Ein “Grüner Wiederaufbau” für die Ukraine im Krieg?

Interview

In der Ukraine gibt es längst noch kein konsistentes Verständnis von der Vision einer „Green Recovery“. Ein Interview mit der Umweltpolitik-Expertin Nataliya Andrusevych.

Lesedauer: 8 Minuten
Green Recovery: Grünes Feld

Schon zum Ende 2023 hatte Russland etwa die Hälfte der installierten Energieerzeugungskapazitäten der Ukraine besetzt, beschädigt oder zerstört. Durch die neuerlichen schweren Angriffe Russlands seit März 2024 verlor die Ukraine weitere 8 GW Kapazität. Einige Anlagen, sogar Wasserkraftwerke, wurden vollständig zerstört. In erster Linie braucht es vor allem weitere Luftabwehrsysteme, um zu erhalten, was noch da ist. Aber trotz anhaltender Bedrohungen durch neuen Beschuss müssen auch jetzt schon neue Anlagen errichtet und beschädigte repariert werden. Doch wie sollten hierfür die Prioritäten gesetzt werden?

Viele Expert*innen und NGOs plädieren für eine „Green Recovery“, und auch Vertreter*innen der Regierung verwenden den Begriff. Ein anerkanntes konsistentes Konzept dafür gibt es jedoch noch nicht. Gleichzeitig ist eine Orientierung an den Zielen und rechtlichen Rahmensetzungen des Europäischen Green Deal auch ein notwendiger praktischer Schritt zum Aufbau einer effizienten kohlenstoffarmen Wirtschaft im Kontext des EU-Beitrittsprozesses.

Nataliya Andrusevich Porträt
Nataliya Andrusevych, Umweltpolitik-Expertin

Wo steht die Ukraine bei den Planungen zur Green Recovery? Finden auch Umwelt-und Klimaschutzbelange

 ausreichend Berücksichtigung? Sind die Prozesse transparent und offen für die Zivilgesellschaft? Mit Unterstützung des Ukraine-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung erstellten Expert*innen des „Society and Environment Resource and Analysis Center“ die Studie „Post war green reconstruction: Processes, stakeholders and public participation“. Iryna Kondratenko sprach mit Nataliya Andrusevych, Vorsitzende des Zentrums, über die Ergebnisse der Studie. 

Welche Prozesse für den Wiederaufbau der Ukraine finden auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene statt?

Seit 2023 gibt eine wachsende Zahl von Prozessen und Bemühungen zum Wiederaufbau auf allen Ebenen. Einerseits ist eine große Anzahl von Plänen und Projekten gut. Andererseits gibt es derzeit keine Struktur für die Planung und Umsetzung des Wiederaufbaus nach dem Krieg.

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Im vergangenen Jahr kam die Entwicklung des bis dahin zentralen Nationalen Wiederaufbauplans fast zum Stillstand. Der „Ukraine-Plan“ im Rahmen der Ukraine-Fazilität der Europäischen Union versucht nun, seinen Platz einzunehmen. Es fehlen jedoch strategische Ziele, um Visionen und Aufgaben für die Bewältigung der Folgen der russischen Aggression umfassend definieren zu können.

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Internationale Partner haben vielfach Kooperationen mit lokalen Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammenzuarbeiten, insbesondere um spezifische Wiederaufbauprojekte in lokalen Gemeinschaften umsetzen zu können und deren Kapazitäten zu stärken.

Diese Zusammenarbeit geht einerseits auf die Nachfrage aus den Kommunen selbst zurück, die sich um einen sofortigen Wiederaufbau zerstörter oder beschädigter kritischer Infrastruktur bemühen. Gleichzeitig sind Ergebnisse solcher lokaler Projekte sehr schnell sichtbar. Ein gutes Beispiel für solche Zusammenarbeit sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen Ecoclub und Ecoaction, die Kommunen dabei helfen, Solaranlagen an Schulen, Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen zu installieren.

Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beteiligen sich proaktiv am Wiederaufbau der Ukraine, entwickeln entsprechende Strategien, generieren Expertise, leisten Informations- und Bildungsarbeit, formen Allianzen und setzen spezifische Projekte um. Leider bleiben viele Prozesse auf internationaler Ebene dagegen für die Öffentlichkeit verschlossen. Auf nationaler Ebene bringt sich die Zivilgesellschaft häufig im Rahmen der offiziellen gesetzlich vorgesehenen Diskussionsprozesse ein. Im vergangenen Jahr lag der Schwerpunkt auf der Einbindung der Wirtschaft, die auf internationaler Ebene (Konferenz in London 2023) und im Prozess der Entwicklung des Ukraine-Plans auf nationaler Ebene viel mehr Möglichkeiten hatte, sich Gehör zu verschaffen.

Wiederaufbau = Grün?

Die meisten Strategien und Pläne für den Wiederaufbau, insbesondere auf der lokalen Ebene, beziehen sich auf „grüne“ Konzepte. Dies hängt oft mit den Anforderungen und Prioritäten internationaler Partner zusammen. Sie orientieren auf alternative, dezentrale Energiequellen wie Photovoltaik oder Wärmepumpen oder Daseinsvorsorge wie z.B. Aspekte der Müllabfuhr.

Der Ukraine-Plan enthält ein separates Kapitel zu Umweltschutz und grüner Transformation. In diesem Kapitel werden die Reformen definiert, die im Rahmen der ersten Säule der Ukraine-Fazilität umgesetzt werden sollen, nämlich die Verhinderung industrieller Umweltverschmutzung, die Reform der Klimapolitik, die Einführung von Marktmechanismen für die CO2-Bepreisung, die Wiederherstellung und Erhaltung natürlicher Ressourcen und die Kreislaufwirtschaft.

Zu den strategischen und sektoralen Dokumenten gehören die staatliche Strategie für regionale Entwicklung für 2021–2027, die Strategie für innovative Entwicklung der Ukraine bis 2030 und der Nationale Energie- und Klimaplan (NECP).

Auf Regierungsebene fehlen Umweltthemen in der institutionellen und organisatorischen Struktur für den Wiederaufbau. So gibt es im Umweltministerium beispielsweise keinen stellvertretenden Minister für den Wiederaufbau nach dem Krieg, und das DREAM-System muss erst noch verfeinert werden, um Umweltaspekte des Wiederaufbaus angemessen zu berücksichtigen. DREAM ist eine elektronische Regierungsplattform, die in Echtzeit Daten zu konkreten Wiederaufbauprojekten sammelt, organisiert und veröffentlicht. Sie wurde erstmals auf der Ukraine Recovery Conference in London vorgestellt, und im November 2023 begann der Beta-Test der eingeführten Funktionalitäten. 

Welche Bedeutung hat der Natur- und Umweltschutz in den Plänen für eine „Green Recovery“?

Nahezu alle wichtigen Akteure unterstützen die Priorität eines Grünen Wiederaufbaus. Allerdings gibt es in der Ukraine längst noch kein konsistentes Verständnis davon, was das Konzept des Grünen Wiederaufbaus eigentlich bedeutet.

In der Praxis wird die fehlende ganzheitliche Idee eines Grünen Wiederaufbaus durch spezifische Projekte ersetzt. Insbesondere auf lokaler Ebene beziehen diese sich vor allem auf erneuerbare Energiequellen und grundlegende Umweltschutz-Maßnahmen. Dieser Ansatz fragmentiert und verengt das Verständnis des Grünen Wiederaufbaus auf einzelne grundlegende Managementkomponenten in diesem Bereich. Ein umfassender konsistenter Wiederaufbauplan mit Visionen und Zielen für die Entwicklung nach dem Krieg für schwerlich vermisst.

Obwohl „Green Recovery“ inzwischen ein sehr verbreiteter Begriff ist, nehmen nicht alle internationalen Partner in ihren Programmen darauf Bezug.

Es ist noch zu früh für eine Einschätzung, ob Natur und Umwelt ebenfalls zu einem gewichtigen Bestandteil des Wiederaufbaus werden, neben den Investitionen in Infrastruktur, Gebäude und Unternehmen. Die Natur leidet täglich unter der Aggression Russlands. Gewässerverschmutzung, Waldbrände, Verlust der Artenvielfalt und Bergbau sind nur einige der Herausforderungen, vor denen wir stehen. Daher muss auch die Natur wiederhergestellt werden, und dies sollte bei der Ausarbeitung einer Wiederaufbaustrategie oder eines Wiederaufbauplans oder bei der Planung der Höhe und des Zwecks der zugewiesenen Mittel erhebliche Aufmerksamkeit erhalten.

Wie funktioniert die Beteiligung der Öffentlichkeit an den Wiederaufbauprojekten?

Unseren Einschätzungen zufolge hat es positive Veränderungen in Bezug auf Transparenz und Beteiligung der Interessengruppen bei der Entwicklung und Umsetzung des grünen Wiederaufbaus und der Wiederherstellung der Ukraine gegeben.

Das beste Beispiel für die Beteiligung der Öffentlichkeit im Jahr 2023 war die Diskussion des Entwurfs der Strategie für regionale Entwicklung. Die Behörden machten verschiedene Angebote zur Beteiligung. Insgesamt wurden mehr als 3.000 Vorschläge eingereicht! Wichtig für diesen Erfolg war die proaktive Förderung dieser Öffentlichkeitsbeteiligung durch das Ministerium für den Wiederaufbau. Weitere Positivbeispiele sind auf kommunaler Ebene zu finden. So betrachtet die Wosnessensker Hromada (Gemeinde) in der Oblast Mykolajiw trotz erheblicher Zerstörung der Infrastruktur den grünen Wiederaufbau als ihr strategisches Ziel und ihren unveränderlichen Weg. Sie arbeitet mit Öffentlichkeit und Umweltgruppen zusammen und bezieht verschiedene Geberorganisationen ein. Sie arbeitet nicht nur mit Strategie- und Planungsdokumenten, sondern auch mit praktischen Initiativen, wie der Installation eines Biomasse-Brennstoffkessels, und der Durchführung gemeinsamer Umweltschutz-Aktionen.

Für nationale Behörden und internationale Partner ist solche Beteiligung jedoch noch nicht zur täglichen Praxis geworden. Besonders besorgniserregend ist der überwiegend sehr geschlossene Charakter vieler internationaler Prozesse, einschließlich der Programmentwicklung der Finanzinstitute. Im Jahr 2023 wurden im internationalen Rahmen vorwiegend nur wirtschaftliche Interessengruppen beteiligt.

Unsere Empfehlungen vom letzten Jahr zu Transparenz und öffentlicher Beteiligung an internationalen Prozessen bleiben somit relevant. Die Öffentlichkeit sollte in allen Phasen des Wiederaufbaus beteiligt werden, Prozesse sollten digitalisiert und klare Verfahren für Beteiligung geschaffen werden. 

Was braucht die Ukraine für ein „Build back better“?

Wie schon beschrieben: Es gibt noch keine klare Vision, was ein Grüner Wiederaufbau oder auch ein „Build back better and greener“ eigentlich bedeutet. Diese Debatte fand bis heute nicht in strukturierter Weise statt. 

Wir haben eine Reihe systemischer Empfehlungen entwickelt, um „build back better and greener“ in die Praxis umzusetzen.

Ein wichtiges Prinzip und Grundlage partizipativer Demokratie ist die Transparenz, die insbesondere auch durch Digitalisierung erreicht werden kann. Dies erfordert auch eine Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den wichtigsten nationalen und internationalen Stakeholdern und der Zivilgesellschaft der Ukraine.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt erfordert einen gesonderten Schwerpunkt. Wie zu Beginn der vollumfänglichen Invasion braucht es eine Konsolidierung der Bemühungen aller Beteiligten hinter der Idee eines Wiederaufbaukonzepts. Wir betrachten dies als eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg des Wiederaufbaus im und nach dem Krieg. Möglichst viele Beteiligte müssen durch Transparenz und Rechenschaftspflicht wirksam Vertrauen in die Wiederaufbaumaßnahmen herstellen. 

Schließlich ist auch der Beitrittsprozess zur Europäischen Union (EU) mit seinen Anforderungen zur Anpassung an Umwelt- und Klimaschutznormen ein maßgeblicher Faktor für den Maßstab an die Realisierung eines „build back better and greener“. 

Die Ukraine steht vor der komplexen Herausforderung, gleichzeitig zu kämpfen, wieder aufzubauen und sich der EU anzunähern. Diese drei Prozesse haben jedoch ein gemeinsames Ziel: ein unabhängiges, modernes Land, das in die klimaneutrale europäische Wirtschaft integriert ist.

Das Interview führte Iryna Kondratenko, Programmkoordinatorin Energie und Klima im Kyjiwer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.


Redigierte und leicht gekürzte maschinelle Übersetzung von Robert Sperfeld. Ukrainischsprachiges Original https://ua.boell.org/uk/2024/06/06/yakym-mozhe-ta-maye-buty-zelene-vidnovlennya-pid-chas-viyny