Japan: Die halbherzige Einwanderungspolitik der rapide überalternden Industrienation

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Die Seniorin Toshi Nakazawa

Toshi Nakazawa ist 89 und sitzt im Rollstuhl. Die weißhaarige Japanerin strahlt übers ganze Gesicht und will die Hand ihrer indonesischen Pflegerin gar nicht mehr loslassen. „Sie ist so hübsch und sie arbeitet so hart“, sagt die alte Dame mit brüchiger Stimme. Stolz zeigt sie auf Fotos, die die Pflegerin Meida Handajani bei einer Feier in der Tracht ihrer Heimat zeigen, eine Hand auf der Schulter von Nakazawa. Die 31-Jährige ist beliebt an ihrem Arbeitsplatz, einem Altenheim im Nordosten Tokios – und das, obwohl japanische Senioren Ausländer nicht gewöhnt sind. Japan hat nach einer Gesetzesänderung in den 1990ern einen Ausländeranteil von gerade rund zwei Prozent; vorher waren es noch viel weniger. Ausländern wird in Japan einerseits mit einer Mischung aus Neugierde und Hilfsbereitschaft begegnet, andererseits mit Misstrauen, Geringschätzung und Ablehnung. Letzteres betrifft vor allem Einwanderer aus anderen asiatischen Ländern sowie aus Afrika und Südamerika, nicht zuletzt weil Japan dort zum Teil Kolonien hatte. Ein weiterer Grund ist, dass sich Japaner Ausländern gegenüber sehr unsicher fühlen. Sie haben Angst, Fehler im Umgang zu machen und in eine peinliche Situation zu geraten. Umso unangenehmer wird für sie die Lage, wenn ein ausländisches Gegenüber anders reagiert als ein Durchschnittsjapaner. Für angemessenes Verhalten in Japan gibt es ungeschriebene Regeln, die jeder verinnerlicht hat; Abweichungen sind nicht vorgesehen. Ausländer kennen diese Regeln häufig nicht, was zu Angst, Ärger und Unsicherheit auf der japanischen Seite führt. Noch heute wirken die 250 Jahre spürbar nach, in denen sich Japan mit wenigen Ausnahmen ausländischen Reisenden während der Edozeit (1603 – 1868) verschloss.

Dabei könnte Japan Einwanderer gut brauchen. Die japanische Bevölkerung überaltert und schrumpft so schnell wie in kaum einer anderen Industrienation. In sieben Jahren, wenn in Tokio die Olympischen Sommerspiele stattfinden, wird die 128-Millionen-Einwohner-Nation Schätzungen zufolge bereits vier Millionen Menschen weniger haben.

Die Zeitung „Yomiuri Shimbun“ schätzt, dass bis 2025 mindestens 900.000 zusätzliche Altenpfleger benötigt werden. Tokio hat daher Kooperationsabkommen mit Indonesien und den Philippinen im Rahmen einer Vereinbarung zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Economic Partnership Agreement, EPA). Diese Abkommen eröffnen Staatsbürgern beider Länder die Möglichkeit, in japanischen Altenheimen zu arbeiten. Doch das Experiment mit den Arbeitskräften aus Übersee droht zu scheitern – an der Sprachbarriere, an zu hohen Anforderungen und an einer Regierung, die Immigrationspolitik nur halbherzig betreibt.

Zwar berichten japanische Medien immer wieder über die tickende demografische Zeitbombe, selten auch mit einem kurzen Verweis auf mehr Einwanderung als Chance. Aber von einer echten Lösung ist das Land weit entfernt. Dazu trägt auch die fehlende gesellschaftliche Diskussion über Einwanderung bei. Japan möchte lieber bleiben, was es ist: ein weitgehend abgeschlossenes Inselreich.

Ausländische Altenpfleger sollen perfekt Japanisch schreiben können

Trotz aller Hürden fühlt sich die Pflegerin Handajani wohl in Japan, sie will bleiben. Japanische Kultur wie die populären Manga-Comics und Fernsehserien mochte sie schon als Kind in Indonesien. 2006 war sie schon einmal als Sprachstudierende im Land. Ihre Schützlinge, die alten Leute im Heim, betrachtet sie als ihre Familie. Auch ihr Arbeitgeber ist froh, dass sie da ist: „Allein mit japanischen Pflegekräften kommt Japan nicht über die Runden“, sagte der Personalleiter des Altenheims, Takahiro Murakami.

Meida Handajanis Fall ist eine positive Ausnahme. Denn die meisten ihrer Landsleute, die am gleichen Programm teilnahmen, kehrten Japan wieder den Rücken zu, entweder aus freien Stücken oder weil sie es mussten. Der Grund: Nach mindestens drei und maximal vier Jahren in einem japanischen Altenheim müssen die ausländischen Altenpfleger in spe die gleiche Prüfung wie ihre japanischen Kollegen ablegen. Ihr Bestehen ist die Voraussetzung, um bleiben zu dürfen. Für den Alltag bringt die Prüfung jedoch wenig, denn das dort geprüfte schriftsprachliche Japanisch weicht stark vom Mündlichen ab. Nur 36 von 95 Teilnehmern in Handajanis Lehrgang schafften den Test, sie eingeschlossen. Bei einem ähnlichen Programm für Krankenschwestern beträgt die Durchfallquote sogar über 90 Prozent. An den Fachkenntnissen kann es nicht gelegen haben: Alle hatten bereits eine einschlägige abgeschlossene Ausbildung in ihrer Heimat. Inzwischen bewerben sich immer weniger Pflegekräfte für das Programm.

Debito Arudou, der für die Tageszeitung „Japan Times“  eine sehr kritische Kolumne über das Leben von Ausländern in Japan schreibt, stellt die Ernsthaftigkeit der Bemühungen der Regierung in Frage. Schließlich könne sie, wenn schriftliches Japanisch so wichtig sei, doch gleich Pfleger aus Ländern mit Schriftzeichen einladen, wie China, Singapur, Hong Kong, Macau oder Taiwan. Stattdessen soll Vietnam der nächste Programmpartner werden.

Auch Ausländern japanischer Abstammung fällt die Integration schwer

Gute Sprachkenntnisse alleine genügen für die Integration in Japan allerdings nicht. Das mussten die „Nikkei“ oder „Nisei“, (Latein-)Amerikaner japanischer Abstammung, erfahren. Sie wurden als „dekasegi“ (wortwörtlich: „weg von zuhause arbeitend“) seit den 1990ern zur Arbeit in Fabriken, vor allem in der Autoindustrie, geholt. Allein aus Brasilien wanderten rund 300.000 Brasilianer mit japanischen Wurzeln und häufig auch guten Sprachkenntnissen ein. Man hoffte, dass sie deswegen leichter zu integrieren wären, stellte sich jedoch als Trugschluss heraus, da sich die meisten eher als Brasilianer verstanden denn als Japaner und von der japanischen Bevölkerung als Ausländer betrachtet und ausgegrenzt wurden.

Als es der japanischen Wirtschaft nach der Weltwirtschaftskrise, infolge des Bankrotts des Finanzdienstleisters Lehman Brothers im September 2008, schlecht erging und selbst Toyota Mitarbeiter entlassen musste – bis dahin war das beim Branchenprimus nicht vorstellbar – bot die japanische Regierung den „Nikkei“-Arbeitern 300.000 Yen (2.100 Euro) und jedem Familienmitglied 200.000 Yen (1.400 Euro)  an für Flugtickets zurück nach Lateinamerika. Die Bedingung: Sie dürften „auf unbestimmte Zeit“ nicht zurückzukehren, hieß es zunächst. Nach einem Proteststurm schwächte die Regierung die Kondition auf „mindestens in den nächsten drei Jahren zum gleichen rechtlichen Status“ ab. Im Oktober 2013 wurde das Rückkehrverbot wieder aufgehoben, allerdings zu umstrittenen Bedingungen: Fortan müssen einreisewillige „Nikkei“ einen einjährigen Vertrag mit einer japanischen Firma vorlegen. In den einschlägigen Branchen sind jedoch quartalsweise Verträge nicht selten. Japanische Firmen müssen generell bei der Anstellung von Ausländern nachweisen, dass die Stelle nicht von einem Japaner besetzt werden kann.

Einwanderer sollen „dreckige, anstrengende und gefährliche“ Jobs übernehmen

Die Indonesierin im Altenheim, der Brasilianer am Fließband, der Chinese an der Kasse des 24-Stunden-Ladens, der Amerikaner in der Sprachschule, die Filipina in der Hostessenbar, das russische Model – je nach Branche häufen sich bestimmte Nationalitäten. Das liegt zum einen an den genannten Einladungs- sowie an Austauschprogrammen, aber auch und vor allem daran, dass die Einwandernden bestimmte in der japanischen Gesellschaft verbreitete Klischees über ihre Landsleute und deren Eigenschaften erfüllen. Hinzu kommt, dass gerade Einwanderer aus Entwicklungsländern anders als viele Japaner bereit sind, „3K-Arbeiten“ (von „kitanai, kitsui, kiken“ für „dreckig, anstrengend und gefährlich“) zu verrichten, auch für wenig Geld. Bestimmte Visa, wie das „Trainee-Visum“ werden sowohl von Einreisewilligen, meist Koreanern und Chinesen, als auch japanischen Firmen gerne genutzt, um billige Arbeitskräfte anzustellen, zum Beispiel in 24-Stunden-Läden, in der Landwirtschaft oder in Fischfabriken. Wer in Japan ein Arbeitsvisum will, muss mindestens 150.000 Yen (1.100 Euro) pro Monat nachweisen, was mehr ist als viele Altenpfleger bekommen.

Einwanderer nach Wunsch der Regierung: Hochgebildet, gut verdienend, jung

Doch am liebsten würde die japanische Regierung keine der vorgenannten Gruppen in größeren Mengen einwandern sehen. Stattdessen versucht sie seit Mai 2012 über ein Punktesystem, besonders Hochqualifizierte anzulocken. Ein Doktortitel und viele Jahre Arbeitserfahrung trotz jungen Alters versprechen eine hohe Punktzahl. Doch der ausschlaggebende Faktor ist das zu erwartende Gehalt. Den Topverdienern winkt eine bevorzugte Behandlung bei der Visa-Beantragung. “Damit Japan weiter wirtschaftlich erfolgreich ist, müssen wir hochqualifizierte ausländische Fachkräfte willkommen heißen“, sagte Justizminister Sadakazu Tanigaki. Sein Ministerium ist für die Einwanderungsbehörden zuständig.

Nicht nur hochqualifizierte, sondern auch sehr reiche Ausländer sollen einfacher länger bleiben dürfen, ähnlich wie in Australien und Thailand. Die japanische Regierung sagte im Juni 2013, sie wolle an den internationalen Flughäfen eine Schnellabfertigung für wohlhabende Ausländer über 50 einrichten. Bisher dürfen Ausländer sich nicht länger in Japan aufhalten, wenn es keinen zwingenden Grund für sie gibt, zum Beispiel Arbeit oder Studium in Japan. Kritiker wie der Autor und Aktivist Debito Arudou sagen, Japans Einwanderungspolitik sei ohnehin lediglich auf temporäre Aufenthalte ausgerichtet. Ayako Komine, Forscherin an der Freien Universität Berlin, argumentiert dagegen, dass Japan zwar vordergründig Langzeitimmigranten abweisend gegenüberstehe, in Wirklichkeit würden Ausländer aber immer wieder trotz der strengen Einwanderungsgesetze im Land geduldet, etwa wenn die Einwanderer bereits sehr lange ohne gültiges Visum im Land leben und ihre Kinder im japanischen Schulsystem integriert seien.

Für manche endet die Hoffnung auf ein besseres Leben mit der Haft

Wer länger bleibt, als es das Visum erlaubt, riskiert auf unbestimmte Zeit inhaftiert zu werden. Denn Japan weigert sich, eine Maximaldauer für die Haft bis zur Feststellung des Visumsstatus festzulegen. Dafür wurde das Land von den Vereinten Nationen  als auch von Human Rights Watch kritisiert. Japan hat 19 Haftanstalten für Ausländer, die Platz für rund 4.000 Menschen bieten. Von 1.104 Festgehaltenen im Jahr 2012 wurden nach Daten der Immigrationsbehörde 236 zwischen 6-12 Monate inhaftiert, 75 für 12-18 Monate und 24 für 18-24 Monate.

Asylbewerbern drohen viele Monate in Haft bis zur Antragsbearbeitung

Nicht nur illegale Arbeitsmigranten, auch Asylbewerber müssen damit rechnen, zunächst mehrere Monate hinter Gittern zu verbringen, bis ihr Antrag bearbeitet ist. Japan ist ein Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und des Protokolls zur Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 und kann daher den Flüchtlingsstatus feststellen. In einem Merkblatt der Vertretung des UN-Flüchtlingskommissariats in Japan wird explizit darauf hingewiesen, dass der Asylantrag auch dann gestellt werden kann, wenn die Person bereits im Land ist, allerdings auch dass die Person bis zur Feststellung entweder abgeschoben oder inhaftiert werden kann.

In den japanischen Medien berichten Häftlinge davon, dass sie monate- oder gar jahrelang mit mehreren anderen Personen in engen Mehrbettzimmern lebten, schlecht oder gar nicht medizinisch versorgt wurden und für geringste Tätigkeiten, wie einen Stift in die Hand zu nehmen, um Erlaubnis bitten mussten. Die Chancen auf Asyl in Japan sind gering. Laut der Einwanderungsbehörde wurden 2010 von 1202 Bewerbern nur 39 der Flüchtlingsstatus zugestanden, während 363 aus humanitären Gründen bleiben durften. Noch extremer waren die Zahlen zwei Jahre später: Von 2545 Asylbewerbern durften nur 18%-0,7% – bleiben. Abschreckend wirken zudem einige ungeklärte Todesfälle: 2010 starb ein mit einer Japanerin verheirateter Asylbewerber, der abgeschoben werden sollte. An die zehn Beamte sollen ihn im Flugzeug festgehalten haben, wo er laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen an einem Handtuch in seinem Mund erstickt sein soll. Im Oktober 2013 starb der 57-jährige Anwar Hussin aus Myanmar in Haft an einem Schlaganfall. Interessengruppen zufolge weigerten sich Angestellte der Haftanstalt, sofort einen Arzt zu rufen, angeblich, weil der gerade in der Mittagspause war.

Ausländer in Japan

Nach Daten der Einwanderungsbehörde lebten Ende 2010 2,13 Millionen registrierte ausländische Staatsbürger in Japan, 2,4 Prozent weniger als im Vorjahr, aber 1,3 Mal mehr als zehn Jahre zuvor. Damit stellten sie gerade 1,67 Prozent der Bevölkerung Japans, die sich 2010 auf 128,06 Millionen Menschen belief. Dazu kommen nach Schätzungen der japanischen Behörden an die 100.000 Immigranten, deren Aufenthalt nicht dokumentiert ist, darunter drei Viertel, die länger im Land blieben, als ihr Visum es erlaubt hätte.

Während Einladungsprogramme wie das von Meida Handajani schleppend weiterlaufen, vorerst zeitlich unbegrenzt, muss Japan weiter und mit Hochdruck Lösungen für den Mangel an Alten- und Krankenpflegern finden. Denn mit Japanern kann der Bedarf nicht gedeckt werden. Handajanis Personalleiter Murakami fordert: „Die Regierung muss das System weicher machen, damit mehr Ausländer die Prüfung schaffen.“ In dem Heim arbeiten neben Handajani drei weitere Ausländer. „Sie sind so sanftmütig und fröhlich“, schwärmt Murakami. „Sie passen sehr gut zu den japanischen Senioren.“ Bis auf Weiteres hat Handajani sich darauf eingestellt, in Japan zu bleiben. „Hier zu sein, ist die Erfüllung eines Traums“, sagt sie. Außerdem will sie ihre fachlichen Kenntnisse weiter verbessern. Doch für immer in Japan zu bleiben, kann sich Japan-Fan Handajani nicht vorstellen: Eines Tages wolle sie nach Indonesien zurück und dort Altenpflege unterrichten.