Rechtsverletzungen - Pestizide in sozial-ökologischen Konflikten

Pestizidatlas

Die starke Konzentration des Landbesitzes in Lateinamerika ist Ursprung einer ganzen Reihe von Umwelt- und Landkonflikten. Brasilien steht im Ranking der tödlichsten Länder für Umwelt- und Landrechtsaktivist*innen an erster Stelle und die vorsätzliche Intoxikation durch Agrargifte wird zunehmend als Strategie zur unrechtmäßigen Aneignung von Land registriert.

Infografik zu Pestiziden und verletzten Rechten in Brasilien
Teaser Bild Untertitel
Erzwungene Pestizidexpositionen verletzen eine Reihe der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und umweltbezogenen Menschenrechte (WSKU-Menschenrechte) der betroffenen Bevölkerung.

Lateinamerika weist weltweit die größte Konzentration von Landbesitz auf und Brasilien ist eines der lateinamerikanischen Länder, in denen der Zugang zu Land am ungerechtesten verteilt ist. Diese Konzentration hat ihren Ursprung in der kolonialen Vergangenheit und wurde in der Geschichte juristisch untermauert und legitimiert. 1850 veränderte das Landgesetz (Lei de Terras) die koloniale Regelung zu Landbesitz und machte es zu einem käuflichen Gut. Durch dieses Gesetz wurden hohe Kosten für den Erwerb von Grundbesitz festgelegt, die den Zugang zu Land für den größten Teil der Bevölkerung unmöglich machten. Hinzu kam noch die gängige Praxis des Landraubs mithilfe von gefälschten Dokumenten (grilagem), häufig zur Aneignung von öffentlichem Land oder Gebieten von traditionellen Völkern. Diese Dynamik setzt sich seit Jahrhunderten ungebrochen fort und hat den heute bekannten, enormen Großgrundbesitz hervorgebracht, auf dem Agrargüter für den Export produziert werden. Gleichzeitig wird das für die kleinbäuerliche Landwirtschaft zur Produktion von Lebensmitteln verfügbare Land seit Jahrzehnten reduziert.

Infografik zu zum Großgrundbesitz in Brasilien
Die Konzentration des Landbesitzes in Lateinamerika ist die ungleichste der Welt. Brasilien gehört zu den lateinamerikanischen Champions der ungleichen Landverteilung.

Der ungleiche Zugang zu Land steht auch hinter der Vielzahl von Landkonflikten in Brasilien. Laut den jährlichen Berichten von Global Witness ist Brasilien das weltweit tödlichste Land für Umwelt- und Landrechtsaktivist*innen. Zwischen 2012 und 2021 wurden mit 342 Fällen fast 20% der weltweiten Morde an Aktivist*innen aus diesem Bereich in Brasilien begangen. Die brasilianische Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra, CPT) hat für 2022 in Brasilien 2.018 Landkonflikte erfasst, die insgesamt 909.450 Menschen betrafen. Von diesen Konflikten sind etwa 1.946, also 96,4%, Fälle von Gewalt gegen die Gemeinschaften und ihre Bewohner*innen, darunter auch 47 Mordfälle. Im Vergleich zu den 36 Morden, die im Jahr 2021 begangen wurden, ist ein Anstieg von 30,56% zu beobachten.

Vor Kurzem begann die CPT, ein neues Element in das Monitoring zur auf dem Land eingesetzten Gewalt einzubeziehen: Den Einsatz von Agrargiften in Landkonflikten. Die Dokumentation zu pestizidverschmutzten Gewässern und Böden sowie die indirekte Verschmutzung durch die beim Ausbringen der Pestizide abdriftenden Substanzen ist bereits gut dokumentiert. Darüber hinaus stellte die Organisation jedoch fest, dass immer mehr in Landkonflikte involvierte Haushalte durch Pestizide kontaminiert wurden. 2022 waren 8.033 Haushalte von dieser Form der Gewalt betroffen und 193 Personen fielen Vergiftungen durch diese Wirkstoffe zum Opfer. Die Organisation registrierte auch Berichte zu Fällen der vorsätzlichen Verschmutzung von Brunnen und Quellen, von Ackerland zum Anbau von Lebensmitteln und sogar von ganzen Haushalten, um die Menschen so von ihrem Land zu vertreiben. Der Einsatz von Pestiziden in Konflikten wurde in allen Regionen und Biomen Brasiliens beobachtet, insbesondere dort, wo es um Territorien von Indigenen oder Quilombola-Gemeinden ging. Die CPT, andere zivilgesellschaftliche Organisationen und einige Medien tauften dieses Phänomen „guerra química“ - „chemischer Krieg“.

Bei einer Operation im Oktober 2023 entdeckte die brasilianische Umweltbehörde IBAMA beispielsweise Eindringlinge innerhalb der Grenzen des indigenen Gebiets Apyterewa und die Entwaldung von 1.125 Hektar Amazonaswald. Die Umweltbehörde geht davon aus, dass das Gebiet per Flugzeug mit Agrargiften besprüht wurde, um die Entwaldung herbeizuführen. Das indigene Gebiet Apyterewa ist seit vier Jahren das am stärksten von Entwaldung betroffene indigene Territorium im Amazonasgebiet.

Infografik zu vorsätzlichen Kontaminierungen mit Pestiziden in Brasilien
Berichte über den Einsatz von Pestiziden in Zusammenhang mit Landvertreibung von Kleinbäuer*innen und –bauern oder traditionellen Völkern nehmen zu. Organisationen, die sich mit Konflikten auf dem Land beschäftigen, sind beunruhigt.

Der Einsatz von Agrargiften in Konflikten ist nicht neu. Ein Teil der Pestizide, zum Beispiel die Gruppe der chemischen Verbindungen aus Organophosphaten, wurde im industriell-militärischen Kontext der beiden Weltkriege entwickelt. Die Perfektionierung der chemischen Wirkstoffe macht den chemischen Krieg zu einer der tödlichsten Arten der Konfrontation. Aus diesem Grund wurde er durch das Genfer Protokoll von 1925 verboten und die Entscheidung seitdem durch zwei weitere internationale Konventionen ergänzt. In der Nachkriegszeit fokussierten sich die Unternehmen auf die Verwendung der Wirkstoffe in der Landwirtschaft. Dennoch deutet eine Anzahl jüngster Fälle darauf hin, dass sie abgesehen von dieser landwirtschaftlichen Nutzung auch unrechtmäßig gegen die im Konflikt stehenden Gemeinden oder Territorien eingesetzt werden.

Zu den wichtigsten Substanzen, die ihren Ursprung in der Kriegsindustrie haben und in den brasilianischen Berichten zu Fällen von vorsätzlicher Verschmutzung im Kontext von Landkonflikten vorkommen, zählen das Agrargift Glyphosat (aus der Gruppe der Organophosphate), was seine Verkaufszahlen auf Rekordniveau hält  (246.000 Tonnen in Brasilien 2020) und das Herbizid 2,4-D (57.000 verkaufte Tonnen 2020), dessen Entwicklung auf das Entlaubungsmittel „Agent Orange“ zurückgeht, das im Vietnamkrieg als Chemiewaffe eingesetzt wurde und dadurch weltweit Bekanntheit erlangte. Damals wurden tausende Liter auf die vietnamesische Bevölkerung versprüht, die bis heute unter den Folgen der krebserregenden Wirkung und anderen auf diese Vergiftung zurückzuführenden Krankheiten leidet. Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) führt 2,4-D in der Liste der für den Menschen möglicherweise karzinogenen Stoffe. Der Kontakt mit diesen Substanzen hat nicht nur Auswirkungen auf die Umwelt, sondern auch gesundheitliche Folgen für die betroffenen Gemeinschaften.

Diese im Rahmen von Landkonflikten erzwungene Pestizidexposition der Bevölkerung ist eine Verletzung ihrer individuellen, kollektiven und diffusen Rechte. Letztere sind Rechte, die ihrem Wesen nach unteilbar sind und eine unbestimmte Anzahl an Menschen betreffen [Anmerk. d. R.]. Die Verschmutzung von Wasser, Böden, Pflanzen und der Luft wird als Strategie eingesetzt, um die Gemeinschaften von ihrem Land zu vertreiben, um sich dieses unrechtmäßig anzueignen. Dies stellt eine Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und umweltbezogenen Menschenrechte (WSKU-Menschenrechte) dar.

 


Der Beitrag erschien zuerst auf Portugiesisch im Pestizidatlas des Brasilienbüros der Heinrich-Böll-Stiftung. Er ist auch auf der Webseite des Büros erschienen. Auf der Büro Webseite finden Sie weitere portugiesischsprachige Beiträge, Graphiken sowie Kurzvideos mit einigen Autor*innen.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Kirsten Grunert.

Redaktion: Julia Ziesche und Bega Tesch.