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Europa und das Problem des Populismus

Lesedauer: 7 Minuten

In unserem Buch „Rechtspopulismus in Europa“ haben wir zum einen darauf hingewiesen, dass der neue Rechtspopulismus kein zweiter Aufguss ist, sondern eine neue politische Erscheinung, und zum anderen haben wir gezeigt, dass es sich dabei nicht um einen politischen oder historischen Ausrutscher handelt, sondern um etwas, mit dem in der europäischen politischen Landschaft langfristig zu rechnen ist. Bei dieser gesamteuropäischen Erscheinung handelt es sich um die größte Herausforderung, mit der das europäische Projekt seit Beginn der europäischen Einigung zu kämpfen hat.

Der Populismus ist eine Kampfansage an Theorie und Praxis liberaler Demokratien, eine Kampfansage, die sehr viel ernster genommen werden muss als gegenwärtig der Fall – und das nicht allein ihres organisatorischen und medienpolitischen Gehabes wegen, sondern gerade auch was seine Ideologie angeht. Der neue Rechtspopulismus ist dabei kein Fremdkörper innerhalb unserer politischen Traditionen, er ist eng mit ihnen verschwägert, und entsprechend müssen wir unsere eigenen Ideale von Freiheit, Demokratie, Identität und Toleranz ernsthaft und selbstkritisch prüfen. Für uns Grüne bedeutet der neue Rechtspopulismus eine besondere Herausforderung, da die grünen und die populistischen Bewegungen auf überraschende Weise miteinander verschwippt zu sein scheinen, nämlich als gegensätzliche Pole eben jener politischen Kultur, die (zumindest im Westen) im Gefolge der Umbrüche der 1960er und 1970er Jahre entstand.

Der neue Rechtspopulismus ist kein Fremdkörper

Um sich nicht zu lange mit Definitionen aufzuhalten, will ich hier auf die von Mudde (2007) vorgeschlagene Beschreibung zurückgreifen, die drei von einander abhängige Charakteristika postuliert, nämlich Nativismus (eine abgeschwächte Form von Nationalismus), Autoritarismus und Volkssouveränität. Wichtiger als derartige Verallgemeinerungen ist jedoch, darauf hinzuweisen, wie groß die Bandbreite der populistischen Bewegungen und Parteien allein schon in Europa ist. Angesichts dessen bietet es sich an, populistische Strömungen nach drei Kriterien aufzuschlüsseln: 1. linken und rechten Populismus, 2. populistische Bewegungen der ersten und der zweiten Generation, 3. Spielarten des Populismus im (Nord-)Westen, im Osten und im Süden. 

Das erste Kriterium zeigt, dass es auch mächtige linke populistische Traditionen gibt sowie bedeutende Entsprechungen zwischen links und rechts (beispielsweise was die eliten-, partei- und bürokratiefeindliche Haltung betrifft und die Vorliebe für direkte Demokratie). In einer Reihe europäischer Länder lässt sich derzeit tatsächlich beobachten, wie sich die populistische Protestwählerschaft von rechts nach links verschiebt, während gleichzeitig die traditionellen Volksparteien weiter Einfluss verlieren (beispielsweise in Griechenland, wo die politische Mitte ums Überleben ringt, in Deutschland, wo die Piratenpartei zulegt, in Italien mit dem Erfolg von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, in den Niederlanden durch die Sozialistische Partei sowie möglicherweise auch durch die Palikot-Bewegung in Polen). 

Rechtspopulisten der ersten und zweiten Generation

Das zweite Kriterium, das nach Generationen unterscheidet, überschneidet sich in gewissem Maße mit dem der Geografie. Parteien der ersten Generation wie beispielsweise die Front National, der Vlaams Belang, die FPÖ und die Lega Nord haben tendenziell stärker ausgeprägte Wurzeln in radikal-nationalistischen, anti-semitischen und homophoben Strömungen der Vergangenheit. Das trifft noch mehr zu auf Parteien wie die britische National Front, die deutsche NPD, Ataka in Bulgarien, die Slowakische Nationalpartei, Jobbik in Ungarn sowie Chrysi Avgi in Griechenland.

Im Nordwesten Europas ist hingegen eine zweite Generation populistischer Parteien entstanden, die zur anrüchigen „braunen“ Vergangenheit deutlich auf Abstand gehen. Neuere Parteien wie die Dänische Volkspartei, die Wahren Finnen (Perussuomalaiset), die Schwedendemokraten, die holländische LPF (die Partei Pim Fortuyns), Geert Wilders Partei für die Freiheit und die Neu-Flämische Allianz (N-VA) in Belgien treten allesamt eher bürgerlich, gemäßigt und liberal-demokratisch auf, was auch damit zu tun hat, dass einige von ihnen aus bestehenden liberalen Parteien hervorgegangen sind. In Frankreich findet ein derartiger Generationswechsel derzeit vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes statt, da Marine Le Pen die Führung der Front National von ihrem Vater übernommen hat. An die Stelle des biologisch begründeten Rassismus (und speziell Antisemitismus), Militarismus und völkischen Nationalismus der älteren Bewegungen tritt dabei ein weicherer kultureller Nationalismus, der eine einheimische Leitkultur und nationale Identität verteidigen will gegen ein verallgemeinertes Anderes, das oft (wenn auch nicht notwendig) mit dem Islam in Eins gesetzt wird.

Kultureller Nationalismus

Das dramatischste Beispiel für diesen Generationswechsel ist wohl De Wevers N-VA in Belgien, die unlängst bei Kommunalwahlen 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten (in Antwerpen waren es 37,7 Prozent) und Filip Dewinters Vlaams Belang den Rang ablief. De Wever vertritt einen „humanitären Nationalismus“, will Belgien aufteilen und Flandern zu einem unabhängigen EU-Mitgliedsstaat machen. Islamophobie steht bei dieser Partei nicht mehr im Vordergrund und auch Euroskepsis spielt kaum eine Rolle, wodurch die N-VA innerhalb der populistischen Nationalisten eine Sonderrolle einnimmt. Die N-VA verortet sämtliches Übel bei der belgischen Bundesregierung und macht sie verantwortlich für überhöhte Steuern, um sich greifendes Sozialschmarotzertum, offene Grenzen, durch die zu viele Einwanderer und Einwanderinnen ins Land dringen und, ganz besonders, für die überzogenen Transferzahlungen, welche die Flamen, die sich „abrackern“, an die undankbaren, faulen Wallonen leisten müssen. Auf diese Weise wird Belgien zu einer Art „Europa en miniature“, in dem es unüberwindbare kulturelle und wirtschaftliche Abgründe gibt zwischen einem sparsamen, fleißigen und aufrichtigen Norden und einem faulen, schmarotzenden und verlogenen Süden.

Diese Zuspitzung eines angeblichen Gegensatzes zwischen Norden und Süden geht einher mit einer Art von „materialistischen Wende“, durch die der kulturellen Polarisierung bei Themen wie Einwanderung, Islam und nationaler Identität die Schärfe genommen wird. Beispielsweise hat kürzlich im Wahlkampf Geert Wilders seine Feindbilder gewechselt und statt dem Islam Europa, statt Mekka Brüssel zum Ziel seiner Angriffe gemacht. In den Hintergrund tritt dabei das Ziel, die niederländische Nationalkultur vor der Islamisierung zu retten, denn gegenwärtig gilt alle Aufmerksamkeit dem Ärgernis, dass hart malochende holländische Steuerzahler und Steuerzahlerinnen ausgebeutet werden, um „faule“ und korrupte Südländer wie Griechenland, Italien und Spanien zu subventionieren. Diese vergleichsweise Mäßigung der gegen Einwanderer und Einwanderinnen (und den Islam) gerichteten Parolen im Norden steht im Süden eine geradezu klassische „kulturelle“ Reaktion auf die Wirtschaftskrise gegenüber, und viele Beobachter halten die griechische Partei Chrysi Avgi für eine neofaschistische oder Neonazi-Organisation, da sie eindeutig rassistische Parolen verwendet und zur Gewalt gegen Ausländer und Ausländerinnen aufstachelt.

Die Legende vom fleißigen Norden und dem faulen Süden

Die Bankenpleiten und die Schuldenkrise haben hier die Schwerpunkte verrückt – weg von kulturellen, hin zu wirtschaftlichen Fragen, weg von einem Kultur- und hin zu einem Sozialstaats-Nationalismus (entsprechend heißt es nun nicht mehr „my people first“, sondern „our money first“). Zwar wäre es Wunschdenken, zu glauben, die Radikalisierung rund um das Thema Islam sei in Nordwest-Europa Geschichte (siehe Breivik), es ist aber doch in den Hintergrund gerückt, während Themen rund um den traditionellen Gegensatz zwischen links und rechts Auftrieb erhalten haben – und damit auch die alten linken und die populistischen linken Parteien.

Zwar sollte man hier nicht zu weit gehen, aber wenigstens ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Populismus in Nordwest-Europa einerseits und in Ost- bzw. Südeuropa andererseits, lässt sich klar ausmachen: In den nordwesteuropäischen Ländern (zumindest in einigen) ist ein liberaler Individualismus Teil der nationalen Identität geworden und wird gegen religiöse und andere kollektive und konservative Einflüsse verteidigt. Im Osten und Süden andererseits bewegt sich der Populismus eher in Richtung herkömmlicher, reaktionärer Formen von Nationalismus, Formen, die der ersten Generation näher stehen als der zweiten oder die gar auf den rassistischen Radikalismus der 1930er Jahre zurückgreifen. Da zudem die liberale Moderne, Demokratie und Säkularisierung auf dem Wege der europäischen Einigung Einzug halten, kommt Widerstand gegen liberale, freigeistige und weltliche Werte als anti-europäische Haltung daher, durch die nationale und speziell konservative christliche Traditionen verteidigt werden sollen. Das bedeutet, der nationalistische Populismus stellt aktuell, gleich ob er eher liberal oder eher kollektiv ausgerichtet ist und gleich ob er den Islam zum Sündenbock macht oder nicht, die größte Gefahr für das Projekt der europäischen Einigung dar.


Dick Pels arbeitet im Bureau de Helling (Niederlande).