Welche Rolle spielt das kollektive Gedächtnis in einem Land wie Guatemala, das von Kolonialismus, Kapitalismus und Neoliberalismus extrem geprägt ist? Die erste lesbische und feministische Abgeordnete des Landes, Sandra Morán, sieht darin einen Schlüssel zum kritischen Verständnis der Vergangenheit – und einen Weg in eine bessere Zukunft.
Vorbemerkung: Der spanische Text dieses Beitrags ist poetisch. Die Autorin ist die erste lesbische und feministische Abgeordnete Guatemalas. Sie hat den Aufbau von sozialen Organisationen für einen plurinationalen Staat (d.h. die politische und rechtliche Anerkennung des multiethnischen Charakters eines Landes) stets gefördert. Der besondere Sprachstil des spanischen Textes lässt sich nur schwer in der deutschen Sprache abbilden.
Das „kollektive Gedächtnis“ ist ein historiografisches Konzept, das auf den französischen Historiker Pierre Nora zurückgeht. Die Auseinandersetzung mit der realen oder imaginären Vergangenheit wird bewusst gesucht, gewürdigt und ihr mit Respekt begegnet.
Wir leben unter den Bedingungen des Patriarchats, des Kolonialismus und des neoliberalen Kapitalismus. In dieser hegemonialen Geschichtsschreibung kommen wir Völker und Frauen nicht vor.
Wir, die Maya-, Xinca-, Garífuna-Frauen und Mestizinnen, organisieren uns als politische Subjekte und kämpfen um Macht und Verständnis auf sechs Gebieten: Körper, Land, Natur, Erinnerung, Geschichte und Staat.
Seit 1954, als die Vereinigten Staaten in Guatemala einmarschierten, um eine demokratische Regierung zu stürzen, wird Aufstandsbekämpfung als Regierungs- und Organisationsform des Landes zur Wahrung der nationalen Sicherheit etabliert. Das Leben in Guatemala wurde seitdem zunehmend militarisiert und indigene Völker, Studierende, Schülerinnen und Schüler, Gewerkschaftsmitglieder, Bäuerinnen und Bauern, Landbewohner*innen und Christ*innen aus Basisgemeinden zum inneren Feind erklärt. Aus dieser Sicht muss ein Feind ausgerottet, unterdrückt, kontrolliert und aus der Geschichte getilgt werden. Ein Feind darf seine Geschichte nie aufarbeiten, weil sie wie ein Samenkorn ist, das wieder sprießen könnte.
Wir Frauen und Völker haben seit der Kolonialzeit auf vielfältige Weise Formen würdevollen Widerstands entwickelt. Der 200-jährige Widerstand gegen Verfolgung, Völkermord und die Politik der Latinisierung der Maya-, Xinca- und Garifuna-Frauen dauert bis heute an. Wir setzen uns unter anderem für unser Wahlrecht und damit für den Aufbau unseres Landes ein, um uns in all unserer Vielfalt repräsentiert zu fühlen. Der „Pakt der Korrupten“ – im historischen Bündnis mit kriminellen Drogenbanden, der Pfingstkirche und korrupten Politikern – sieht uns Frauen als innere Feinde. Wir werden kriminalisiert, verfolgt, gefangen genommen und ins Exil getrieben. Sie wollen nicht, dass wir Frauen unsere Macht, unsere Geschichte und die Wahrung unserer Rechte anerkennen.
Aus feministischer Sicht ist es für uns fundamental, uns sichtbar und historisch greifbar zu machen, indem wir die Unsichtbarkeit, die Gewalterfahrungen und die Anstrengungen teilen, die wir insbesondere seit den 1980er Jahren während des Bürgerkriegs, dann im Zuge des Friedensabkommens und der Unterzeichnung 1996 erfahren haben.
Ein Beispiel ist der indigene Witwen- und Frauenverband CONAVIGUA, der 1984 – während der Militärherrschaft von Óscar Humberto Mejía Víctores – auf die Straße ging und damit an die Proteste von Frauen, Studierenden und Gewerkschaften im Zuge der Revolution 1944 anknüpfte. Diese mittellosen Maya-Frauen hatten Massaker, Entführungen und fortwährende Übergriffe durch Armee, Polizei und paramilitärische Gruppen überlebt und engagierten sich zusammen mit der Grupo de Apoyo Mutuo („Gruppe für gegenseitige Hilfe“) und der Gruppe „Frauen auf der Suche nach den Verschwundenen für die Verschwundenen.“
Rückkehr aus dem Exil
Die Rückkehr von Mestizinnen, die in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts nach Jahren des Exils wieder als Feministinnen nach Guatemala kamen, ebnete den Weg für feministische Kämpfe und Entwürfe gegen die Gewalt gegen Frauen. Ziel war, die Anerkennung der Gewalt auch als soziales, kulturelles und politisches Problem umzusetzen und in den Friedensprozess zu integrieren. Dafür schlossen sich die Frauen in Gruppen, Organisationen, Komitees und Bündnissen zusammen.
Die Töchter und Söhne der Entführten/Verschwundenen und eine Vielzahl an Menschen aus verschiedenen Generationen und Organisationsformen trugen in ihrer Vielfalt zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung und zur Aufarbeitung der Geschichte der revolutionären Frauen und Männer bei, die in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren entführt worden waren.
In Guatemala gibt es noch kein Gesetz über Quoten in der politischen Mitbestimmung, und seit mehr als 12 Jahren kämpfen wir für Parität. Der Frauenanteil im Kongress lag zu Spitzenzeiten bei allenfalls 19 %. Im derzeitigen Kongress haben wir 31 weibliche Abgeordnete, unter ihnen aber nur eine Maya-Frau. Die amtierende Regierung von Bernardo Arévalo war die erste, die ein paritätisch besetztes Kabinett vorschlug – ein Vorstoß, der in gerade einmal sieben Monaten Regierungszeit durch Rücktritte und Kabinettsumbildungen verwässert wurde. Wir stellen 54 % der Wähler*innenschaft. Die Maya-Bevölkerung hat einen Anteil von 43 % an der Gesamtbevölkerung. Dennoch muss für die Präsenz von Frauen in Entscheidungsprozessen immer noch gekämpft werden.
Gerechtigkeit für die Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen
Uns ist es wichtig als politische Subjekte anerkannt zu werden und wir setzen uns für eine Wiedergutmachungs- und plurinationale Gerechtigkeit ein. In diesem Zuge fordern Gemeinschaften und Organisationen angesichts der schweren Massaker und der verbreiteten sexuellen Gewalt während des Krieges und des inneren bewaffneten Konflikts Gerechtigkeit ein. Frauen und Männer, die die Massaker überlebt hatten, konnten sich in der ihr eigenen Weise und in ihrer Sprache vor Gericht Gehör verschaffen. Dies war ein historischer und wichtiger Moment für das Land. Er ist zurückzuführen auf das gute Zusammenwirken von Menschenrechtsorganisationen, Frauen, mutigen Richter*innen und einer Generalstaatsanwaltschaft, die entschlossen war, die Gerechtigkeit voranzubringen mit den Überlebenden, die beschlossen hatten, ihre Geschichte zu erzählen, damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt.
Verschiedene erfolgreiche Gerichtsverfahren beschreiben den Terror und den Überlebenskampf der guatemaltekischen Frauen: im Fall Sepur Zarco wurde die Gewalt und die sexuelle Versklavung der Kekchi-Maya-Frauen anerkannt, im Fall zum Ixil-Genozid wurde der Völkermord am Volk der Ixil anerkannt und im Fall Molina Theissen wurde die Entführung, das Verschwindenlassen und die sexuelle Gewalt an Kindern als Mittel der Aufstandsbekämpfung bestätigt. Der Völkermord Fall an den Maya-Cakchiquel ist noch nicht abgeschlossen. Zur Präsidentschaftskandidatur des Völkermörders Efraín Ríos Montt in den 1990er Jahren wurde eine Kampagne mit dem Titel „No más ríos de sangre“ („Kein weiteres Blutvergießen“) organisiert, um in diesem Zusammenhang stehende Wahlentscheidungen mit dem kollektiven Gedächtnis hinsichtlich der Person Efraín Ríos Montt zu verknüpfen.
Die sexuelle Gewalt, der Missbrauch an Frauen und die Kontrolle über ihre Körper um den Widerstand gegen die Spanier zu brechen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte, auch 500 Jahre nach der Gründung der ersten Städte in diesem einst „Iximulew“ genannten Gebiet. Frauen spielen eine bedeutsame Rolle in der Weltanschauung der Maya-, Xinca- und Garífuna Völker und im Erhalt ihrer Kultur und ihres politischen Kampfes.
Die Xinca- und Garífuna-Frauen, die Bewegung für sexuelle Vielfalt
Die Frauen des Xinca-Volkes leben den Gemeindefeminismus („feminismo comunitario“) und machen auf Entführungen und sexuelle Gewalt gegen Mädchen aufmerksam. In den Gemeinden herrschen weiterhin machistische Verhaltensweisen, extreme Armut und Rassismus – die Frauen erkennen dies und sprechen es immer wieder an. Die Frauen verteidigen die Verflechtung von Körper und Natur („territorio cuerpo-tierra“), die Wiederbelebung ihrer Sprache, ihrer Weltanschauung, ihrer Kultur und ihrer Kulturpflanzen. Dies ist Teil der Wiedergewinnung des kollektiven Gedächtnisses des Volkes und ein Beitrag des Gemeindefeminismus zum guatemaltekischen Feminismus „von unten“.
Das Volk der Garífuna lebt von Fischfang, die Frauen haben in der Organisation und Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens immer eine Rolle gespielt und das soll wiederbelebt werden. Die Frauen sind Hüterinnen der Spiritualität, der Sprache, der Lieder und Tänze der Garífuna. Die Garífuna orientieren sich an der Karibikküste an anderen afrodezedenten Völkern, und ihre Frauen wirken am Kampf zur erneuten Anerkennung des Garífuna-Volkes in Guatemala mit. Sie leisten so einen Beitrag zum schwarzen Feminismus. Sie beteiligen sich seit der Aushandlung der Friedensverträge am Kampf für die Anerkennung ihrer afrodezedenten Existenz in dem Gebiet. Das ist unser kollektives Gedächtnis, das wir pflegen und aufarbeiten.
Die Bewegung für sexuelle Vielfalt wiederum hat Archivmaterial der Policía Nacional Civil ausgewertet und sich dafür eingesetzt, das die Beteiligung von Menschen verschiedener sexueller Orientierungen an den verschiedenen Kämpfen der Völker historisch aufgearbeitet wird.
Jeder Teil der Gesellschaft hat mit verschiedenen Maßnahmen zur Aufarbeitung seiner Geschichte und zur Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses beigetragen. Schüler*innen und Studierende veröffentlichten Bücher und schufen Gedenkstätten. Gewerkschaftsmitglieder, LGBTQI+ Personen, Binnenvertriebene, die sich für Wohnraum und Land in den städtischen Gebieten einsetzten und Heimkehrende, die die Geschichte der Flucht, des Widerstands und der Rückkehr in die Heimat aufgriffen, erzählten ihre Geschichte. Erinnert wird dabei an die Organisation, die Kämpfe und den Widerstand wie z. B. in den Büchern des guatemaltekischen Anthropologen und Priesters Ricardo Falla. Die feministische Vereinigung „La Cuerda“ trug Bücher zur Geschichte der Frauen in den letzten 25 Jahren zusammen.
Bücher gibt es über die Beteiligung von Frauen an Politik und Revolutionen, über Kommunistinnen sowie über die Geschichte des Widerstands von Frauen und Männern der einzelnen Völker. Diese Geschichten werden erst nach und nach geschrieben, wie z.B. die Publikationen „Guatemala: Nunca Más“ („Guatemala: Nie wieder“) und „Masacres de la Selva“ („Massaker im Urwald“), in denen neben den betroffenen Gemeinden auch die kirchlichen Basisgemeinden und Vertreter der katholischen Kirche vorkommen.
Kunst und Musik haben eine wichtige Rolle bei der Bewahrung dieses kollektiven Gedächtnisses gespielt, darunter fallen die Gedichte von Humberto Ak'abal, Otto René Castillo, Julia Esquivel, Luis de Lión, die revolutionäre Musik der Gruppen Katinamit und Kin-Lalat, die nationale Rockband Alux Nahual, das Genre des politischen Liedes von Armando Pineda, die eher aktuelle Musik von Sara Curruchich und Rebeca Lane, oder die Malerei der Bewohner*innen von Comalapa. Auch die Wandmalereibewegung unter den Jugendlichen und die Filmschaffenden sind Beispiele für diese Entwicklung, die dazu beiträgt, das kollektive Gedächtnis im Land wachzuhalten.
Sowohl bei den Protesten im Jahr 2015 als auch bei dem würdevollen 106-tägigen Protest vor der Staatsanwaltschaft zur Verteidigung der Demokratie in 2023 kam zum Ausdruck, wie die Aktualität mit den Gedichten von Otto René Castillo und Julia Esquivel („Florecerás Guatemala“) verwoben ist, mit Fotos von Helden und Märtyrern aus verschiedenen geschichtlichen Epochen. Dies und die anwesenden indigenen Anführer*innen zeigen uns, dass unsere Kämpfe das Ergebnis der im Laufe der Geschichte gesammelten Beispiele des würdevollen Widerstands von Frauen und Männern der vier Völker von Iximulew sind. Dies hilft uns mit den Organisationen Consejo de Pueblos de Occidente, Waquib'kej, CODECA und Mujeres con Poder Constituyente gemeinsam den Aufbau eines Plurinationalen Staates anzustreben.
Nicht zuletzt bemüht sich auch die amtierende Regierung um die Würdigung des kollektiven Gedächtnisses. So z.B. mit der Förderung von Museen für die Geschichte und zur Erinnerung an gesellschaftliche Gruppen, Völker und Einzelpersonen aus verschiedenen historischen Phasen des Landes, insbesondere der Phase des bewaffneten Konflikts, des Friedensprozesses und des Aufbaus der Demokratie.
Der Weg steht uns offen und wir werden ihn weiter beschreiten...