Die EU-Kommission, das Parlament sowie die Mitgliedsländer verhandeln über eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik. Das umfangreiche Reformpaket enthält eine Vielzahl von Gesetzesvorschlägen, die massive Folgen für Asylsuchende hätten.
Am 7. Dezember 2023 lief in Brüssel ein sogenannter Jumbo-Trilog zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Anders als gewöhnlich wurden an diesem Tag keine einzelnen Verordnungen verhandelt, sondern fünf noch ungeeinte Dossiers gleichzeitig, nämlich Eurodac, Screening, die Asylverfahrensverordnung, die Verordnung für Asyl- und Migrationsmanagement und schließlich die Krisenverordnung. Der Druck auf alle Verhandelnden war groß, einen Durchbruch zu erzielen, doch trotz 12-stündiger Marathonsitzung konnte keine Einigung erreicht werden. Nun ist die nächste große Verhandlungsrunde für den 18. Dezember 2023 geplant. Was steht auf dem Spiel?
Seit Jahren bemühen sich die EU-Kommission und die EU-Mitgliedsländer um eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, dem sogenannten GEAS. Bislang scheiterte jeder Reformversuch jedoch an den sehr unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Mitgliedsländer. Im Herbst 2020 legte die EU-Kommission ein umfangreiches Paket mit Reformvorschlägen für ein „neues Migrations-und Asylpaket“ vor und verkündetet, es solle „no more Morias“ geben, also keine humanitär katastrophalen Lager mehr, wie einst das berüchtigte Camp Moria auf Lesbos. Im September 2022 einigten sich Rat und Parlament auf eine Roadmap mit dem Ziel, Verhandlungen noch vor der Wahl des Europaparlaments im Juni 2024 abzuschließen. Tatsächlich scheint eine Einigung dieses Mal wahrscheinlicher. Unter großem Zeitdruck finden nun Trilogverhandlungen zu zahlreichen, komplexen EU-Rechtsakten statt, die weitreichende Veränderungen des gegenwärtigen Systems beinhalten und bei Inkrafttreten massive Folgen für Asylsuchende sowie auch für EU-Mitgliedsstaaten hätten. Dabei scheint es bei allen Differenzen einen grundsätzlichen Konsens darüber zu geben, dass die sogenannte irreguläre Migration eingedämmt werden muss.
Das Reformpaket und die Trilogverhandlungen
Das Reform-Paket enthält eine Vielzahl von Gesetzesvorschlägen, die meisten davon verbindliche Verordnungen, die jeweils für sich genommen komplex, aber durch den Paketansatz noch schwerer zu bewerten sind, da sich viele Teilbereiche aufeinander beziehen und sich gegenseitig bedingen. Das ist ein wichtiges Merkmal des Reformprozesses und ein Aspekt, der zum Beispiel von unseren Partnerorganisationen als Problem gesehen wird, denn die Unübersichtlichkeit der Materie hat durchaus politische und praktische Implikationen: So ist es für die flüchtlingspolitisch arbeitende Zivilgesellschaft äußerst schwer auf dem Stand zu bleiben, was die Verhandlungen und die Inhalte der einzelnen Vorlagen betrifft. Eine kritische Begleitung der Verhandlungen durch eben jene Rechtshilfeorganisationen, Anwält*innen, Sozialarbeiter*innen, die in der Praxis täglich EU-Recht anwenden, wäre angesichts des schlechten Ist-Zustands europäischer Asylpolitik, eigentlich unabdingbar.
Im Juni 2023 haben sich die EU-Mitgliedsstaaten im EU-Rat bereits auf die Asylverfahrens-VO sowie die Asylmanagement-VO geeinigt. Innenministerin Nancy Faeser hat an dem Tag von einem historischen Erfolg für die Europäische Union und für den Schutz von Menschenrechten gesprochen. Weite Teile der Zivilgesellschaft, Geflüchtete selbst, die Migrationsforschung und Asylrechtsexpert*innen – in Deutschland sowie anderen EU-Ländern – jedoch blicken höchst kritisch auf diese Einigung.
Es gibt im Wesentlichen drei Aspekte der Reform, die besonders hervorzuheben sind:
- Screening und Grenzverfahren
- die Ausweitung des Konzepts der sogenannten ‚sicheren Drittstaaten‘
- Solidaritäts- und Verteilmechanismus
Screening und Grenzverfahren
Die von der Kommission vorgeschlagenen Grenzverfahren würden eine de facto Inhaftierung zahlreicher Menschen – auch Kinder – an den Außengrenzen bedeuten, entgegen dem Prinzip der Haft als ultima ratio. Laut Ratseinigung sollen diese verpflichtend sein bei Menschen aus einem Herkunftsland mit einer durchschnittlichen Schutzquote von 20 Prozent oder weniger, bei allen, die falsche Angaben im Zusammenhang mit ihrer Identität gemacht haben sowie bei allen Menschen, die eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ bedeuten. Optional sollen Mitgliedsstaaten auch die Möglichkeit haben, all jene in das Grenzverfahren zu schicken, die über sogenannte ‚sichere Drittstaaten‘ eingereist sind. Damit einher geht für die Schutzsuchenden ein eingeschränkter Rechtsschutz sowie der Zwang für die Dauer des Grenzverfahrens jeweils in geschlossenen Einrichtungen an den Außengrenzen auszuharren. Grenzverfahren sollen unter der sogenannten Fiktion der „Nicht-Einreise“ stattfinden, ähnlich wie beim deutschen Flughafenverfahren. Berichten zufolge, soll sich der EU-Rat beim Jumbo-Trilog am 07. Dezember dafür eingesetzt haben, das Mindestalter für die Grenzverfahren von zwölf auf sechs Jahre zu senken. Deutschland hatte sich ursprünglich dafür eingesetzt Familien und unbegleitete Kinder ganz aus den Grenzverfahren auszunehmen, jedoch ohne dafür genügend Unterstützung von den anderen EU-Mitgliedsstaaten gewinnen zu können. Besonders gravierend wirken die Grenzverfahren in Kombination mit der sogenannten Krisenverordnung, die vorsieht, dass in Zeiten von „höherer Gewalt“ oder „Instrumentalisierung“ Ausnahmeregeln gelten sollen, die das Recht auf Asyl zusätzlich einschränken würden. Dann könnten Asylverfahren wochenlang ausgesetzt werden und alle Menschen aus Herkunftsländern von bis zu 75 Prozent Anerkennungsquote könnten in Grenzverfahren behandelt werden, wo sie statt der sonst üblichen zwölf bis zu 20 Wochen ausharren müssten.
‚Sichere Drittstaaten‘
Ein weiterer Aspekt der geplanten GEAS-Reform, der besonders in der Kritik steht, ist die Ausweitung des Konzepts ‚sicherer Drittstaaten‘, sowie die Absenkung der Kriterien, die ein Staat erfüllen muss, um als „sicher“ zu gelten. In Kombination mit den obigen Grenzverfahren ist das besonders problematisch, weil davon auszugehen ist, dass Betroffene gegen entsprechende Entscheidungen rechtlich nicht oder kaum werden vorgehen können. Es droht eine weitreichende Externalisierung des Flüchtlingsschutzes.
Solidaritäts- und Verteilmechanismus
Schließlich ist der Aspekt der Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU ein wichtiger Baustein im Zentrum der GEAS-Reform. Seit Inkrafttreten der Dublin-Verordnung galt in der EU das Prinzip des Ersteinreisestaates, der die Verantwortung für das Asylverfahren eines Schutzsuchenden trägt. Dieses Prinzip hat Staaten an den Außengrenzen, wie Italien und Griechenland, überproportional in die Pflicht genommen. Nach dem plötzlichen Anstieg der Zahl der Schutzsuchenden in Europa in 2015 herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass das Dublin-Prinzip gescheitert ist. Dennoch hält das von der Kommission vorgeschlagene Paket an diesem Prinzip fest: Man kann sogar argumentieren, dass das Dublin-System verschärft werden soll, da beispielsweise Überstellungsfristen verlängert werden sollen, bei gleichzeitiger Einschränkung des Rechtsschutzes, was in der Praxis zu einem monatelangen Schwebezustand für Geflüchtete führen könnte.
Zwar soll es einen Solidaritätsmechanismus zwischen den EU-Mitgliedsstaaten geben, aber dieser soll finanzielle Zahlungen als Alternative zur Aufnahme von Schutzsuchenden beinhalten (20.000 Euro pro nicht aufgenommenem Flüchtling), wobei die Gelder dieser zynischen Aufrechnung dann wiederum für das sogenannte ‚Migrationsmanagement‘ verwendet werden sollen. Für die Sicherstellung dieses Mechanismus‘ schlägt die Kommission ein komplexes System von Safeguards vor. Wie die Umsetzung der Umverteilung innerhalb der EU tatsächlich gewährleistet werden soll, bleibt jedoch vor dem Hintergrund bisheriger Relocation-Bilanzen fragwürdig.
Das Recht auf Asyl ist eine zivilisatorische Errungenschaft
Noch haben wir einen relativ hohen Rechtsstandard in der EU, der aber zum Leid vieler Geflüchteter häufig nicht eingehalten wird. Die Realität für viele Menschen vor Ort in Griechenland und entlang der Balkanroute ist trotz geltendem Recht dramatisch.
Was passiert jedoch, wenn sich im Zuge der GEAS-Reform der Rechtsrahmen an die bereits bestehende diskriminierende und teils brutale Praxis einiger Mitgliedsstaaten anpasst; wenn der Flüchtlingsschutz in Europa auch auf dem Papier und nicht mehr nur de facto abgebaut wird? Wie sieht dann die Realität für Flüchtlinge und jene, die ihre Rechte unterstützen, noch aus? Oder wird hier „alles beim Alten“ bleiben, weil das EU-Recht nur derart geschliffen wird, dass es sich der tatsächlich schon gängigen menschenunwürdigen Praxis an den Außengrenzen anpasst?
Die Tatsache, dass das Grundrecht auf Asyl als Individualrecht, das eigentlich den Kern der geltenden Genfer Flüchtlingskonvention ausmacht, derart gestutzt wird, könnte dazu führen, dass Migration als solche in der Praxis endgültig kriminalisiert wird. Das hätte gravierende Folgen sowohl für die Menschen, die auch in Zukunft Schutz suchen müssen sowie für jene, die bereits in Europa leben. Was passiert, wenn strukturell zwischen Herkunftsländern mit „guter und schlechter Bleibeperspektive“ unterschieden wird und nicht mehr länger der Mensch und seine Beweggründe zur Migration im Fokus stehen?
Noch gilt: Jeder Mensch hat das Recht Schutz zu ersuchen und darauf, dass ihr/sein Asylbegehren in einem fairen und rechtsstaatlichen Verfahren geprüft wird. Dieses Recht ist eine zivilisatorische Errungenschaft und nicht zuletzt auch eine historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, als es Millionen Menschen vorenthalten wurde. Das gilt auch für die Wertschätzung, und nicht die Kriminalisierung jener Menschen, die sich für Seenotrettung und würdige Behandlung Geflüchteter einsetzen. Dieses Recht sollte im Zentrum eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems stehen, damit zukünftige Moria Camps tatsächlich verhindert werden können. Dafür setzen sich auch weiterhin Organisationen und Expert*innen hier in Griechenland und in ganz Europa ein. Es bleibt zu hoffen, dass sie in Brüssel Gehör finden.