Die unsichtbare Revolution: Ernährungssouveränität in Palästina

Hintergrund

Mit dem Streben nach Ernährungssouveränität wollen die Menschen in Palästina selbstbestimmt bleiben und fordern Gerechtigkeit. Agrarökologie bildet die Grundlage und bedeutet, lokale natürliche Ressourcen zu kontrollieren, um die Selbstversorgung zu sichern. Inmitten großer Herausforderungen und anhaltender humanitärer Krisen erobern palästinensische Landwirt*innen Land zurück und bewahren traditionelle landwirtschaftliche Praktiken, indem sie ihre Verbundenheit mit dem Land bekräftigen – und ihr Recht, über die eigenen Nahrungsmittel zu bestimmen und sie zu produzieren.

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Photo: A cityscape with multiple residential buildings along a hill and a road. Green hills and trees in the background.

Der Film The Untold Revolution dokumentiert die Entstehung einer landwirtschaftlichen Bewegung in Palästina, die sich für Ernährungssouveränität einsetzt und die Abhängigkeit von Importen und global tätigen, oligopolistischen Konzernen zu beenden. Diese Bewegung setzt sich für eine Lebensmittelerzeugung ein, die sich auf natürliche Ressourcen, lokale Inputs, genossenschaftliche Werte und auf den palästinensischen Kontext zugeschnittene landwirtschaftliche Praktiken stützen. Mit der Betonung der Eigenständigkeit sollen ausbeuterische Systeme in Frage gestellt und die Solidarität der Gemeinschaft gestärkt werden. Im Vordergrund stehen dabei lokales Wissen und umweltfreundliche Methoden, die den Erhalt des Bodens für künftige Generationen gewährleisten.

Agrarökologie als Weg in die Zukunft

Agrarökologische Praktiken haben sich in Palästina zu einem wichtigen Ansatz entwickelt, der Nachhaltigkeit und Selbstversorgung fördert. Laut Saad Dagher, einem palästinensischen Landwirt und prominenten Verfechter der Agrarökologie, gewinnen die Menschen mit diesen Anbaumethoden die Kontrolle über wichtige Ressourcen wie Land, Wasser und Saatgut zurück und verringern die Abhängigkeit von importiertem Saatgut und Chemikalien, während sie gleichzeitig den Erhalt der natürlichen Ressourcen sicherstellen. So hat zum Beispiel traditionelles Saatgut, das in lokalen Saatgutbanken aufbewahrt wird, bei Landwirt*innen, die ökologisch und finanziell nachhaltig wirtschaften wollen, an Bedeutung gewonnen. "Jeder Landwirt, der zu einer nachhaltigen Landwirtschaft übergeht, beginnt, neue Aspekte an sich selbst zu entdecken“, erklärt Dagher. „Deshalb nennen wir die nachhaltige Landwirtschaft den Prozess des 'bewussten Fließens'. Wir streben mit dieser Methode Ernährungssouveränität an, denn letztlich ist es unser Ziel, auf freiem und unabhängigem Weg Lebensmittel zu produzieren. Ernährungssouveränität bedeutet, das Recht zu haben, die Lebensmittel zu produzieren, die man braucht, und nicht nur die Möglichkeit zu haben, sie zu kaufen."

Ernährungssouveränität bedeutet, das Recht zu haben, die Lebensmittel zu produzieren, die man braucht, und nicht nur die Möglichkeit zu haben, sie zu kaufen.

Bäuerinnen wie Iman Turkman aus Al-Nasariyah im zentralen Jordantal, können inspirierende Geschichten des Wandels erzählen. Turkman, die als "Tochter des Berges" bekannt ist, gab ihren Job als Lehrerin auf, um einen agrarökologischen Betrieb zu gründen, der ihre Familie durch den Anbau von 40 verschiedenen Feldfrüchten auf 12 Dunum (etwa 1,2 Hektar) ernährt. Sie gründete eine Kooperative und stellte von konventioneller Monokultur auf agrarökologische Landwirtschaft um, frei von Pestiziden und chemischen Düngemitteln, die sie früher mit Schulden und Abhängigkeit von Konzernen belastet hatten. Sie erklärt: "Jetzt kann ich mich selbst versorgen und, was am wichtigsten ist, ich bin frei. Ich baue an, was ich will, und niemand zwingt mich zum Einsatz von Pestiziden. Ich habe das Vertrauen zurückgewonnen, das ich auf meiner Reise lange verloren hatte."

Die drohende Hungersnot inmitten der Zerstörung 

Seit der Veröffentlichung des Dokumentarfilms im Jahr 2021 ist das Streben nach Ernährungssouveränität in Palästina immer wichtiger geworden. Die Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur hat den palästinensischen Landwirt*innen einen schweren Schlag versetzt und die Dringlichkeit noch verstärkt, die Kontrolle über ihr Land und ihre Ressourcen zurückzuerlangen. Einem Bericht des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) vom Oktober 2024 zufolge, wird vielen Landwirt*innen im Westjordanland der Zugang zu ihren landwirtschaftlichen Flächen verwehrt. Rund 150 Gemeinden, deren Ländereien durch die Sperranlage isoliert sind und zuvor durch 69 von den israelischen Streitkräften kontrollierte landwirtschaftliche Tore zugänglich waren, sind seit Oktober 2023 weitgehend daran gehindert, ihr Land zu bearbeiten. Dies hat zu erheblichen Einkommensverlusten geführt, insbesondere bei Olivenhainen und anderen saisonalen Kulturen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf landwirtschaftlich geprägte Gemeinden wie Deir al-Ghusoun werden aufgrund des eingeschränkten Landzugangs auf jährlich 1,4 Millionen US-Dollar geschätzt. Darüber hinaus verschärft die Zerstörung von Olivenhainen, einer lebenswichtigen kulturellen und wirtschaftlichen Ressource, die Ernährungsunsicherheit und die wirtschaftliche Notlage. In der Olivenerntesaison 2023 konnten über 96.000 Dunum (9.600 Hektar) Olivenanbaufläche im Westjordanland nicht abgeerntet werden, da 40 Prozent der palästinensischen Bäuerinnen und Bauern während der Olivensaison keinen Zugang zu ihrem Land hatten. Dies führte zu Verlusten in Höhe von rund 25 Millionen Dollar.

Im Gazastreifen ist die Lage noch schlimmer. Ein Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und des Welternährungsprogramms (WFP) vom Juni 2024 über die Hunger-Hotspots unterstreicht die katastrophale humanitäre Krise: Mehr als eine Million Menschen im Gazastreifen sind aufgrund der Blockade der Nahrungsmittelhilfe und systematischer Angriffe auf die Infrastruktur von Tod und Hunger bedroht. Die Zerstörung von Anbauflächen, Gewächshäusern und Brunnen hat Landwirtschaft in vielen Gebieten unmöglich gemacht. Einem von der FAO veröffentlichten Bericht zufolge waren beispielsweise bis September 2024 68 Prozent der Anbauflächen im Gazastreifen beschädigt, was einem Verlust von insgesamt 15.053 Hektar entspricht.

Im Rahmen der im März 2024 gestarteten Initiative haben 422 Landwirt*innen im gesamten Gazastreifen 90,3 Hektar mit verschiedenen Kulturen neu bepflanzt.

Dieser Kampf wird durch die israelischen Einfuhrbeschränkungen für Obst und Gemüse auf die Märkte im Norden des Gazastreifens noch verstärkt. Trotz der Knappheit an sauberem Wasser, verseuchten Böden und zerstörtem Ackerland inmitten der Belagerung und der unerbittlichen Gewalt, haben sich lokale Initiativen wie Revive Gaza's Farmland als essentielle Lebensadern für die Produktion von frischem Obst und Gemüse erwiesen. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Zivilbevölkerung auf Lebensmittelkonserven aus der ohnehin begrenzten humanitären Hilfe angewiesen sind, sind solche Bemühungen unerlässlich. Im Rahmen der im März 2024 gestarteten Initiative haben 422 Landwirt*innen im gesamten Gazastreifen 90,3 Hektar mit verschiedenen Kulturen neu bepflanzt.

Diese Bemühungen sind Teil eines umfassenderen Kampfes für Ernährungssouveränität, da lokale Gemeinschaften daran arbeiten, die Kontrolle über ihre Nahrungsmittelsysteme zurückzuerlangen, sich gegen die Abhängigkeit von außen zu wehren und ihr Recht einzufordern, das zu produzieren, was sie zum Überleben brauchen. Trotz überwältigender Herausforderungen verkörpern Bauern wie Yousef Abu Rabee, der im Oktober 2024 auf tragische Weise ums Leben kam, die Kraft und Entschlossenheit, ihr Land zurückzuerobern, die landwirtschaftlichen Ressourcen zu schützen und die Menschen im nördlichen Gazastreifen mit frischen Produkten zu versorgen.

Aufgrund der Belagerung des nördlichen Gazastreifens, die im Oktober 2024 begonnen und die ohnehin schon katastrophale humanitäre Lage noch verschlimmert hat, warnte das IPC-Analyseteam davor, dass im nördlichen Teil des Gazastreifens (Gouvernements Gaza und Nord-Gaza) eine Hungersnot (IPC-Phase 5) droht. Die Ernährungskrise hat sich aufgrund der strengen Beschränkungen für humanitäre und kommerzielle Nahrungsmittellieferungen dramatisch verschärft. Aufgrund der nahezu vollständigen Blockade haben Zehntausende keinen Zugang zu angemessener Nahrung oder Gesundheitsdiensten. Die verbleibende Zivilbevölkerung ist mit extremem Hunger, Unterernährung und einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko konfrontiert, wobei die akute Ernährungsunsicherheit inzwischen ein katastrophales Ausmaß erreicht hat.

Am Sonntag, den 19. Januar 2025, trat die vorübergehende Waffenruhe in Kraft. Nach Angaben der WHO-Vertreterin in der Region dürfte die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen in den folgenden Wochen voraussichtlich erheblich zunehmen; es ist geplant, täglich bis zu 600 Lastwagen mit Nahrungsmitteln, Zelten, medizinischen Hilfsgütern und Treibstoff zu liefern. Dies ist jedoch erst der Anfang in einer langen Reihe von Bemühungen, die darauf abzielen, den enormen humanitären Bedarf zu decken und die Situation zumindest vorübergehend zu verbessern.

Globaler Aufruf zum Handeln

Abu Rabees Engagement, sein Land neu zu bepflanzen und die Ressourcen mit anderen Landwirt*innen zu teilen, verkörpert die Kernprinzipien der Ernährungssouveränität und unterstreicht die Bedeutung der lokalen Kontrolle über die Nahrungsmittelerzeugung angesichts der systemischen Ungerechtigkeit. Seine Worte sind eindrücklich: "Wir warten nicht auf Hilfe und Demütigung." 

Die Bemühungen um Ernährungssouveränität müssen sich mit systemischen Herausforderungen befassen und sicherstellen, dass palästinensische Landwirt*innen Zugang zu Land, Wasser und Märkten haben. Ein weltweiter Einsatz für ein Abkommen zum Verbot von Hunger als Kriegswaffe ist unerlässlich. Solche Maßnahmen würden die Rechenschaftspflicht, die Entmilitarisierung von landwirtschaftlichen Zonen und die Unterstützung nachhaltiger Ernährungssysteme beinhalten. Darüber hinaus ist die UN-Resolution 2417 aus dem Jahr 2018, in der der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe verurteilt wird, von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der Krise.

Die Entschlossenheit der palästinensischen Bäuerinnen und Bauern, wie sie in The Untold Revolution dokumentiert ist, ist ein Beweis für die Kraft der sozialen Bewegungen, die Rechte und Würde einfordern. Trotz immenser Widrigkeiten zeigen agrarökologische Anbaumethoden und von der Gemeinschaft getragene Initiativen das Potenzial nachhaltiger Ernährungssysteme zur Bewältigung kritischer lokaler Herausforderungen wie Jugendarbeitslosigkeit, schwindende Bindung an das Land und Ernährungsunsicherheit. Beim Streben nach Ernährungssouveränität in Palästina geht es nicht nur um Landwirtschaft – sondern auch um einen tiefgreifenden Akt der Selbstbestimmung und einen Aufruf zu Gerechtigkeit.


Dokumentation anschauen:

Untold Revolution: Food Sovereignty in Palestine الثورة غير المحكية- السيادة الغذائية في فلسطين - Heinrich Boll Foundation - Palestine & Jordan

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Untold Revolution: Food Sovereignty in Palestine, 2021, unter der Regie von Ameen Nayfeh