„Politik muss besser erklärt werden“

Interview

Mit dem Kommunalpolitiker Andreas Hollstein sprach die Journalistin Laura E. Ewert

Lesedauer: 6 Minuten

Bild von Andreas Hollstein, er redet mit jemandem

Andreas Hollstein, 61, CDU, war bis 2020 Bürgermeister von Altena in Nordrhein-Westfalen und hat einen Messerangriff überlebt.

Heinrich-Böll-Stiftung: Was braucht man für Eigenschaften als Kommunalpolitiker?

Andreas Hollstein: Zuhören können, Menschen zugewandt sein, empathisch sein. Daneben braucht man aber auch Zähheit und Durchsetzungsfähigkeit.

Was war bei Ihnen der auslösende Moment, in die Politik zu gehen?

In die Kommunalpolitik eingestiegen bin ich, weil man mich angesprochen hatte. Ich war passiv in der CDU und hatte ehrenamtlich einen lokalen Sportverein gemanagt und Jura studiert. Und das passte wohl ganz gut. So haben sie mich gefragt, ob ich nicht im Sportausschuss mitarbeiten wolle. Das interessierte mich, nicht nur darüber meckern, sondern auch mit anpacken. Ich war auch schon Schülersprecher. Bei mir ist die Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen von Anfang an da gewesen. 

Sie waren 21 Jahre Bürgermeister.

Ich bin 1994 ehrenamtlich stellvertretender Bürgermeister geworden,1999 dann erster hauptamtlicher Bürgermeister und bin dann 2004, 2009, 2014 wiedergewählt worden.

Was sind Ihre großen Anliegen gewesen?

Bürgerschaftliches Engagement größer schreiben. Menschen mehr mitnehmen, soweit sie sich mitnehmen lassen. Man kann große Themen kommunal bearbeiten. Ob das Klimawandel, Demografie, Stadtumbau oder Integration sind.

Was ist Ihre bisher größte Leistung in der Kommunalpolitik?

Das war hier in Altena, die Strukturen zu stabilisieren, den Stadtumbau voranzutreiben. Wir hatten eine mittelständische Industrie, hatten aber auch mit vielen Ladenschließungen zu tun. Wir haben dann etwa mit einem Erlebnisaufzug zur Burg Altena die Region attraktiver gemacht. Aber auch die Moderation von bürgerschaftlichem Engagement zur Integration von Menschen, die zu uns gekommen sind, ist ein großer Erfolg. Für die Flüchtlingsintegration sind wir dann auch ausgezeichnet worden mit dem Integrationspreis der Bundeskanzlerin.

Wie hat sich sie Stimmung bei den Menschen verändert? 

Früher gab es Tageszeitungen, die lokal verwurzelt waren. Da wurden Leserbriefe geschrieben und Leute haben ihren Namen daruntergesetzt. Sicherlich gab es dort auch emotionale Darstellungen, aber mit denen konnte man leben, weil dahinter jemand stand, mit seinem Namen und seinem Gesicht. Seit Ende der 2000er Jahre kamen dann Anfeindungen auch schon mal mit anonymen Briefen ins Rathaus. Mit den populärer werdenden sozialen Medien gab es auch beleidigende Kommentare in Diskussionsgruppen. Eine Meldepflicht der Plattformbetreiber halte ich deswegen für absolut richtig. Wenn jemand beschimpft wird oder eine Straftat verwirklicht sein könnte, finde ich es gut, wenn Betreiber einer Plattform dazu verpflichtet werden, das zu löschen. Wir reden nicht über politische Meinungsäußerungen, sachlich vorgetragen, sondern über Hass oder Bedrohungen.

Und die stiegen mit Ihrem Engagement in der Integration?

2016 haben wir 100 Flüchtlinge mehr aufgenommen als wir nach Quote aufnehmen mussten. Durch die demografischen Verluste hatten wir Wohnraum. Das waren optimale Bedingungen. Und dann haben wir uns gesagt, wenn alle jammern, können wir vielleicht einen kleinen Beitrag leisten, Vorbild sein. Wir haben sehr früh mit ehrenamtlichen Paten, bei uns hießen die Kümmerer, gearbeitet. Wir hatten 150 bis 200 Ehrenamtliche, die jeweils für einen Menschen ansprechbar waren. Zeitgleich gab es eine deutliche Zunahme von Drohungen. 

Haben Sie Beispiele?

Anonyme Briefe, in denen mir jemand Krebs an den Hals wünscht. Es gab Drohungen gegen meine damals noch schulpflichtigen Kinder. „Wir wissen, wo du wohnst.“ Dann ging es los mit nächtlichen Anrufen. Wenn ich im Fernsehen aufgetreten bin, gab es bis zu 400 Hass-Kommentare im Netz zu der Sendung, die weit über das Erlaubte gingen. 

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe recht spät angefangen, das zu sammeln und dagegen vorzugehen. Aber habe mir irgendwann gesagt, ich muss darüber sprechen, das öffentlich machen und anzeigen. Ich habe es ab 2015 konsequenterweise immer gemeldet und gesichert. Aber 2017, zum Integrationspreis, gab es dann noch mal einen Höhepunkt. In dem Jahr bin ich dann auch angegriffen worden. 

Was ist passiert?

Ich bin am 26. November 2017 nach der Hauptausschuss-Sitzung um 20:30 Uhr zum Imbiss meines Vertrauens gegangen und habe den türkischen Inhaber um Döner für mich und für meine Frau gebeten. Und dann stand plötzlich jemand hinter mir, hatte ein Messer in der Hand, hat geschrien: „Ich stech’ dich ab! Du lässt mich verdursten und holst die Ausländer nach Altena!“ Das Messer war an meiner Kehle. Der Imbissbesitzer hat auf den Mann eingeredet. Der ließ nicht ab, wurde immer lauter und dann habe ich irgendwann den Arm des Angreifers gepackt und auch Blut gespürt, nur wenige Millimeter tiefer und das wäre es gewesen. Die beiden Imbissbesitzer haben mir das Leben gerettet, der Ahmed und sein Vater. Die mediale Wirkung darauf war recht groß. Meine Rats-Damen und -Herren haben am nächsten Tag eine Demo organisiert. Ich halte es für wichtig, dass man Solidarität erfährt. Henriette Reker, die Oberbürgermeisterin von Köln, rief an, die ja viel Schlimmeres durchgemacht hat. Auch Ministerpräsident Laschet und Bundeskanzlerin Merkel meldeten sich.

Wie sind Sie mit dem Angriff umgegangen?

Es waren schwierige Zeiten. Und ich zucke bis heute jedes Mal zusammen, wenn ich in den Medien von weiteren Fällen höre. Doch ich habe immer gesagt, davon lasse ich mich nicht kleinkriegen. Das ist kein Grund, dieses wunderbare Amt abzugeben.

Geben Sie Ihre Erfahrungen weiter? 

Ich werde immer wieder von Menschen aus der Kommunalpolitik angesprochen, denn es ist eine sehr persönliche Angelegenheit, wenn man von Gewalt betroffen ist – ob man nun seine Form von Sexualität lebt und deswegen angefeindet wird, oder wegen einer Haltung zu Migration. Das Problem bei Kolleginnen und Kollegen ist, dass sie meist keine Mitarbeiter haben, die diese Hassnachrichten herausfiltern. Die müssen den Dreck lesen, um einordnen zu können, was man damit macht. Vor dem bayerischen Gemeindetag habe ich vor Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern zu dem Thema gesprochen. Auf Einladung vom Bundespräsidenten habe ich mit Autoren wie Salman Rushdie ein Buch zum Thema Demokratie verfasst. Die Erfahrungen weiterzugeben halte ich für wichtig, um als kleines Zahnrad dazu beizutragen, dass junge Politikerinnen und Politiker Lust auf die Aufgabe bekommen und etwas Positives bewirken. 

Und die Vernetzung ist vermutlich wichtig?

Und nicht nur mit Politikern. Wir haben ein gesellschaftliches Problem, das sich im Hass gegen Staatsbedienstete zeigt. Ob Ordnungsamt oder Feuerwehr – das ist brandgefährlich.

Wie erklären Sie sich das?

Wenn Parteien, die faschistoide Tendenzen haben, in einigen Kommunen 35 Prozent der Stimmen kriegen, finde ich das sehr bedenklich. Es ist aber vielleicht auch eine Tatsache, dass wir nicht genug getan haben. Demokratie heißt schlimmstenfalls zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Teil der Menschen wieder autoritäre Strukturen haben will. Man muss also früher ansetzen, bessere und ausgewogenere Politik machen. Der Bürger nimmt häufig nur wahr, dass Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Politiker sind zu weit weg, die Bürgerschaft kennt die Menschen gar nicht, die einen da vertreten. Und alles, was im Bund falsch läuft, wird auf die lokale Ebene projiziert. Bei den Themen Integration ist das extrem gewesen. Bei dem Thema Corona auch und mittlerweile ist es fast bei jedem Thema so. Ob es nun das Heizungsgesetz ist oder was auch immer. Und dazu kommt, dass Menschen gerade merken, dass wir hier nicht auf der Insel der Glückseligkeit leben, dass es Krieg in Europa gibt und wir höhere Energiepreise haben als andere Länder. Politik muss insgesamt besser erklärt werden. Und wir brauchen dafür mehr Integrationsfiguren.