Mord an der Freiheit

Foto: Henrik Lied, Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA 2.0. Original: Flickr.

1. August 2011
Caroline Emcke
Die Anschläge von Oslo würden Norwegen verändern, hat Ministerpräsident Stoltenberg gesagt, es werde ein Norwegen davor und ein Norwegen danach geben. Noch sind nicht alle Hintergründe des Attentats geklärt, noch sind nicht alle Verbindungen des Attentäters überprüft, aber schon jetzt lässt sich sagen: Auch für uns bedeuten die Anschläge von Oslo eine Zäsur. Auch wir werden nicht mehr dieselben sein, auch wir können nicht mehr dieselben sein nach Oslo.

In den ersten Stunden nach den Bombenexplosionen, als sogenannte Terrorismusexperten in den Nachrichtensendern eilfertig auf al-Qaida und die radikalislamische Gewalt verwiesen, als sich in Internetforen schon »Muslime raus«-Kommentare häuften, da wurde sichtbar, wie reflexhaft das geworden ist: den Schuldigen unter den Muslimen zu suchen. Wie selbstverständlich es geworden ist, Terrorismus mit Islam zu verbinden. Und wie leicht es gewesen ist im vergangenen Jahrzehnt, Gewalt immer nur für die Gewalt der anderen zu halten.

Gewiss, seit dem 11. September 2001 gab es dafür auch Gründe. Die radikalislamischen Täter von New York, Madrid und London waren niemals nur verwirrte Einzeläter, sie operierten in Netzwerken und Zellen, sie liefen nicht einfach Amok, nicht Verzweiflung war ihr Antrieb, sondern politisches Kalkül, ein Kalkül, das Angst und Schrecken im Westen verbreiten sollte.

Doch dieser Reflex, die eigene Gesellschaft in einer »Wir gegen sie«-Rhetorik in Stellung zu bringen und die Bedrohung nicht auch im Inneren zu suchen: Das ist nun nicht mehr möglich. Allzu deutlich markieren die Anschläge des ersten antimuslimischen Terroristen Anders Breivik einen blinden Fleck im europäischen Selbstverständnis: Nicht allein fanatische Islamisten bedrohen unsere demokratischen Gesellschaften, sondern auch fanatische Islamhasser.

Nur wer die allseits hörbare Islamfeindlichkeit, die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien, die immer ekelhafteren Beschimpfungen von Muslimen in einschlägigen Foren und Blogs im Internet fuer ungefährlich hielt, kann behaupten, Breivik sei »aus dem Nichts« gekommen. Nur wer den zunehmenden Verfall demokratischer Sitten, die Abnahme des Respekts vor Andersdenkenden, die Zunahme fremdenfeindlicher Ressentiments auch im medialen Mainstream nicht sehen wollte, kann ihn für eine überraschende Erscheinung halten.

Anders Breivik kam nicht aus dem Nichts. Er mag ein Einzeltäter gewesen sein, das wird sich noch herausstellen, aber sicher ist schon jetzt: Er war kein Einzeldenker.

Populistisches Gedankengut ist längst in Europas Mitte angekommen

Seine ideologische Motivation, wie sie sich in seinem »Manifest« nachlesen lässt, hatte in Europa in den vergangenen Jahren einen wachsenden rhetorischen Resonanzraum. Auf 1500 Seiten agitiert Breivik gegen Multikulturalismus, Feminismus, den "kulturellen Marxismus" der Frankfurter Schule und Muslime, er sieht sich als Teil einer Widerstandsbewegung gegen "Political Correctness", gegen Einwanderung und gegen Toleranz. All das klingt traurig vertraut.

Denn in abgemilderter Form sind die Überzeugungen von Breivik in der bürgerlichen Mitte Europas längst gegenwärtig. Die Rede von der Gefahr der vorgeblichen Unterwanderung Europas durch den Islam ist allseits präsent, die Diskriminierung von Muslimen wird unter Verweis auf Sorgen erklärt, die es ernst zu nehmen gelte, und die Kritik am Multikulturalismus wird nicht mehr als Populismus betrachtet, sondern als vernünftige Einsicht.

Was sagt es über eine Gesellschaft, wenn »Gutmensch« ein Begriff der Diffamierung geworden ist? Was sagt es über Europa, die Gemeinschaft der vielen, wenn kulturelle Homogenität vielen zu einem Vorbild geworden ist? Was sagt es über unsere Aufklärung, wenn Glaubensfreiheit nur noch für den eigenen Glauben gelten soll? Was sagt es über unsere demokratische Kultur, wenn Hassprediger, solange sie sich gegen Muslime richten, nicht als Hassprediger gelten?

So einzigartig die Anschläge von Oslo in Europa sind, so sehr erinnerten die Bilder von den zerstörten Bürogebäuden im Zentrum der Stadt doch an den Bombenanschlag von Timothy McVeigh im amerikanischen Oklahoma City 1995. Das ist kein Zufall. Anders Breivik artikuliert eine ähnliche »weiße Wut« wie McVeigh: die Aggression eines weißen, männlichen Milieus, das sich gegen seinen eingebildeten Untergang wehrt. Sie sind keine gesellschaftlichen Außenseiter, sie gehören keiner kulturellen Minderheit an, aber diese Täter empfinden sich als Verlierer einer demokratischen Gesellschaft, die ihnen keinen exklusiven Artenschutz gewährt. Mal richtet sich der paranoide Zorn dieser Männer gegen den Staat, der angeblich ihre Rechte nicht ausreichend verteidigt, mal gegen Einwanderer, die angeblich ihre Privilegien angreifen. Die Opfer dieser Parallelwelt-Vorstellungen variieren. Die Quelle der Gewalt, der Hass auf diejenigen, die angeblich schuld an der eigenen sozialen Bedeutungslosigkeit sind, ist dieselbe.

Die Anschläge von Oslo werden uns verändern. Die Anschläge von Oslo müssen uns verändern. Dazu gehört jedoch auch, dass wir die Unterscheidung zwischen denen, die Hass predigen, und denen, die morden, aufrechterhalten. Eine ideologische Ähnlichkeit im Denken ist eben keine Gemeinsamkeit im Handeln. Nicht jeder Islamfeind ist ein Terrorist. Nicht jeder Christ ein christlicher Fundamentalist. Nicht jeder Fundamentalist ist gewalttätig.

Die erschütternde Erfahrung von Oslo bietet auch die Chance, manche der Fehler, die nach dem 11. September begangen wurden, nicht zu wiederholen. Die Einschränkungen der Freiheit im Namen der Sicherheit, die Hermeneutik des Verdachts, mit der Religiosität mit Demokratiefeindlichkeit verwechselt wurde – all das sollte nach Oslo nicht noch einmal passieren.

Es müssen keine Sicherheitsgesetze verschärft werden, es müssen nicht blonde Männer an Flughäfen herausgefischt und gesonderten Sicherheitskontrollen unterzogen werden, es müssen keine »Christen-Konferenzen« einberufen werden, auf denen fromme Organisationen ihre Rechtsstaatlichkeit unter Beweis stellen müssen – und nicht jeder so genannte Islamkritiker muss nun aufgefordert werden, sich zu distanzieren von den Morden von Anders Breivik.

Nicht von Einwanderern droht Gefahr, sondern von Extremisten

Wer der fundamentalistischen Gefahr begegnen will, sei sie nun islamisch oder christlich, muss die Werte verteidigen, die angegriffen werden. Wer für zu große Toleranz und sein Eintreten für kulturelle Vielfalt angefeindet wird, muss die soziale Kompetenz für Toleranz und Offenheit gegenüber Andersdenkenden stärken. Wer als zu liberal gegenüber Frauen, Muslimen und Linken attackiert wird, der sollte diesen Liberalismus als humanistisches Erbe der Aufklärung hochhalten – und sich nicht dafür schämen.

Nicht von Einwanderern droht Gefahr, sondern von Extremisten. Ob sie nun christlich oder muslimisch, politisch oder religiös argumentieren. Gestern waren es Juden, heute sind es Muslime, die als fremd und uneuropäisch bezeichnet werden. Morgen kann es eine andere Minderheit sein, die ausgeschlossen werden soll. Es ist gleich, wen es als Nächsten trifft, wer als Nächstes als fremd oder anders aus dem sozialen Gefüge abgeschoben werden soll. Vielleicht gehören wir heute zufälligerweise zur gefälligen Mehrheit. Aber morgen vielleicht schon nicht mehr. Wer in Freiheit leben möchte, muss sich gegen jede Form der Monokultur wehren, weil jeder irgendjemand anderem fremd ist.

Terroristische Gewalt wird sich nie vollständig verhindern lassen. Aber wir können verhindern, dass Terroristen ihre ideologischen Ziele erreichen, indem wir ihrem Fundamentalismus unsere Liberalität entgegenhalten. Die beste Waffe gegen Terrorismus besteht deswegen darin, die demokratische Kultur offenzuhalten, vernünftigen Dissens und Kontroversen als Vorzüge einer freien Gesellschaft zu genießen, das soziale Miteinander bunt und vielfältig zu gestalten und ein Europa zu schaffen, in dem Gleichwertigkeit niemals Gleichartigkeit voraussetzen darf.

"Mord an der Freiheit" "von Caroline Emcke erschien zuerst am 28. Juli 2011 in der ZEIT.