In einer Gegenwart, die von multiplen Krisen und zunehmenden Herausforderungen für politische Ordnungen in westlichen Demokratien geprägt ist, bleiben die Grundpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht unberührt. Auf ihrer Sommertagung 2024 diskutierte die Grüne Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung Chancen und Herausforderungen intergenerationellen Wandels.

Im Prozess der Verfassungsgebung findet eine Verständigung über Grundwerte und kulturelle und politische Praktiken statt, und in der Verfassung werden Grundrechte fixiert. Diese können über die Zeit hinterfragt, weiterentwickelt, bekräftigt und erneuert werden. So muss sich die Verfassung andauernd und gegenwärtig als Fundament bewähren, das eine vielfältige Gesellschaft in einer sich weiterentwickelnden Welt organisieren kann.
In einer Gegenwart, die von multiplen Krisen und zunehmenden Herausforderungen für politische Ordnungen in westlichen Demokratien geprägt ist, bleiben die Grundpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht unberührt. Mit einem Schwerpunkt auf verfassunggebende Prozesse und politische Grundkonsense diskutierte die Grüne Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung auf ihrer Sommertagung 2024 Chancen und Herausforderungen intergenerationellen Wandels.
Bericht der Sommertagung der Grünen Akademie am 20. September 2024
In die Geschichte des deutschen Grundgesetzes im 75. Jubiläumsjahr sind gleichermaßen Umbrüche und Kontinuitäten deutscher Historie eingeschrieben: 1949 wurde das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitet, von den Landtagen der Westzonen ratifiziert und unter Zustimmung der West-Alliierten in Kraft gesetzt. Mit dem Beitritt der DDR gilt das Grundgesetz seit 1990 für das vereinigte Deutschland und erinnert somit auch an die Friedliche Revolution in der DDR vor 35 Jahren. Es verweist somit auf eine durch Verfassungsdebatten geprägte Zeit, die zwischen der Notwendigkeit von Stabilität und dem Ruf nach Wandel changierten.
Eine Möglichkeit zur politischen Revision der Grundwerte in krisenhaften Zeiten skizzierte André Brodocz (Politische Theorie, Universität Erfurt) in seinem Eröffnungsvortrag „Chancen und Risiken einer demokratischen Auszeit“ (vgl. Brodocz/Schölzel 2024) 1. Ausgehend von der politischen Erfahrung und Theorie des Ausnahmezustands, der zum Teil die Pandemiepolitik in Deutschland prägte, stellte er die Idee einer „demokratischen Auszeit“ vor, die eine politische Routine bewusst und geplant unterbreche. In weniger akut empfundenen Krisenzeiten könnte der Grundkonsens über demokratische Routinen ausgehandelt und aktualisiert oder erneuert werden – insbesondere mit Blick auf bevorstehende ökologische und politische Herausforderungen durch den Klimawandel.
In diesem Zusammenhang kann Streitbarkeit eine notwendige Erneuerung erst ermöglichen. Anders als die gängige Praxis, sich in Krisensituationen auf die Exekutive zu fokussieren, schlägt Brodocz vor, den Blick auf das Potenzial der Stabilisierung zu richten, das durch die Aushandlung normativer Grundorientierungen in Zeiten des Wandels entsteht.
Nach einer Plenardiskussion vertieften die Mitglieder die Thematik in drei parallelen Foren:
- Im ersten Forum ging es mittels Impulsen von Sandra Brunsbach (Universität Kiel/ Grüne Akademie) und Stefanie John (Bündnis 90/Die Grünen / Grüne Akademie) um die Frage nach spezifischen Generationenverständnissen innerhalb der grünen Strömung.
- In einem zweiten Forum führten Robert Lorenz (Sorbisches Institut Bautzen / Grüne Akademie) und Claudia Müller (Parl. Staatssekretärin Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft/ Grüne Akademie) in Verfassungsfragen im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands ein.
- Im dritten Themenforum debattierten die Teilnehmenden mit Insa Eschebach (Freie Universität Berlin) und Monty Ott (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen) generationelle Veränderungsprozesse auf dem Feld der Erinnerungskultur.
Die Abschlussdebatte zu „politischen Ordnungen und Grundkonsens im Verfassungsjubiläumsjahr“ eröffnete Susanne Baer (Öffentliches Recht und Geschlechterstudien, Humboldt-Universität zu Berlin; Richterin des Bundesverfassungsgerichts a.D.). In ihrem Vortrag unterstrich sie, dass es allen Anlass gäbe, das Grundgesetz in Deutschland zu feiern. Daneben seien aber auch die einzelnen Landesverfassungen, insbesondere der neuen Bundesländer, hervorzuheben. Diese zeichnen sich mit ihrem vergleichsweise jungen Entstehungsdatum durch eine besondere Modernität aus: Sie enthielten bereits im Jahr 1992 Artikel zum Datenschutz.
Insgesamt kann die deutsche Verfassung als ein stabiles Fundament betrachtet werden, das gleichwohl offen für behutsame Weiterentwicklungen sein muss. Das Verfassungsgericht stützt in begrenztem Maß eine Flexibilität, die etwa im historisch gewordenen Urteil zum Eheöffnungsgesetz 2017 zeitgemäße Anpassungen des Verfassungstexts ermöglichte.
Aktuell enthält die Verfassung noch keine expliziten Formulierungen zu Fragen des Umgangs mit Künstlicher Intelligenz, jedoch werden in der täglichen juristischen Praxis andere Artikel auf entsprechende Urteile angewandt. Weiterhin besteht die Forderung, auch den Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern. Mit Blick auf eine intergenerationelle Perspektive sprach Baer sich für einen intertemporalen Freiheitsbegriff angesichts der Klimakrise aus, der Freiheitsrechte auch für zukünftige Generationen sichern soll: insbesondere die Freiheit zur Gestaltung der eigenen Zukunft. Damit seien kein grenzenloser Egoismus oder grenzenlose Selbstverwirklichung gemeint, sondern das Potenzial einer „miteinander geteilten Welt“. 2
Fußnoten
- 1
André Brodocz und Hagen Schölzel: Demokratische Auszeit: Corona-Politik jenseits von Ausnahmezustand und demokratischer Routine. Bielefeld: transcript 2024.
- 2
Susanne Baer, Nina Alizadeh Marandi: „Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 9-11/2024 (2024), In guter Verfassung?, S. 11–17, hier S. 14. [online]