Chile: Nicht nur ein Kampf um die Wahl

Analyse

Drei Monate vor der Präsidentschaftswahl intensiviert sich der Kampf um die Stimmen der Wähler*innen in Chile. Die Wahl wird eine Richtungswahl sein, wie wir es aus vielen Ländern aktuell kennen. Ein Überblick über die Kandidat*innen und ihre politischen Ziele.

Foto des Präsidentenpalastes "La Moneda" in Santiago de Chile mit Vorplatz und Fahnenstangen mit gehisster chilenischer Flagge.
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Präsidentenpalast "La Moneda" in Santiago de Chile

Chile befindet sich aktuell im Wahlkampf: Am 16. November 2025 werden die gut 15 Millionen Chilen*innen an die Wahlurnen gehen, um über ihr zukünftiges Staatoberhaupt, die Senator*innen und Abgeordneten in beiden Kammern abzustimmen. Derzeit ist nicht abzusehen, dass eine*r der acht Präsidentschaftskandidat*innen in der ersten Wahlrunde eine absolute Mehrheit erreichen wird. Die Entscheidung über die politische Zukunft des Landes wird somit in der zweiten Wahlrunde am 14. Dezember 2025 erfolgen. Die Amtsübergabe findet im März 2026 statt. 

Die aktuelle Amtsperiode des linksprogressiven Präsidenten Gabriel Boric neigt sich dem Ende zu. Die Wiederwahl eines amtierenden Präsidenten ist in Chile gesetzlich nicht möglich. Im März 2022 hatte der ehemalige Anführer der Studierendenbewegung und Anhänger des linken Parteienbündnisses Frente Amplio die politische Führung eines Landes voller Transformationsbestrebungen übernommen – und sah sich in seiner Amtszeit mit zwei gescheiterten Verfassungsprozessen konfrontiert. Durch breite Bündnisse mit den etablierten mitte-links Parteien hat er einen stabilisierenden Politikstil verfolgt. Durch das Scheitern des ersten Verfassungsprozesses und mangelnden Mehrheiten im Parlament konnte er jedoch viele seiner Wahlversprechen nicht einlösen: Sein Ziel, eine ökologische und feministische Regierung zu stellen, ist aus Sicht zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht gelungen. Das derzeitige Panorama zeigt die Geschwindigkeit, mit der gesellschaftlicher Unmut und Politikverdrossenheit zu polarisierenden Kräften führen kann und mit der sicher geglaubte demokratische Grundsätze des Landes in Frage gestellt werden. 

Wahl- und Kulturkampf

Normalerweise finden in Chile die sogenannten primarias statt. Hierbei handelt es sich um Vorwahlen, die die Anzahl der Kandidat*innen reduzieren und dafür sorgen soll, dass Parteien ähnlicher Couleur eine*n gemeinsame*n Kandidat*in im Wahlkampf unterstützen. Nur das linke Parteienspektrum hat in dieser Wahlperiode die Vorwahlen mit ihren vier Kandidat*innen Ende Juni 2025 durchgeführt. Als klare Siegerin ging die ehemalige Arbeitsministerin Jeannette Jara (Partido Comunista) der Boric-Regierung hervor. Seither tritt sie als Präsidentschaftskandidatin gegen „den rechten Block“ an. Zerwürfnisse der rechten Parteien haben dazu geführt, dass sie nicht mit einem gemeinsamen, sondern mit drei Kandidat*innen im November antreten werden: Darunter die ehemalige Bürgermeisterin des Hauptstadtbezirks Providencia Evelyn Matthei (Unión Demócrata Independiente), der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast (Partido Republicano) und der rechtspopulistische Kandidat Johannes Kaiser (Partido Nacional Libertario). 

Die Parteizugehörigkeiten dieser vier in den Umfragen vorne liegenden Präsidentschaftskandidat*innen spiegeln die politische Zerrissenheit der chilenischen Gesellschaft wider. Dies zeigt, dass das Erstarken ultrarechter und antidemokratischer Kräfte – ein globaler Trend – auch in Chile zu beobachten ist. Seit Ende der Militärdiktatur und Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 gab es in Chile keine derartig extremen Bewerber*innen um das Präsidentschaftsamt. Bis jetzt galten die demokratischen Grundpfeiler des Landes mit ihren glaubwürdigen Institutionen als unantastbar - eine Haltung, die sowohl von rechten als auch linken Parteien geteilt wurde. Hier gab es zuletzt einen Wandel: Die Kritik an dem aus der Pinochet-Verfassung stammenden neoliberalen Modell des Landes entlud sich 2019 in denen als Estallido Social bekannten Massendemonstrationen der chilenischen Bevölkerung. Trotz institutionellem Bestreben wie dem Friedensabkommen und dem Verfassungsprozess brachte sie aber keine grundlegenden Änderungen für die Bevölkerung mit sich. Dies führte dazu, dass auch Splitterparteien mit vermeintlich einfachen Antworten Aufschwung bekamen und rechtspopulistische Narrative in den öffentlichen Debatten salonfähig wurden.

Wer sind die Kandidat*innen und was steht auf dem Spiel?

Die Verbundenheit der drei (ultra-) rechten Kandidat*innen zu Deutschland sticht sofort ins Auge. Die familiäre Einwanderungsgeschichte im Fall von Kast steht im direkten Zusammenhang mit dem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte unter dem Nationalsozialismus. Evelyn Matthei ist die Tochter eines Militärs, der zum engsten Kreis der Militärjunta des Diktators Augusto Pinochet gehörte. Sie stand häufig für ihre Verharmlosung des Putsches vom 11.09.1973 in der Kritik, dem eine 17-jährige Militärdiktatur folgte und der sich heute zum 52. Mal jährt. Aktuell versucht sie aus strategischen Gründen gemäßigter zu wirken und sich dem demokratischen rechten Wähler*innenspektrum zu nähern. Ganz anders bei Kast und Kaiser: Hier werden autokratische Strukturen und die Verherrlichung der Pinochet-Diktatur als Kampfansage im Rennen um die Wahl ungefiltert kommuniziert. Auch die internationale Vernetzung und die Planung von Instrumenten zum Abbau der Demokratie werfen bereits ihre Schatten voraus — und deuten darauf hin, dass die Vorzeigedemokratie in Lateinamerika ins Bröckeln geraten kann: Rechtspopulistische Narrative über Migrant*innen oder die Sicherheitslage im Land greifen auf Freund-Feind-Gegensätze zurück und spalten die Gesellschaft. Zudem werden Bot-Gruppen in Zusammenarbeit mit großen Medienschaffenden zur Diffamierung der Mitbewerber*innen eingesetzt. Debatten um Feminismus und sexuelle Vielfalt werden als reine „Gender-Ideologie“ abgewertet und die Klimakrise geleugnet. Vorschläge zur Schließung des staatlichen Menschenrechtsinstituts INDH oder des Frauenministeriums wurden angekündigt. Diese Schlaglichter der (ultra)rechten Agenden lassen darauf schließen, dass sich das Land nicht nur im Wahlkampf sondern auch in einem Kulturkampf befindet. Während demokratische Transformationsbestrebungen nicht ausreichend gewirkt haben, konnte sich eine rechte Propaganda rasant etablieren, die sich auf einen Sicherheits-Begriff fokussiert, der direkt auf die Ängste der Bevölkerung setzt. Politische Aushandlungsprozesse und Kompromisse haben keinen Raum, es gilt das Recht des Stärkeren. Politisch Andersdenkende werden nicht toleriert, sondern verbal attackiert. Da Johannes Kaiser mit seinen Politikvorstellungen rechtsextremer als Kast ist, wird letzterer in der öffentlichen Debatte beinahe relativiert. Das blendet das disruptive Potential seiner möglichen Regierungsführung durch den Republikaner aus. 

Die Kandidatin der Kommunistischen Partei Jeannette Jara gilt als Vertreterin progressiver Politikgestaltung. Ihr Wahlkampfteam setzt auf die charismatische Strahlkraft der 51-Jährigen. Klare Abgrenzungen zu Kuba und Venezuela zeigen den Bruch Jeannette Jaras mit der traditionellen Kommunistischen Partei Chiles und die Forderungen nach einem Austritt aus der Partei werden lauter. Ihr Schulterschluss mit dem Fundament der westlichen demokratischen Werte im Rahmen einer multilateralen Ordnung, ihre Fähigkeit parteipolitische breite Bündnisse zu generieren und ihr Ansatz für soziale Sicherungssysteme führen dazu, dass sie von einigen Analyst*innen als Nachfolgerin der zweifachen Präsidentin Michelle Bachelet gesehen wird.

Die Wahl wird eine Richtungswahl sein

Drei Monate intensiver Wahlkampf liegen noch vor dem Land. Für Chile und die volatilen Meinungsumfragen ist dies eine lange Zeit, in der noch viel passieren kann. Etwa 30 Prozent der Wähler*innen geben derzeit an, noch unentschlossen zu sein. Nach jetzigem Stand werden Jeannette Jara und José Antonio Kast die zweite Wahlrunde am 14. Dezember 2025 erreichen. Es ist davon auszugehen, dass sich in diesem Fall die System- und Kulturkämpfe systematisch zuspitzen werden: Die Vorstellungen zur Zukunft des lateinamerikanischen Landes und die Art der Politikgestaltung könnten unterschiedlicher nicht sein. Anstatt konstruktive Lösungen für die Bewältigung der multiplen Krisen zu finden und programmatisch ein zukunftsfähiges Entwicklungsmodell zu definieren, wird ein personifizierter Wahlkampf um systemische Strukturen (Demokratie versus Autokratie in Verbindung mit dem oben genannten disruptiven Potential) und die Rolle des Staates durch polarisierte Rhetorik den Weg zum Präsidentschaftsamt begleiten. 

Während es vor gar nicht langer Zeit noch darum ging, aktiv Politik für eine sozial-ökologische gerechte Transformation zu definieren und dabei die Rolle Chiles in der Weltwirtschaft aufgrund seines Reichtums an Rohstoffen für weltweite Dekarbonisierungsstrategien neu zu definieren, werden die Karten gerade neu gemischt und ideologisch unterfüttert. Zunächst sollte das Vertrauen der Bürger*innen in die Wehrhaftigkeit demokratischer Strukturen zurückgewonnen und mit Vorschlägen für die Zukunftsfähigkeit des Landes begleitet werden. Die Wahl wird eine Richtungswahl sein, wie wir es aus vielen Ländern aktuell kennen.

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