Die Multiple Krise

Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik
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Die Multiple Krise



Die Welt befindet sich in einer tiefgreifenden und multiplen Krise



Täglich erreichen uns neue Meldungen über Entlassungen, Betriebsschließungen und sich widersprechende Prognosen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Hinzu kommen weitere Einsichten in die Dramatik des Klimawandels, die Erosion biologischer Vielfalt, die sich erschöpfenden fossilen Energieträger, den wachsenden Hunger in vielen Regionen und über zunehmende Migration, weil immer mehr Menschen in ihrer Heimat nicht mehr (über-)leben können. Wir erleben zudem eine Krise gesellschaftlicher Integration durch soziale Spaltungen sowie eine Krise der Repräsentation und Willensbildung, da immer mehr Menschen dem politischen System nicht mehr zutrauen, die relevanten Probleme auch wirklich zu bearbeiten und sich mit ihren Anliegen kaum mehr vertreten sehen. Die Komplexität der Probleme und Krisendynamiken führt tendenziell zu einer Überforderung.



Das ist nicht nur in der Öffentlichkeit und bei „normalen Menschen“ der Fall, sondern auch bei politischen und ökonomischen EntscheidungsträgerInnen. Dies mag ein Grund sein, warum derzeit vor allem nur die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise im Zentrum der Diskussionen und politischen Krisenregulierungen steht. Die hauptsächliche Ursache für die einseitige Thematisierung dürfte aber darin liegen: Die politischen und ökonomischen Eliten neigen zu Politiken, die entweder zuvorderst ihren Interessen oder denen der sie stützenden Interessengruppen dienen . Das zeigte sich im vergangenen Jahr am Charakter der Bankenrettungspakete oder kürzlich an der letztendlich doch geringen Einschränkung des Kapitalverkehrs. Das Treffen der G20 in Pittsburgh etwa brachte eher unverbindliche Ergebnisse und lässt eine Regulierung der Finanzmärkte in nächster Zeit nicht erwarten. Oder die Eliten beschränken sich auf symbolische Politiken wie im Hinblick auf die ökologische Krise. Zusammenhänge mit anderen Krisendimensionen werden kaum gesehen, geschweige denn als politisch relevant empfunden.



Wenn es aber zu einem angemessenen Umgang mit der vielfältigen Krise kommen soll und dies insbesondere im Sinne progressiver gesellschaftlicher Veränderungen, dann muss der Zusammenhang der unterschiedlichen Krisendynamiken verstanden werden. Das ist das Ziel dieser Studie. Nach einer kurzen Skizze der dominanten Krisendeutung wird ein alternatives Verständnis entwickelt, um dann auf Aspekte möglicher Entwicklungen einzugehen und abschließend exemplarisch Lösungsansätze sowie geeignete Rahmenbedingungen zu nennen. Gemäß der Aufgabenstellung der Heinrich-Böll-Stiftung konzentriere ich mich besonders auf die politisch-institutionelle Ebene.



Die These der multiplen Krise



Die grundlegende These lautet: Der innere Zusammenhang der vielfältigen Krise liegt in der fossilistisch-kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die in den letzten dreißig Jahren unter neoliberalen und imperialen Vorzeichen umgebaut wurde. Damit wurden auch die politischen und gesellschaftlichen Institutionen verändert, um die neoliberal-imperiale Ordnung abzusichern. Der Staat des „Finanzmarktkapitalismus“ ist heute ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) dessen Hauptorientierung – trotz aller Differenzen in den einzelnen Politikfeldern – die Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit ist.



Das gilt selbst für die Europäische Union, in der sich die unbedingte Wettbewerbsorientierung im Vertrag von Lissabon ausdrückt. Auch auf internationaler Ebene – paradigmatisch ist die WTO – geht es um die politisch-institutionelle Absicherung des neoliberalen Wettbewerbsimperativs. Die politischen Institutionen sind daher derzeit gar nicht dafür gewappnet, den dominanten Entwicklungen etwas entgegen zu stellen. Sie sichern letztere vielmehr ab. Zudem geht mit der Wettbewerbsorientierung eine Aushöhlung demokratischer Strukturen und Prozesse einher sowie – allen Partizipations- und Governance-Angeboten zum Trotz – eine Zunahme autoritärerer Formen von Politik. Letztere zeigt sich an der Aufwertung der Exekutiven und der Schwächung der Parlamente, aber auch in den Wahlerfolgen personenbezogener und tendenziell populistischer politischer Gruppierungen; beispielsweise in Frankreich um Sarkozy, in Italien um Berlusconi, in Russland um Putin.



Die aktuell dominanten Deutungen und Politiken sind eng mit dem Interesse an der Aufrechterhaltung der existierenden Herrschaftsverhältnisse, der dominanten Lebensweise oder einer allenfalls graduellen Umstellung verbunden. Die progressiven gesellschaftlichen Kräfte und Orientierungen sind gegenwärtig zu schwach oder – beispielsweise wie große Teile der Gewerkschaften – nicht Willens, um das zu thematisieren und eine entsprechende Politik voran zu treiben. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen Lösungsansätze gegenwärtig entwickelt werden. Und dieser Rahmen bedarf der Veränderung.



Diese Studie wurde von Ulrich Brand im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung erstellt.

 

 

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Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
9. November 2009
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung
Seitenzahl
18
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten
ISBN / DOI
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