung aufgestellten Kandidaten gestimmt. Als Reaktion auf diesen Fehlschlag hat die Koalition nun einen Plan ausgeheckt, um die gesetzlichen Befugnisse der Anwaltskammer abzuschaffen und an deren Stelle einen der Politik unterworfenen Rechtsrat einzusetzen.

Das dritte Projekt der Regierung, das ich gerne erwähnen möchte, ist der Status der Rechtsberater*innen der Regierung. Bislang haben die Generalstaatsanwaltschaft und die Rechtsberater*innen der Regierungsministerien auf der Basis beruflicher Unabhängigkeit agiert. Sie verfügen über großes Gewicht und sind unabhängige Schiedsrichter*innen darüber, ob ein ministerieller Vorschlag rechtskonform ist. Die Koalition plant, alle Rechtsberater*innen einer Loyalitätsverpflichtung zu unterwerfen. Das bedeutet, dass die Minister*innen ihre Rechtsberater*innen selbst bestellen und deren Aufgabe nun darin besteht, die Pläne der Ministerien durchzusetzen, anstatt deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Sie planen auch, die aktuelle Generalstaatsanwältin, Gali Baharav-Miara, die ihre professionelle Unabhängigkeit und ihre Entscheidungsfindung bislang sehr gut durchsetzen konnte, abzusetzen oder ihre Befugnisse zu beschneiden. So kritisierte Baharav-Miara beispielsweise, dass das Programm der Justizreform drohe, der Regierung unkontrollierbare Macht zu verleihen. Außerdem stellte sie fest, dass Netanjahu in dieses Programm gar nicht eingebunden sein dürfe, da dies angesichts der strafrechtlichen Verfolgung gegen ihn, einen Interessenskonflikt darstellen würde. Die Regierung will ihre Stelle nun teilen, damit Entscheidungen zu Strafverfolgungen künftig nicht mehr ihr zufallen. Das würde bedeuten, dass sie keine Macht mehr hätte, Beschlüsse zu fassen, die mit Netanjahus Strafverfahren zu tun haben.

Bei den Demonstrationen in Tel Aviv und andernorts haben wir all diese Bilder von Frauen gesehen, die im Kostüm der Mägde aus The Handmaids Tale protestierten. Wie beurteilen Sie das anti-feministische und anti-queere Programm der Regierung?
Ich bin Feministin und ich war eine der „Mägde“ bei den Demonstrationen. Und das ist sehr wichtig. Frauenrechte sind Menschenrechte. Es ist Teil einer gesamten Menschenrechtsagenda, die von der Regierung angegriffen wird. Die Koalition ist von religiösem Fanatismus angetrieben. Und das ist mit ziemlicher Sicherheit eine Folge der Machtposition, die die ultra-orthodoxen Parteien nun haben und die so stark ist wie nie zuvor.

In Israel waren früher alle drei religiösen Gerichte – das jüdische, das muslimische und das christliche – bestimmend, was Fragen von Eheschließung und Scheidung betraf. Was das Recht der Frauen auf Gleichberechtigung in der Familie angeht, war unsere Position also nie besonders gut. Die Regierung Netanjahu erweitert nun die Rechte des Rabbinatsgerichts. In diesem Gericht gibt es keine Richterinnen, nur Richter. Bislang hatten die Rabbinatsgerichte die Rechtsprechung über Ehestand und Scheidung inne. Jetzt sollen ihre Befugnisse auch auf Fragen des Familienrechts und andere zivilrechtliche Themen ausgedehnt werden.

Zudem soll die Anzahl öffentlicher Plätze, an denen eine Trennung der Geschlechter stattfindet, erhöht werden. Sie sagen zwar getrennt, aber gleichberechtigt, doch das ist nicht möglich. Denn es sind die Männer, die im öffentlichen Raum bevorzugt werden.

Sie versuchen auch – mit möglichen Auswirkungen auf Araber*innen, Homosexuelle und Frauen – Straffreiheit für die Diskriminierung bei der Erbringung von Dienstleistungen einzuführen, wenn diese aufgrund der religiösen Überzeugung stattfindet. Das heißt also, dass ein Ladenbesitzer sich weigern kann, mich als Frau zu bedienen, wenn meine Arme und Schultern auf unzüchtige Weise zu sehen sind. Oder er könnte sich weigern, ein schwules Paar zu bedienen, das hereinkommt und Händchen hält. Oder wenn es sich zum Beispiel um eine Weinhandlung handelt, gibt es bei den Ultra-Orthodoxen eine Regel, dass Wein nicht mehr koscher ist, wenn er von einem Nichtjuden berührt wird, ein Ladenbesitzer kann es also Araber*innen untersagen, in den Laden zu kommen.

Was treibt die verschiedenen Parteien in der heterogenen Koalition von Netanjahus Regierung zu so einer massiven Neuordnung von Politik und Gesellschaft an?
In dieser Regierung gibt es drei Hauptgruppen. Die erste Gruppe sind die Korrupten, die von Geld und Macht getrieben sind. Die zweite Gruppe sind die religiösen Parteien, die nach der theokratischen Herrschaft des jüdischen Rechts streben. Und die dritte Gruppe sind die ideologischen Siedler*innen.

Die erste Gruppe strebt Straffreiheit bei der strafrechtlichen Verantwortung für Korruption an. Das schließt nicht nur Netanjahu mit ein, der sich seiner äußerst lästigen Strafverfolgung entziehen will, sondern auch Deri, der die Konsequenzen seiner Vorstrafen vermeiden will, und Itamar Ben-Gvir, der in der Vergangenheit verurteilt wurde, weil er Terrorismus gegen Araber*innen gefördert hat, und der heute Minister für nationale Sicherheit ist.

Die zweite Gruppe sind die Ultra-Orthodoxen. Da kommt die Theokratie ins Spiel. Sie wollen einen komplett halachischen Staat, das heißt einen Staat, der jüdischem Recht unterliegt. Es gibt bereits jetzt zahlreiche Sonderregeln für die ultra-orthodoxe Gemeinschaft in Israel. Ehe und Scheidung unterliegen der Rechtsprechung der Rabbinatsgerichte. Am Samstag gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Ultra-orthodoxe Jugendliche, die studieren, dienen nicht in der Armee – und das war bereits ein enormes Zugeständnis des säkularen Israels, das die, mit einem Risiko für das eigene Leben verbundene Bürde der Verteidigung Israels auf sich genommen hat. Doch das ist noch nicht genug, denn diese Meute in der aktuellen Koalition will noch viel mehr.

Sie streben Dinge an, über die wir gerade gesprochen haben: Trennung von Männern und Frauen im öffentlichen Raum und Diskriminierung auf Grundlage religiöser Überzeugung. Zusätzlich wollen sie, dass die ultra-orthodoxen Schulen und andere religiöse Schulen die volle staatliche Unterstützung für schulische Ausbildung erhalten, ohne einen Kernlehrplan für Mathematik, Staatsbürgerkunde und Englisch aufweisen zu können. Und zu guter Letzt bereiten sie auch noch ein Gesetz vor, mit dem das Studium der Tora dem Militärdienst gleichgesetzt werden soll. Dafür kämpfen sie. Das geht weit über die enormen Zugeständnisse hinaus, die früher bereits gemacht wurden.

Die dritte Gruppe sind die ideologischen Siedler*innen. Sie glauben an ein Großisrael. Die neue Regierung will das Westjordanland annektieren. Sie stehen recht offen zu der Tatsache, dass sie kein Interesse an Verhandlungen oder an einem palästinensischen Staat haben. Nicht nur das, sie wollen auch viele der Beschränkungen für die Handlungen der Siedler*innen und der Armee im Westjordanland abschaffen. Zudem soll größere Straffreiheit für durch die Armee oder die Siedler*innen verursachte Schäden erreicht werden.

Die beiden letzten Punkte, das heißt jene, die mit den Ultra-Orthodoxen und den Siedler*innen zu tun haben, finden bereits ihren Niederschlag im Etat, denn neben all diesen Gesetzen verteilt die Regierung das Budget, als ob es kein Morgen gäbe. Millionen Schekel gehen an alle möglichen obskuren ultra-orthodoxen jüdischen Stiftungen, an Siedlerprojekte und Unterstützung für diese beiden Gruppierungen.

Seit Monaten sehen wir schon Massendemonstrationen in Tel Aviv und anderen Städten, die sich gegen die Entmachtung des Obersten Gerichtshofs und andere Regierungsprojekte richten. Wer sind die gesellschaftlichen Gruppen, Organisationen und Parteien, die diese Protestbewegung unterstützen? Und wie kohärent ist diese Bewegung?
Die Protestbewegung ist unglaublich kohärent. Gleichzeitig ist sie aber auch recht spontan. In der Nacht, als Netanjahu den Verteidigungsminister entlassen hat (am 26. März 2023), ging ich hinaus und zu meinem Erstaunen fand ich um 11 Uhr am Abend massenhaft Menschen, die spontan aus ihren Häusern geströmt waren, um vor der Residenz des Premierministers zu demonstrieren.

Die Protestbewegung besteht in erster Linie aus besorgten Bürger*innen. Aber es gibt auch einen erstaunlichen Ausdruck des Widerstands von Reservist*innen, z.B. von den Pilot*innen, von Sondereinsatztruppen und von den Geheimdiensten. Und diese Weigerung, in der Armee zu dienen, also nicht zu dienen, wenn man einberufen wird, hat enorme Auswirkungen. Die Regierung beschuldigt Militärangehörige, die sich weigern zu dienen, sie würden gegen ihre Pflicht verstoßen. Aber das sind alles Freiwillige. Es sind Freiwillige, die sagen, sie wollen nicht länger freiwillig Dienst tun. Jedenfalls nicht für diese Regierung. Auch von Fachkräften, Ärzt*innen, Professor*innen, Wissenschaftler*innen und Anwält*innen gibt es Widerstand. Dann ist da noch der High-Tech-Sektor, der seine Start-ups aus Israel abzieht, Projekte ins Ausland verlagert, aufgrund dessen, was die Regierung da tut.

Es ist also ein unheimlich breites Feld. Die Menschen protestieren nicht nur einmal die Woche, sondern die ganze Woche lang, jede Woche, bei verschiedenen Demonstrationen. Jeden Samstagabend gibt es massive Proteste.

Das größte Problem ist die Trennung zwischen der Protestbewegung, der politischen Opposition und dem Präsidenten. Der Präsident schloss von Anfang an die politische Opposition in Gespräche zur Dialogsuche mit ein. Er strebte einen Konsens an. Wenn die Absicht der Regierung jedoch auf absolute und uneingeschränkte Macht ausgerichtet ist, dann bleibt kein Platz für Kompromisse. Es gibt also eine Kluft zwischen der Widerstandsbewegung, die eindeutig gegen Kompromisse ist, und der politischen Opposition, die mit dem Präsidenten kooperiert und versucht einen Konsens zu finden. Das ist die eine Sache. Doch auch innerhalb der Widerstandsbewegung gibt es unterschiedliche Auffassungen, zwischen jenen, die offen gegen die Besetzung sind und jenen, die der Meinung sind, es sei wichtiger eine möglichst breite gesellschaftliche Teilnahme an den Protesten sicherzustellen, darunter auch die, der „gemäßigten Rechten“. Deshalb sagen letztere, wir können das Siedlungsthema oder das Besetzungsthema nicht in unsere Agenda aufnehmen. Doch selbst diese Gruppen bewegen sich inmitten von anderen Demonstrationen, bei denen das Siedlungs- und Besetzungsthema ganz oben auf der Tagesordnung steht. Es gibt einige Reibungspunkte, aber im Großen und Ganzen, denke ich, leben sie ganz gut Seite an Seite.

Was ist mit den israelischen Palästinenser*innen, die ca. 20 % der israelischen Bürger*innen ausmachen, nehmen sie an der Protestbewegung teil?
Ich bin in einer Gruppe mit israelischen Araber*innen. Eine sehr kleine Gruppe. Dan Halutz, der Kommandant der Luftstreitkräfte und Stabschef war, steht auf der israelisch-jüdischen Seite dieser Gruppe, und auf der israelisch-arabischen Seite befindet sich Ayman Odeh, der Vorsitzende der Vereinten Liste. Die Diskussion, die wir jetzt führen, dreht sich um die Frage, wo der Platz der Araber*innen in dieser Protestbewegung ist. Und das ist sehr schwierig, da sie sagen: Hört mal, die wunderbare Demokratie, über die ihr da sprecht, die hat für uns nicht funktioniert. Meiner Ansicht nach stimmt das nur zum Teil, obwohl das System alles andere als perfekt war, besonders nach dem Nationalstaatsgesetz, das von der vorherigen Regierung Netanjahu im Jahr 2018 verabschiedet worden war, und das die jüdische Natur des Staates Israel bekräftigte. Dennoch konnte nicht einmal das Nationalstaatsgesetz die demokratische Natur des politischen Systems beeinträchtigen, da es nicht das widerrufen hat, was im Grundgesetz verankert ist, nämlich, dass Israel ein jüdischer und ein demokratischer Staat ist. Trotzdem war es, was die Öffentlichkeit und die öffentliche psychologische Wirkung anbelangt, ein bösartiges Gesetz, und es hat viel von den Annäherungsversuchen zerstört, die in der jüdisch-arabischen Zusammenarbeit innerhalb der Grünen Linie des Staates Israel bestanden hatten.

Was ist also das Problem? Der arabische Teil sagt, für uns war es gar keine Demokratie. Obwohl wir anerkennen, dass die Koalition die Situation verschlimmert, besonders für uns, wie können wir da hinausgehen und die israelische Flagge schwenken? Also fragte ich die arabischen Teilnehmer*innen beim letzten Treffen unserer Gruppe, ob es denn dem Zweck der Demonstration dienlich wäre, wenn wir auf der israelischen Flagge einen Olivenzweig oder ein anderes Symbol anbrächten. Sie meinten, das würde nicht helfen. Trotzdem nimmt Ayman Odeh an den Demonstrationen teil, er stellt damit jedoch eine Minderheit in der arabischen Gemeinschaft dar.

Wie agieren die progressiven Kräfte der politischen Linken Israels in der aktuellen Lage? Wie ist ihr Verhältnis zu der Protestbewegung?
Einige der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Widerstand unterstützen, und einige der politischen Parteien wie Meretz, sind damit beschäftigt, alternative Verfassungsentwürfe für die Zukunft aufzusetzen. Ich sage, vergesst es. Jahrelang war ich an Versuchen progressiver Politiker*innen und zivilgesellschaftlicher Organisationen beteiligt, eine vollständige und rechtlich verankerte Verfassung aufzusetzen. Doch wir sind an der religiösen Lobby gescheitert. Und heute ist die religiöse Lobby stärker denn je.

Meiner Ansicht nach müssen alle Kräfte gebündelt werden, um die Initiativen dieser Regierung zu stoppen. Ich betrachte es als Widerstand, nicht als Bewegung zum Aufbau der Zukunft. Viele Leute sind da anderer Meinung. Sie finden man müsse eine positive Agenda verfolgen. Ich antworte ihnen dann, dass die positive Agenda für mich die allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist. Haltet sie einfach an einer Stange hoch. Das ist die positive Agenda.

Viele Beobachter*innen sehen Israel auf dem Weg in eine illiberale Demokratie und warnen davor, dass die gegenwärtige Regierung Israels Demokratie dauerhaft beschädigen könnte. Für wie widerstandsfähig halten Sie die israelische Demokratie angesichts dieser Bedrohung und welche Art der Unterstützung von außen ist notwendig?
Ich glaube, dass der Widerstand hochrangiger Militärs der Luftstreitkräfte und des Nachrichtendienstes sowie die negativen wirtschaftlichen Folgen der Regierungspolitik uns eine Chance geben – insbesondere im Zusammenspiel mit der Unterstützung der Straße. Ich betrachte die Demonstrationen auf der Straße als Rückenwind, gewissermaßen als Rückhalt. Etwas, das jene Entscheidungsträger*innen, die im Land über Macht verfügen und nichts mit der Regierung zu tun haben, und den öffentlichen Dienst unterstützt. Wir haben immer noch Menschen im öffentlichen Dienst, die von innen her Widerstand leisten können. Die aktuelle Generalstaatsanwältin ist das wunderbarste Beispiel dafür.

Dennoch glaube ich, dass wir jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können. Ich glaube auch, dass der amerikanische Präsident Biden hier eine wichtige Rolle spielen muss. Bis jetzt hat er das meiner Meinung nach nur zum Teil getan. Er sollte weitaus vehementer darauf pochen, dass die israelische Regierung all ihre legislativen Pläne fallenlässt, die bereits verabschiedeten Rechtsvorschriften wieder aufhebt und Neuwahlen abhält. Biden sollte Netanjahu sagen: Halte Neuwahlen ab, es gibt keine Hilfe oder Unterstützung aus Amerika mehr, bis es Neuwahlen gibt. Auch Europa und die Vereinten Nationen sollten auf Neuwahlen drängen. Das Problem bei Europa ist, dass sie das auch bei Ungarn und Polen nicht getan haben. Demzufolge sind sie nicht in einer so starken Position wie sie es gewesen wären, hätten sie ihren eigenen illiberalen Demokratien die Stirn geboten. Aber wir befinden uns außerhalb des europäischen Blocks. Im Fall von Ungarn hat die EU versucht, wirtschaftliche Druckmittel einzusetzen. Bei Israel sollte man denke ich das Gleiche tun, obwohl wir nicht Teil des europäischen Blocks sind.

Aktuelle Umfragen in Israel zeigen, dass die Regierungskoalition mittlerweile deutlich schwächer abschneidet – obwohl es leider noch nicht annähernd schwach genug ist. Im Vergleich zu den 64 Sitzen, die sie bei den letzten Wahlen gewonnen haben, hätten sie jetzt laut Umfragen nur mehr 52 bis 54 Sitze. Es besteht also Hoffnung. Aber es wird uns alles abverlangen. Und meiner Ansicht nach muss es jetzt Neuwahlen geben. Wir sollten ganz sicher nicht so lange warten, bis sie die Gelegenheit haben, die Wahlgesetze für die nächsten Wahlen zu verfälschen. Wenn sie vier Jahre lang an der Macht bleiben, dann gibt es vielleicht keine freien und fairen Wahlen mehr.

Was bedeutet das für Deutschland? Wie sollte die deutsche Regierung sich gegenüber der aktuellen israelischen Regierung verhalten?
Meines Erachtens sollte jedes Mitglied der israelischen Regierung in Berlin als Persona non grata gelten. Das sollte die deutsche Regierungsposition sein. Hört auf mit ihnen zu reden, bis sie Neuwahlen abhalten. Sagt ihnen, sie sollen wieder freie und faire Wahlen abhalten. Und solange sie das nicht tun, sind sie keine legitimen Vertreter*innen des Staates Israel, wie wir ihn kennen. Es ist eine illegitime Regierung, obwohl sie demokratisch gewählt wurde.

Die Umstrukturierung der Justiz ist nur der erste Schritt in einer ganzen Menge an Dingen, die jeden Tag stattfinden. Es ist die Aushöhlung jedes Sektors der Zivilgesellschaft. Es sind die Universitäten, es ist die Nationalbibliothek, es sind die Medien. Es ist alles, nicht nur die Justizreform.

Die israelische Gesellschaft ist stark polarisiert. Regierungsunterstützer*innen und die Protestbewegung stehen einander unversöhnlich gegenüber. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie die unterschiedlichen Lager sich einander wieder annähern könnten – selbst wenn die aktuelle Regierung stürzt. Wie sehen Sie das, gibt es eine Aussicht auf gesellschaftliche Versöhnung?
Ich glaube ja, es besteht Aussicht auf Versöhnung. Ein Weg wäre, die unglaublichen Fake News loszuwerden. Wir haben einen Channel 14, der noch viel schlimmer ist als Fox News hinsichtlich seiner unverhohlenen Parteinahme für die politischen Kräften der Rechten. Es ist ein unerträgliches, tagtägliches Verbreiten von Lügen über Araber*innen, über den Obersten Gerichtshof und über Frauen. Diese Lügen müssen gestoppt werden. Sie werden in hohem Maße von rechten Interessensgruppen und Organisationen wie dem Kohelet Policy Forum finanziert und unterstützt, welches sein Geld wiederum von amerikanischen Millionär*innen bekommt. Ihnen muss Einhalt geboten werden. Sie haben sogar den Lehrplan der Schulen ganz heimlich verfälscht.

Ich glaube sobald den Lügen Einhalt geboten ist, wird es eine ganz natürliche Versöhnung geben.

Wie blicken Sie auf die kommenden Wochen und Monaten in Israel?
Ich glaube, dass die Protestbewegung weitergehen wird. Ich glaube aber auch, dass die Regierung mit ihrem ruchlosen Handeln weitermachen wird. Wir müssen wirklich auf Druck aus dem Ausland hoffen, wir müssen hoffen, dass es im Ausland die Erkenntnis gibt, dass Israel zu unterstützen bedeutet, sich der feindlichen Übernahme Israels zu widersetzen.

Zu Frances Raday:

Frances Raday blickt vor einem weißen Hintergrund in die Kamera

Frances Raday ist emeritierte Rechtsprofessorin und lehrt an der Hebräischen Universität. Sie ist Mitglied des juristischen Teams der israelischen Bürgerbewegung für Demokratie und Vorsitzende des Concord Research Center for Integration of International Law in Israel an der Haim Striks School of Law, College of Management. Sie war als unabhängige Menschenrechtsexpertin für UN-Gremien und Sonderverfahren des Menschenrechtsrats tätig.