„Die politischen Reformen sind hausgemacht“

EU-Außenvertreterin Catherine Ashton zu Besuch bei Aung San Suu Kyi, Generalsekretärin der Nationalen Liga im April 2012. Im Rahmen des Treffens wurde auch das EU-Büro in Yangon eingeweiht.
Foto: EEAS/Flickr, Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

31. Januar 2013
Der österreichische Diplomat Andreas List leitet seit April 2012 das EU-Büro in Yangon, Myanmar. Das Interview führte Rainer Einzenberger, Mitarbeiter unseres Südostasien-Regionalbüros.

Herr List, wie haben Sie die letzten Monate persönlich erlebt?

Die letzten Monate waren eine unglaublich spannende und interessante Zeit. Eine im Wesentlichen friedvolle Transformation vollzieht sich vor unseren Augen, weg von einem autokratischen hin zu einem demokratischen System, mit allen damit verbundenen Geburtswehen.

Wie hat es sie von Wien nach Yangon verschlagen, was waren die Stationen Ihrer Karriere?

Vor über 30 Jahren habe ich als österreichischer Diplomat begonnen. Meine erste Station war Belgrad – damals noch Jugoslawien - dann Rabat in Marokko, Jakarta, Tokio, und Tunis. Nach meinem Wechsel in den diplomatischen Dienst der EU war ich zunächst in Brüssel tätig, und ab 2001 in Bangkok als stellvertretender Missionschef. Seit April 2012 bin ich hier in Yangon. Myanmar hat sich in mein Leben hineingeschlichen. Das hat vor vielen Jahren mit diplomatischen Kontakten begonnen und sich in Jakarta – mit der regionalen ASEAN  Perspektive fortgesetzt. Ab 2001, in Bangkok, hab ich mich intensiv mit Myanmar beschäftigt. Ich bin regelmäßig hierhergekommen, weil wir damals noch keine Vertretung in Yangon hatten.

Viele Menschen im Ausland rätseln nach wie vor über die Ursachen der plötzlichen Öffnung Myanmars nach 50 Jahren Militärdiktatur. Was ist ihre Erklärung?

Es gibt vermutlich mehrere Faktoren: zum einen die Furcht vor einem größer werdenden Einfluss Chinas. Die Dynamik Chinas ist tatsächlich enorm, ebenso der Hunger nach Rohstoffen und nach dem Ausbau von Verkehrswegen. Dann gibt es die positive Wirkung der ASEAN Mitgliedschaft – Myanmar wird den ASEAN Vorsitz 2014 übernehmen. Und schließlich waren es die Schwierigkeiten im eigenen Land, die von der Führung und von nachrückenden Generationen gesehen wurden. Die Probleme, jene Versprechungen einzuhalten, die man der eigenen Bevölkerung gemacht hat.

Für mich steht fest, dass dieser Transformationsprozess nicht über Nacht gekommen ist, sondern von langer Hand vorbereitet wurde. Überraschend sind daran die Geschwindigkeit und die Intensität, nicht aber die Tatsache der Transformation an sich. Diesen Prozess treibt seit einigen Jahren, und heute verstärkt ein Gruppe von dynamischen Leuten voran. Das sind mutige Persönlichkeiten, die das Schicksal in die Hand nehmen und die schon länger versucht hatten, die Grenzen auszuloten. Heute ernten Sie die Früchte ihrer langjährigen Arbeit.

Das heißt es gab eher ein Wahrnehmungsproblem im Ausland?

Das kann man so sagen. Vor allem das westliche Ausland hat sich auf die menschenrechtlichen Probleme konzentriert und auf die Frage, wie man Druck auf die damalige Militärregierung ausüben konnte. Die lebhafte Zivilgesellschaft ist dabei zu kurz gekommen, und auch die Überlegung, dass jeder nachhaltige Wandel von innen, aus dem Land heraus kommen musste.

Ist es nach wie vor eine Minderheit, die hinter diesem Transformationsprozess steht?

Es sind einige couragierte, bewundernswerte Persönlichkeiten, die diesen Prozess vorantreiben. Sie finden sich in der Regierung, im Parlament, in der Wirtschaft und in der Zivilgesellschaft. Es gibt heute praktisch keinerlei Gegnerschaft, abgesehen vielleicht von wenigen Individuen, die ihre Interessen und Pfründe gefährdet sehen. Es gibt eine breite Akzeptanz des Prozesses, aber auch einen Unterschied zwischen Akzeptanz und dem aktivem Vorantreiben dieses Prozesses durch eine Elite.

Welchen Anteil hatte die internationale Sanktionspolitik, auch die der EU an der Öffnung des Landes?

Der Transformationsprozess hat mit Sanktionen nichts zu tun. Die meisten Beobachter sind sich heute einig, dass die Sanktionen eine Transformation eher behindert als beschleunigt haben. Die frühere Regierung, die den Übergang eingeleitet hatte, hat aus einer Position der Stärke gehandelt und nicht auf  äußerem Druck – z.B. Sanktionen – oder innerem Druck – z.B. Manifestationen von Unruhe – reagiert. Die politischen Reformen sind hausgemacht.

Gibt es die Gefahr eines Rückfalls zu alten Machtverhältnissen?

Ich halte das für unwahrscheinlich, denn es hat sich nicht so sehr geändert WER regiert. Die heute handelnden Personen in der Regierung sind weitgehend mit der langjährigen Elite verbunden. Diese war immer schon männlich, birmanisch, buddhistisch und hatte eine Verbindung mit dem Militär. Was sich aber fundamental geändert hat ist das WIE – wie regiert wird. Die Regierung ist heute kein Erfüllungsgehilfe des Militärs mehr. Das Militär als Regierungsinstitution ist zurückgetreten. Ein großer Teil der Militärführung steht hinter dem Reformprozess. Diese Tatsache halte ich für einen stabilisierenden Faktor.

Wird das Militär mittelfristig die Macht aus der Hand geben?

Das Militär hat natürlich politische Macht, aber solange es  hinter der Reform steht ist das auch nicht weiter schädlich. Ich halte eine Reduktion der Präsenz des Militärs im Parlament – derzeit bei 25% - für wünschenswert, aber nicht für vordringlich. Das kann noch ein bis zwei Legislaturperioden dauern. Wichtig ist, dass das Militär weiter für Reformen im Staat eintritt. Dies schliesst auch ein, das Militär selbst zu reformieren – eine kleinere, schlankere und professionelle Armee, das ist das Ziel der militärischen Führung.

Wie hat sich die Rolle von Aung San Suu Kyi seit ihrem Einzug ins Parlament im April 2012 gewandelt?

Früher hatte Daw Suu eine zentrale Rolle, nämlich ein Leuchtturm zu sein für die Werte, für die sie eintritt: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Diese Rolle ist unverändert. Sie ist weiterhin populär in weiten Teilen des Landes. Hinzugekommen ist jetzt  ihre Rolle als Politikerin, die sich zum Tagesgeschehen äußern muss, und das auch tut.

In letzter Zeit wurde ASSK vermehrt für ihre Stellungnahmen oder fehlenden Stellungnahmen etwa was den Konflikt im Rakhine State oder Kachin Staat betrifft kritisiert. Halten Sie diese Kritik für berechtigt?

Gerade im Falle Rakhine, finde ich, dass man ihr Unrecht tut. Ich hatte gestern Gelegenheit, mit ihr zu diesem Thema zu sprechen. Sie hat ausdrücklich davor gewarnt, sich von populistischen Strömungen vereinnahmen zu lassen.

Bis zu den nächsten Wahlen in 2015 ist es zwar noch eine Weile hin, aber im Moment deuten alle Anzeichen daraufhin, dass die NLD die Wahlen mit überwiegender Mehrheit gewinnen wird. Was wäre, wenn dies wirklich eintrifft?

Sollte die NLD die Wahlen gewinnen, werden zunächst einmal die Karten neu gemischt. Nach der Wahl werden der Präsident sowie die beiden Vize-Präsidenten vermutlich gewählt werden. Wer dann diese Ämter ausübt, wird davon abhängen, ob es bis dahin gelingt, die Verfassung zu reformieren oder nicht. Was die Regierungstätigkeit der NLD betrifft, wäre die Partei wahrscheinlich gut beraten, wenn sie versucht, eine breite Basis aufzustellen. Man kann in Myanmar schlecht von Koalition oder Opposition sprechen, weil Myanmar ein präsidentielles System hat. Der Präsident ist dem Parlament verantwortlich, nicht die einzelnen Minister. Aber eine breite Basis mit Technokraten und Leuten aus den anderen, z.B. ethnischen Lagern wird eine breite Akzeptanz und eine breite Kompetenz in der Regierung ermöglichen. 

Wo sehen Sie die größten Stolpersteine für Myanmar’s Demokratisierungsprozess in den nächsten Jahren?

Fehler und Versäumnisse von Jahrzehnten sind nicht über Nacht zu beseitigen. Ich sehe zwei große Bereiche, die für die Regierung absolute Priorität haben: das eine ist der Friede, der das Land stabilisiert, also eine Weiterführung der Friedensprozesse mit den ethnischen Gruppen. Wir sollten nur nicht glauben, dass ethnischer Friede und Demokratie automatisch Hand in Hand gehen, oder dass das eine das andere fördert. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann ist es die wirtschaftliche Entwicklung. Demokratie in Myanmar bedeutet für viele Menschen ein besseres Leben, Wohlstand in größerer Freiheit.  Zum besseren Leben gehört die Wirtschaft. Eine Aufholjagd hat schon begonnen. Wenn geeignete rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen sein werden, bin ich zuversichtlich, dass Myanmar spektakuläre Wachstumsraten hinlegen wird.

Wie steht es derzeit um den Friedensprozess, den Sie gerade erwähnt haben, gibt es Fortschritte oder stagniert der Prozess?

Das kann man so nicht sagen. Es gibt ja nicht nur einen, sondern mehrere Friedensprozesse. Stellen Sie sich vor, dass die Regierung  mit elf „Nord-Irland-Prozessen“ konfrontiert ist, die parallel ablaufen. Wenn man sich das vor Augen hält, wird man ein bisschen rücksichtsvoller gegenüber den handelnden Personen und geduldiger mit der Forderung nach Fortschritt. Ich nehme an, dass diese Prozesse sich ungleichmäßig entwickeln, mit Rückschritten und Spannungen, aber dass wir durchaus auch Erfolgsgeschichten sehen werden.

Sie haben eben die Wirtschaftsentwicklung angesprochen, gibt es bereits westliche Firmen, die jetzt ins Land kommen, um zu investieren, und existieren bereits die notwendigen Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Wirtschaften?

Europäische Firmen interessieren sich bereits aktiv für Investitionen, und die Rahmenbedingungen sind im Werden. Das Gesetz über die Auslandsinvestitionen ist schon verabschiedet. Was jetzt noch fehlt sind die Durchführungsbestimmungen, die bis Ende Januar, Anfang Februar 2013 veröffentlicht sein werden.

Wie reagiert China auf die Öffnung Myanmars gegenüber dem Westen? Gibt es Verstimmungen zwischen den Nachbarn?

China profitiert letztlich vom Wachstum und der Stabilität in Myanmar. Das ist ja kein Nullsummenspiel, wo der eine zu Gunsten des anderen zurückstecken muss. China hat daher ein Interesse daran, dass Myanmar stabil wächst. Es gibt im Moment ein paar bilaterale Streitpunkte, die mit wirtschaftlichen Interessen und mit der Öffnung Myanmars in Zusammenhang stehen. 

Wie unterstützt die EU den Transformationsprozess hier im Land, was sind die Schwerpunkte?

Wir haben uns in der Vergangenheit hauptsächlich auf den Gebieten der sozialen Entwicklung engagiert:  Bildung, Gesundheit, Lebensunterhalt, Landwirtschaft, außerdem haben wir daneben noch ein wenig die Zivilgesellschaft unterstützt. Diese Bereiche sollen bleiben. Was wir jetzt massiv ausbauen wollen, sind zwei neue Themenbereiche. Der eine ist der ethnische Friede und der andere die Verbesserung der „Governance“, also der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Verwaltung. Wir wollen Hilfe leisten bei der konzeptuellen Politikgestaltung und bei konkreten Themen. Auch Rechtsstaatlichkeit und der Respekt von Grundfreiheiten gehören dazu.

Und auf welche Art und Weise versucht die EU den Friedensprozess zu unterstützen?

Die Regierung hat die Initiative ergriffen, ein Myanmar Peace Centre (MPC) ins Leben zu rufen. Das ist richtig und wichtig. Ohne Regierung kann es keine Friedenspolitik geben. Wir unterstützen dieses Peace Centre als Institution, als Plattform für einen umfassenden und inklusiven Dialog mit den ethnischen Gruppen.  Wir unterstützen aber auch Aktivitäten ausserhalb des MPC, das sind Programme in den ethnischen Gebieten, im Gesundheitswesen, Bildungswesen und der Landwirtschaft. Wir planen auch Entminungsprojekte, um den Vertriebenen und aus dem Ausland Zurückkehrenden einen neuen Lebensunterhalt in ihrer Heimat zu ermöglichen.

Wie gestaltet sich die Kooperation zwischen der EU und  Regierung derzeit?

Wir haben im Großen und Ganzen einen sehr guten Zugang zu den Ministerien. Das ist eines der erfreulichen Ergebnisse dieses ganzen Transformationsprozesses. Wir sind mit der Regierung jetzt in einem sektoriellen Dialog, wir sprechen über Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft; wir sprechen über Wirtschaftsplanung und Umweltschutz und Menschenrechte. Wir haben jetzt mit einer Reihe von Ministerien Kontakt, wo wir früher keinen hatten.

Was ist Ihr persönliches Ziel für Ihre Zeit in Myanmar? Was haben Sie sich als Büroleiter des EU-Büros in Myanmar vorgenommen?

Mein persönliches Ziel heißt Normalität. Das klingt banal, ist aber gemessen an den Lasten der Vergangenheit ziemlich ambitioniert. Normalität heißt auf politischem Gebiet mehr Dialog, mehr Besuche; auf dem Gebiet der Wirtschaft heißt es mehr Handel, mehr Investitionen, auch aus Europa; auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit heißt es mehr und bessere Hilfe. Und dann wünsche ich mir natürlich, dass Normalität auch in die Bereiche einkehrt, die wir nicht in diesem Regierungsdialog steuern können und wollen, z.B. mehr Tourismus, mehr akademische Kontakte, mehr Medienkontakte, mit  einem Wort: Myanmar wieder einzugliedern in die internationale Gemeinschaft, dort wo es hingehört, wo es auch die Menschen von Myanmar verdienen zu stehen.

Viele Medien in Europa verwenden noch den Namen Burma: Ist es an der Zeit, das Land Myanmar zu nennen, oder halten sie die Verwendung von „Burma“ weiter für gerechtfertigt?

Immer wieder haben Länder und Städte ihren Namen im Lauf der Zeit geändert. Das ist an sich kein Problem und wird allgemein akzeptiert. Im Falle von Myanmar wurde die Namensänderung von „Burma“ nach „Myanmar“ aber politisch aufgeladen. Man wusste gleich, wer wo stand, wenn jemand den einen ode anderen Namen verwendete. Das ist heute zum Glück im Kontext der Reformen kein großes Thema mehr. Ich plädiere dafür, dass wir das Land so nennen, wie es sich selbst und wie es die UNO nennt. Aber wenn Sie dennoch Burma sagen, bleibt Ihnen das unbenommen.

Ich danke für das Gespräch.

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Das Interview führte Rainer Einzenberger, seit 2010 Programmkoordinator des Myanmar-Programms im Südostasien-Regionalbüro der Heinrich Böll-Stiftung.

Der Beitrag erschien erstmals im Südwind-Magazin Februar 2013.
Website: www.suedwind-magazin.at

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Die Nachwahlen in Myanmar/Burma am 1. April 2012 haben viel internationales Interesse auf sich gezogen. Die Öffnungspolitik der Regierung Thein Seins und die neue politische Situation bieten ungeahnte Optionen für das stark isolierte Land. Das Dossier gibt eine Momentaufnahme von Eindrücken aus deutscher Sicht und der Region wieder. Es fängt Stimmen aus China, Thailand, Indien und Myanmar/Burma ein.